Samstagabend schleppte ich noch ziemlich spät meinen welken alten Körper vor die Haustür, weil ich den Nudel-Reis-Schrank aussortiert hatte und circa eine Tonne abgelaufener Lebensmittel wegschmeißen wollte.
Da Gott
sich gar fürchterlich über Conchita Wurst grämte, strafte er die Hamburger
ESC-Party mit schweren Regengüssen; ich mußte also sehr schnell zur Mülltonne.
In dem
Modder vor der Haustür fand ich eine halb aufgelöste
DHL-Benachrichtigungskarte. Offenbar hatte ein Bote sie einfach irgendwo
draußen an die Tür gepappt und dort löste sie sich durch die allgegenwärtige
Nässe ab.
Erstaunlicherweise
stand MEIN Name drauf. Ein echter Zufall also, daß ich die Karte überhaupt gefunden
hatte. Von Zustellungsversuch selbst hatte ich nichts mitbekommen, aber ich
halte es ohnehin für ein Gerücht, daß Paketboten die Zeit haben bei jedem
Paketempfänger zu klingeln.
Abholen
sollte ich die Sendung zwei Straßen weiter im Sonnenstudio „Sun“ (kein Witz,
das heißt wirklich so).
Da ich
mir NIE irgendetwas an meine Adresse schicken lassen, rätselte ich natürlich
das ganze Wochenende was das bloß sein könnte.
Heute Vormittag
fuhr ich zu der angegebenen Adresse und stand vor verschlossener Tür.
Sonnenstudios machen erst später auf.
Aber man
hat ja sonst nichts zu tun und so konnte ich einen weiteren nachmittäglichen
Besuch einplanen.
Dort
überreichte mir eine extrem blasse hellrothaarige Frau, die offenbar Sonne
genauso liebt wie ich (meine Hautfarbe changiert zwischen Vampir und Kalkweiß)
ein XXXL-Paket.
Apollon,
nun muß ich wohl zweimal gehen, schoß es mir durch den Kopf, da ich just vom grocery
shopping kam. Allerdings wog das Paket lediglich ein paar Hundert Gramm. Sehr
eigenartig. Was IST das bloß, fragte ich mich erneut.
Zuhause
riss ich als erstes, wie ein Kleinkind bei der Heiligabendbescherung den
Pappkasten von „Sanimed“ auseinander.
Darin
befand sich in erster Linie Bläschenfolie, zerknülltes graues Packpapier und
auch einige dieser modernen Riesenluftkissen-Verpackungswülste.
Aha, ein
Fake. Irgendjemand will mich verarschen.
Als es
ans Aufräumen ging, entdeckte ich aber doch noch ganz unten eine echte „Ware“:
Eine „HAR 155804/2 MoliNea Textile Classic 75 X 85 cm“.
„HAR
155804/2 MoliNea Textile Classic 75 X 85 cm“ kennt Ihr nicht? Macht nichts,
erkläre ich Euch.
Dabei
handelt es sich um eine Matratzenauflage für inkontinente Menschen, eine
sogenannte „textile Bettschutzeinlage.“
Wer schickt
mir sowas? Und weshalb?
Nach
einer Stunde telephonieren hatte ich das Rätsel gelöst:
Ich betreue einen Herren, der als Pflegefall allein in seiner Wohnung lebt. Da er mittelgradig dement ist, habe ich schon vor Jahren bei seiner gesetzlichen Kranken- und Pflegekasse meinen Namen als Kontaktadresse angegeben.
Ich betreue einen Herren, der als Pflegefall allein in seiner Wohnung lebt. Da er mittelgradig dement ist, habe ich schon vor Jahren bei seiner gesetzlichen Kranken- und Pflegekasse meinen Namen als Kontaktadresse angegeben.
Der gute
Mann wird von zwei Pflegediensten versorgt.
Da ist
einmal der normale medizinische Pflegedienst, welcher die Grundpflege
übernimmt. Der Patient ist vollkommen bettlägerig und muß daher im Bett
gewaschen und gewindelt werden.
