Das Internet
ist schon toll.
Da
leider die deutschen TV-Sender bei der Berichterstattung zum
Türkei-Putschversuch geschlafen haben, wurde man wenigstens laufend mit
widersprüchlichen Meldungen und Verschwörungstheorien aller Art
versorgt.
Das
passiert, wenn die professionellen „Gatekeeper“ nicht arbeiten.
Warum schaffen es
deutsche Nachrichtensender eigentlich nicht, nah am Geschehen zu sein? N-tv war
von ein bis sechs Uhr morgens nicht einmal nachrichtlich, geschweige denn live
drauf, erst ab sechs Uhr wieder. Und da hat n-tv es geschafft, ein Interview
dreimal zu wiederholen in anderthalb Stunden.
[….]
N24 und n-tv haben ihre Entscheidungen
während des Putschversuchs in der Türkei mittlerweile gegenüber dwdl.de
erklärt. N-tv hatte die Live-Berichterstattung gegen eins beendet, N24 erst um
1 Uhr 30 eine Sondersendung gezeigt. Gerade in der Nacht, wo es weniger
Zuschauer gibt, habe man gründlicher abwägen und die Mannschaft für die
Live-Berichterstattung am nächsten Morgen schonen wollen, so etwa
N24-Sendersprecherin Kristina Faßler.
Wohin
sich die Türkei entwickelt, kann man ahnen. Man kann auch klar sagen, wer vom Putsch nach dem Putsch profitiert.
Man kann
aber sicher nach derzeitigem Informationsstand nicht sagen, wer wirklich die
Fäden gezogen hat oder ob es überhaupt ein Mastermind gab.
Es ist
auch möglich, daß eine Menge Stümperei zusammenkam und Recep Tayyip Erdoğan,
62, einfach die Gunst der Stunde nutzt, um sich noch viel mehr Macht zu sichern.
Wenn ich
schon spekuliere, so tue ich das lieber bezüglich der Auswirkungen auf die
deutsche Politik.
Da
bilden sich für meine verehrte Bundeskanzlerin nun noch mehr Probleme.
Der
ganze Türkei-Flüchtlingsdeal hängt an der Person Erdoğan und ist nur dann
möglich, wenn man die Türkei als rechtsstaatliche
Demokratie ansieht, die folgerichtig auch ein sicherer Herkunftsstaat im deutschen juristischen Sinne ist.
Gleich
zu Anfang, als man noch dachte, der „Putsch“ könnte gelingen, twitterte Merkels
Regierungssprecher, die „demokratische Ordnung“ der Türkei müsse respektiert
werden.
Die demokratische Ordnung in der #Türkei muss respektiert werden. Alles muss getan werden, um Menschenleben zu schützen.— Steffen Seibert (@RegSprecher) 15. Juli 2016
Ob so
eine „demokratische Ordnung“ 2015, 2016 in der Erdoğan-Türkei überhaupt noch
existierte, war schon vor dem Wochenende fraglich.
Nun, da
die großen Säuberungen begonnen haben und der Präsident tausende Richter,
Staatsanwälte und Journalisten verhaften läßt, kann davon keine Rede mehr sein.
Ein
bizarres Dilemma für Frau Merkel, denn ihr Flüchtlingsdeal setzt
EU-Aufnahmegespräche voraus, die nun in erster Linie ausgerechnet ihre
Parteifreunde torpedieren.
Aber wie
will man der Türkei entgegenkommen, wenn die Regierung selbst nach Todesstrafe
verlangt, sich damit in eine Reihe mit zweifelhaften Regimen wie Iran, Saudi
Arabien, der USA und China stellt?
Regimegegner
hinrichten und dann offene Türen der EU erwarten?
Das harte Durchgreifen
der türkischen Regierung nach dem Putschversuch beeinträchtigt nach
Einschätzung von Europapolitikern der Union die EU-Beitrittsverhandlungen mit
dem Land. Sollte Präsident Recep Tayyip Erdogan die Situation ausnutzen,
"um weitere Verfassungsrechte einzuschränken, dann werden die
Beitrittsverhandlungen schwierig bis unmöglich", sagte der Vorsitzende des
Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament, Elmar Brok (CDU), dem
"Handelsblatt".