Das
nennt man beispielsweise „große Morgentoilette“ und ist bei dementen Menschen,
die nicht mitarbeiten können sehr zeitaufwändig. Eigentlich jedenfalls.
Uneigentlich
können wir uns das als Gesellschaft nicht leisten.
Ambulante
Pflegedienste halten ihre Mitarbeiter an, immer schneller zu arbeiten. Die
ohnehin knapp bemessene Zeit für die alten Menschen schrumpft damit weiter. [….] Das zeigt ein Gutachten, das der Paritätische Wohlfahrtsverband am
Donnerstag in Berlin vorstellte. Waren etwa für die "große
Morgentoilette" - also für Hilfe beim Aufstehen, Anziehen, Duschen und
Frisieren - ursprünglich 45 Minuten vorgesehen, so blieben die Pflegekräfte
heute nur etwa 20 Minuten bei den alten Leuten.
Die Pflegedienste
müssten ihre Mitarbeiter anhalten, schneller zu arbeiten, weil sie sonst nicht
wirtschaftlich überleben könnten, sagte Verbands-Geschäftsführer Werner Hesse.
Laut Gutachten ist die Vergütungen der Dienste im Schnitt um 48 Prozent zu
niedrig.
Dieser
Pflegedienst kostet zwischen 1.600 und 2.000 Euro im Monat – abzüglich der 450
Euro von der Pflegekasse (Stufe I).
Der Patient selbst ist übrigens mittellos. Die Verwandten müssen zahlen.
Da
dieser Grundpflegedienst immer in Hektik ist über die physische Grundversorgung
hinaus zu nichts Zeit hat, tat ich das was man in der Situation eigentlich tun
muß: Ich engagierte einen zweiten Pflegedienst, der eher ein Gesellschaftsservice
ist. Die Damen kommen zwei mal die Woche je zwei Stunden, um all das zu
erledigen was liegen geblieben ist: Wäsche waschen, Küche aufräumen – und zwar
zusammen mit dem Pflegebedürftigen. Sie nehmen sich Zeit ihn auch mal zu
massieren, einzucremen oder sich einfach zu unterhalten.
Das
kostet weitere 400 Euro im Monat.
Damit
ist natürlich noch keineswegs das leibliche Wohl abgedeckt.
Einkaufen,
kochen, mit Lebensmitteln versorgen hat die nicht vorhandene Familie zu
organisieren.
Zurück
zu meinem Paket.
Der
Grundpflegedienst hatte eine vom vielen Waschen zerschlissene Molton-Matratzenauflage
moniert und dies schriftlich der Krankenkasse, der Barmer GEK gemeldet.
Die
Barmer-Geschäftsstelle in Hamburg-Hammerbrook prüfte dann Angebote. (Dabei handelt
es sich um einen Allerweltartikel, der in jeder Drogerie und jedem Supermarkt
erhältlich ist!)
Fündig
wurde sie bei dem Anbieter „Sanimed“ in Ibbenbüren.
Die Bergbaustadt
Ibbenbüren ist eine Mittelstadt in der Region Tecklenburger Land (Kreis
Steinfurt) im nördlichen Teil des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen. Mit rund
51.000 Einwohnern ist sie die größte Stadt im Tecklenburger Land sowie die
zweitgrößte im Kreis Steinfurt.
(Wiki)
In
Ibbenbüren also ging die Bestellung ein und die Verpackungsarie begann.
Das
aufgeblasene Monsterpaket wurde zur DHL-Filiale gebracht, nach Hamburg
geschickt, landete erst kurz bei mir, dann einige Straßen weiter im
Sonnenstudio „Sun“, schließlich wieder bei mir.
Zu mir,
weil ich die offizielle Kontaktperson des Krankenkasse bei Briefverkehr bin.
Ich muß nun
erneut losfahren und diese Bettauflage schleunigst in die Wohnung bringen, in
der sie benötigt wird.
Ein
sagenhafter Verwaltungsaufwand für so einen Grundpflegeartikel, wie ihn jeder
Pflegedienst hundertfach verbraucht.
Natürlich
hätte man die „HAR 155804/2 MoliNea Textile Classic 75 X 85 cm“ auch direkt in
die Wohnung des Patienten schicken können. Oder zumindest an die Geschäftsstelle
des Pflegedienstes. Aber warum eine Spur einfacher, wenn es auch maximal
kompliziert geht?
Muß
dieses Bohei gemacht werden? Wieso gehören diese stinknormalen Moltonauflagen
nicht zur pflegerischen Grundausstattung, die wie Einmalhandschuhe oder
Feuchttücher von den Diensten en gros gekauft werden und in jedem Wagen
vorrätig sind.
Rechtfertigt
der hohe Preis eine bürokratische Tortur über acht verschiedene Stationen?
(Patient -> Pflegedienst -> Krankenkasse -> Sanimed -> DHL -> Tammox -> Sun-Studio -> Tammox -> Patient)
(Patient -> Pflegedienst -> Krankenkasse -> Sanimed -> DHL -> Tammox -> Sun-Studio -> Tammox -> Patient)
Da kann
man geteilter Meinung sein. Morgen gehe ich zur Bank und überweise €2,55.
ZWEIEUROFÜNFUNDFÜNFZIGCENT.
Natürlich
ist es völlig indiskutabel wie 1,5
Millionen Pflegebedürftige in Deutschland behandelt werden. Natürlich
ist es abartig und pervers wie Millionen Angehörige in dieser Situation, die
den Staat finanziell enorm entlasten, indem sie eine Pflege zu Hause
ermöglichen, im Stich gelassen werden.
Natürlich
ist es ein Treppenwitz, daß die unhaltbaren und menschenunwürdigen Zustände in der
Altenpflege seit vielen Jahren wohlbekannt, wohldokumentiert
und wohldiskutiert sind, aber dennoch konsequent ignoriert werden, bis
Undercover-Geront Wallraff eine RTL-Reportage dazu produziert.
Vor fünf
Jahren zitierte ich aus einem Interview mit ihm und in der halben Dekade ist es
nur noch schlimmer geworden.
Jens Berger beschreibt heute wer unter FDP-Herrschaft auf der sicheren Seite ist:
Auf der Ausgabenseite will und kann man nicht sparen – schließlich gehören Ärzte und Apotheker zur Stammwählerschaft der FDP und auch die Gesundheits- und Pharmaindustrie kann fest darauf zählen, dass Schwarz-Gelb ihnen bei ihrem Renditestreben nicht in die Parade fährt.
Das nächste Beispiel für die Milliarden, die auf Kosten der Allgemeinheit an die Pharmamafia verschoben werden, entnehme ich einem SZ-Gespräch mit Klaus Fussek:
Fussek:
Ich gebe Ihnen ein Beispiel, von dem mir kürzlich erst ein Notarzt berichtete. Er kam zu einer ausgetrockneten Frau in ein Pflegeheim. Die Frau hat offenbar nichts zu trinken bekommen weil zu wenig Pflegkräfte da sind. Er legt ihr eine Infusion und hätte dann jemanden gebraucht, der zwei Stunden darauf achtet, dass die Infusion auch durchläuft. Es fand sich niemand.
sueddeutsche.de:
Und dann?
Fussek:
Der Arzt lässt die Frau ins Krankenhaus bringen. Das kostet hin und zurück 1000 Euro. Die Frau wurde drei Tage durchgecheckt, um eine Diagnose stellen zu können. Da geht es wieder um Tausende Euro. Ein Irrsinn, wenn man dagegenhält, was eine Pflegefachkraft gekostet hätte, die sich zwei Stunden zu der Frau gesetzt hätte.
sueddeutsche.de:
Die wäre aus einem anderen Topf bezahlt worden.