Der Vorsitzende des
Europa-Ausschusses im Bundestag, Gunther Krichbaum (CDU), forderte die
türkische Regierung auf, die demokratischen Prinzipien einzuhalten. Unrecht
dürfe nicht mit Unrecht bekämpft werden, sagte er der Zeitung. "Eher geht
ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein undemokratischer Staat Mitglied der
EU wird."
CSU-Generalsekretär
Andreas Scheuer forderte, nun die Beitrittsverhandlungen ernsthaft zu
überdenken. "Wer es spätestens bis jetzt nicht gemerkt hat: Die
EU-Türkei-Politik muss vollständig auf den Prüfstand." [….]
Ich bin
sehr ungern auf einer Linie mit Scheuer und habe viele Jahre ausdrücklich für
einen EU-Beitritt der Türkei geworben.
Aber
spätestens seit 2016 mutiert der Präsident zu sehr zum Extremisten, um das noch
möglich zu machen.
[….]
Unglaublich leicht kommen diese zwei
Wörter den Leuten auf der Straße über die Lippen: Idam istiyorum! Es ist wie
ein Chor, der für Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan singt. Er wird immer
lauter, immer wütender. Idam istiyorum! Idam istiyorum! Ein Mann ruft:
"Ich wünsche es mir von ganzem Herzen." Erdoğan steht mittendrin.
Idam istiyorum heißt: "Ich will die Todesstrafe." Auch für Erdoğan
ist die Todesstrafe offenbar eine Herzensangelegenheit. Er sagt, sein Herz sage
"Ja" zur Todesstrafe. Aber wenn es nicht möglich sei, sie wieder
einzuführen, dann wolle er zumindest eine "erschwerte lebenslange
Haft" für diejenigen, die das Land am Wochenende ins Unglück gestürzt
haben.
[….]
Die
Ereignisse, die Diskussionen dieser Tage haben die Türkei in die Vergangenheit
katapultiert. Militärputsch, Todesstrafe - das waren die Achtzigerjahre. Damals
hatte Putsch-General Kenan Evren die Macht im Land übernommen und in den
folgenden Jahren etwa 50 Menschen exekutieren lassen. Wer mag, kann in der
Geschichte noch viel weiter zurückgehen, da wird es noch düsterer. Bis 1965
wurden in Istanbul auf dem weltberühmten Sultanahmet-Platz Verbrecher vor den
Augen der Öffentlichkeit hingerichtet. [….] Die Regierung hat am Montag ihre "Säuberungsaktionen" fortgesetzt,
die Gefängnisse füllen sich mit Menschen, die als Gegner gelten. [….] Die Jagd auf mutmaßliche Verräter ist im
vollen Gange. 30 Gouverneure wurden von ihren Ämtern entbunden, etwa 8000
Polizisten vom Dienst suspendiert. Nach den Worten Yıldırıms wurden bis
Montagmittag 7543 Personen inhaftiert, darunter 6038 Soldaten. Der Staat zeigt
keine Gnade. Nicht jetzt. [….]
Nach der
Brexiteer-induzierten EU-Krise ist es unmöglich noch mehr von unseren „Werten“
aufzugeben, um Ankara entgegen zu kommen.
Frau Merkels
Türkei-Deal, um die verzweifelten Menschen aus Syrien außerhalb der Sichtweite
ihrer deutschen Wähler zu bringen, war ohnehin amoralisch und inhuman.
Nun ist
er auch unpraktikabel geworden.
Der Pakt
gehört beerdigt. Europa sollte damit rechnen, daß Erdoğan wie angedroht aus
Rache seine Grenzen öffnet und zwei Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge nach
Nordwesten spazieren lässt.
Betrachten
wir es als Chance der Welt europäische Werte zu demonstrieren.
500
Millionen Europäer können zwei weitere Million Menschen gut verkraften.