Fussek:
Genau das ist das Problem. Es ist unverantwortlich, Krankenkasse und Pflegeversicherung zu trennen. Beides gehört zusammen. Prävention, akute Versorgung, Nachsorge und Pflege - das gehört alles in eine Hand.
Wieso ist dieser Irrsinn möglich?
Daß Milliarden verpulvert werden, um wenige reich zu machen?
Weil die Deutschen Wähler leider zu doof sind, um diese Mechanismen zu erkennen und sich stets Pharma-freundliche Parteien heran gewählt haben.
Nach
fünf weiteren verplemperten Merkel-Jahren ist die Situation angespannter denn
je.
Mit dem
frommen Hermann Gröhe erkor Merkel einen zuständigen Gesundheitsminister, der
garantiert 100% ahnungslos ist und zu Ungunsten der Patienten vor der
Pharma-Lobby kriecht.
So will
es der Urnenpöbel. Bloß keine Veränderungen.
Außer
wenn sie zwischen GZSZ und DSDS von RTL drauf gestoßen werden. Dann regt sich
kurz Unmut.
Was eine Reporterin
von RTL mit versteckter Kamera in einem Münchner Pflegeheim gefilmt hat, soll
personelle Konsequenzen haben. "Das war Misshandlung" - so
kommentiert Siegfried Benker, Geschäftsführer des städtischen Altenheimträgers
Münchenstift, die Bilder, die in der Sendung "Team Wallraff" aus dem
Haus St. Josef zu sehen waren.
Gezeigt wurde etwa ein
Pfleger, der einen dementen, sich wehrenden Bewohner aus dem Bett zerrt, um ihn
zum Essen in einen Rollstuhl zu setzen; man sah Pfleger, die einen schwer
kranken Patienten so stark am Körper abrubbeln, dass Verletzungsgefahr besteht;
gefilmt wurde eine Pflegerin, die eine aus dem Bett gefallene Frau, hilflos auf
einem Kissen am Boden liegend, mit ihrem Handy fotografiert.
"Mit
Erschrecken" habe er dies am Montagabend gesehen, sagte Benker am
Dienstag. Bewohner seien offenbar "würdelos und wenig wertschätzend
behandelt" worden. Solche Vorkommnisse würden "absolut nicht
toleriert", er werde "sehr scharf reagieren". Für die im Film
gepixelt zu sehenden Mitarbeiter werde das Gezeigte "zu unmittelbaren
personellen Konsequenzen führen".
Ein Bewohner hatte
starke Hämatome unter beiden Augen
RTL schickt eine
Reporterin mit versteckter Kamera in Pflegeheime. Die Sendung widersteht
größtenteils der Versuchung, die Dramen noch zu inszenieren - die
Fernsehzuschauer bekommen trotzdem eklatante Missstände zu sehen.
Das entspreche den
internen Regeln. […]
Niemand
kommt gegen die Pflegemafia an, solange die
politische Klasse sie achselzuckend gewähren läßt.
Das
fehlende Geld und die absurde Verteilung desselben (minimale Gehälter für die
Pflegekräfte, Milliardengewinne für die Heimbetreiber) sind bekannte Probleme.
Das Beispiel
HAR 155804/2 MoliNea Textile Classic 75 X 85 cm zeigt aber auch wie absurd die
Organisationstrukturen sind.
Wie viel
Energie und Geld wird dabei verschwendet?
Warum
haben die Pfleger nicht wie sonst einen Zettel für mich hinterlassen, auf dem
steht „Bitte besorgen Sie HAR 155804/2 MoliNea Textile Classic 75 X 85 cm,…“?
Ich hätte das Teil in den nächsten Tagen mitgebracht und all die anfallenden Personalkosten bei Sanimed, Krankenkasse, Versand und Pflegedienst hätte man besser für die Zeit beim Patienten aufgebracht.
Ich hätte das Teil in den nächsten Tagen mitgebracht und all die anfallenden Personalkosten bei Sanimed, Krankenkasse, Versand und Pflegedienst hätte man besser für die Zeit beim Patienten aufgebracht.