Das mit den Menschenrechten ist immer so eine Sache.
Als Demokraten, die sich in 200 mühsamen Jahren von den antihumanistischen Ansichten der Kirche (zu Frauen, Schwulen, Sklaven, Juden, Ungläubigen, Schwarzen) glücklicherweise weit entfernt haben, möchten wir im Angesicht unserer jungen Erkenntnisse auch den Rest der Welt überzeugen. Außerdem ist die parlamentarische Demokratie mit all ihren Schwächen die fairste Regierungsform. Es wäre also wünschenswert, wenn die anderen 200 Staaten der Erde auch parlamentarische Demokratien wären.
Ich stehe auch persönlich hinter diesen Idealvorstellungen. Evolutionärer Humanismus und Demokratie sind das Beste, das Mensch derzeit zu bieten hat, wenn er das Zusammenleben organisieren soll.
Allerdings musste die Demokratie erst gewaltsam durch einen Weltkrieg den sich heftig dagegen sträubenden Deutschen aufgezwungen werden. Ganz Deutschland ist gerade mal 30 Jahre demokratisch.
Als Demokratie-Küken einer 18 Mal größeren Nation wie China mit einer 5.000-Jähirgen Geschichte von oben herab Anweisungen zu erteilen, kann nur lächerlich sein. Daher plädiere ich schon lange dafür, sich mit erhobenen Zeigefingern lieber erst mal an unsere demokratischen engsten Partner zu wenden, mit denen wir eine politische Gemeinschaft bilden. Weit her ist es damit allerdings nicht.
Ungarn und Polen schaffen gerade vor unseren Augen die Demokratie ab und wir begleiten den Vorgang mit offensivem Achselzucken. Oder äußern sogar in Form der EU-Kommissionspräsidentin Verständnis für ein bißchen Schwulenhatz, Stopp der Pressefreiheit und gelenkte Justiz.
Noch weiter ist der Abbau der Demokratie bei unserem NATO-Partner Türkei fortgeschritten.
In dem Fall sagen wir aber schon mal gar nichts; Frau von der Leyen sitzt beim Staatsbesuch in Ankara daher auch devot etwas entfernt auf dem Untertanen-Sofa. In der Türkei muss die EU ohne ihre Werte auskommen und zusehen, wie Oppositionelle massakriert werden, weil Recep Tayyip Erdoğan nun einmal strategisch zwischen ein paar Millionen Syrischen und Afghanischen Flüchtlingen und Westeuropa sitzt.
Wir EU-Menschen bestehen auf unsere humanistischen Überzeugungen, aber die gelten eben vorzugsweise für weiße und christliche Menschen. Den armen Plebs mit dunkler Hautfarbe meinen wir damit eher nicht. Die sollen uns Erdoğan, Frontex und Libysche Warlords bitte schön vom Leib halten und/oder im Meer entsorgen.
Saudi-Arabien belästigen wir auch nicht mit unseren demokratischen Anwandlungen und finden in dem Fall die Scharia völlig in Ordnung. Macht nichts, wenn dort Journalisten in Stücke gehackt oder Schwule gesteinigt werden, denn erstens verfügt König Salman über sehr viel Öl und zweitens sind die Saudis auch noch steinreich.
Unsere Regeln sollen für alle gelten, aber Multimillionäre sind schließlich nicht „alle“. Daher sind die bayerischen CSU-Politiker, die am lautesten nach einem Burka-Verbot schreien, gleichzeitig auch unheimlich aufgeschlossen gegenüber den wohlhabenden Scheicha im Nikab, weil die nun einmal fürchterlich viel Geld in Münchner Luxusboutiquen und Fünfsterne-Hotels lassen.
Ein paar Millionen von Peking entrechtete und in Arbeitslagern gehaltene Tibeter und Uiguren würden uns theoretisch auch stören. Also, sie hätten uns vor 30 oder 40 Jahren gestört, aber nun ist China die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Erde. Die kann der deutschen Wirtschaft verdammt brutale Daumenschrauben ansetzen. Sanktionen sollen schließlich immer nur den anderen wehtun und nicht uns selbst treffen.
Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko ist nach so ziemlich allen humanistischen, demokratischen und ethischen Maßstäben ein Widerling, der gestoppt werden muss. Das ist schon tolldreist, ein Flugzeug einer EU-Fluggesellschaft auf dem Flug zwischen zwei EU-Hauptstädten gewaltsam vom Himmel zu holen.
Opposition mag der Belarusse schon mal gar nicht und so legte er noch einen drauf, indem er den Regimekritiker Roman Protasewitsch mit offensichtlich gebrochener Nase und schlecht überschminkten Hämatomen in einem verstörende Video vorführen ließ.
[….] Die Bundesregierung hat erneut scharfe Kritik an Belarus geübt wegen der erzwungene Landung eines Passagierflugs in Minsk und der anschließenden Festnahme des Regierungskritikers Roman Protasewitsch. Der Vorfall sei dazu genutzt worden, einen unliebsamen Journalisten zu verschleppen, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Er bekräftigte die Forderung der Bundesregierung, den Regierungskritiker und seine Freundin Sofia Sapega sofort freizulassen. Bundeskanzlerin Angela Merkel verurteile auch "diese widerwärtige Manier", Gefangene öffentlich vorzuführen, auf das Schärfste, fügte Seibert mit Blick auf das angebliche Geständnis von Protasewitsch hinzu, welches das belarusische Staatsfernsehen gesendet hatte. [….]
Selbst Frau Merkel und Frau von der Leyen fielen angesichts dieser Aktion wieder die Menschenrechte ein und tatsächlich handelt die EU.
Nach und nach verweigern die Europäer den meisten (nicht allen!) Maschinen der belarussischen Staatslinie Belavia die Landeerlaubnis und meiden selbst den belarussischen Luftraum, so daß dem Minsker Regime bis zu 15 Millionen Euro an Transitgebühren verloren gehen könnten. Natürlich, die Sanktionen treffen kaum die Minsker Elite, sondern strafen eher das einfache Volk ab.
Aber Belarus ist ökonomisch gerade schwach genug, um überhaupt mal Sanktionen ansetzen zu können, die wir uns gegen Saudi Arabien, Russland, China, Ungarn, Polen oder die Türkei nicht trauen.
Man kann in der Tat nicht nichts tun.
[….] Noch schwerer als die Luftpiraterie wiegt, dass Lukaschenko sich seit der Präsidentschaftswahl mit roher Gewalt an die Macht klammert. [….] Lukaschenko hat ein ganzes Land, ein ganzes Volk zur Geisel genommen. Für die EU führt das zum klassischen Dilemma: Wie den Kidnapper treffen, ohne der Geisel zu schaden? Die Sperrung der EU für die belarussische Fluglinie Belavia zeigt, wie schwierig das ist. Die Maßnahme ist folgerichtig und notwendig, weil sich das Lukaschenko-Regime als Gefährder der zivilen Luftfahrt erwiesen hat. Aber natürlich schadet sie auch Bürgern, die in Belarus Opfer dieses Regimes sind, und vermutlich auch jenen, die im Ausland Zuflucht vor diesem Regime suchen. [….] Die Entführung einer Passagiermaschine zum Zweck der Festnahme einer missliebigen Person zeigt, wohin das führt: in eine Welt, in der es keine Sicherheit mehr gibt - nicht einmal auf dem Flug zwischen zwei EU-Hauptstädten. Natürlich ist nicht sicher, ob Sanktionen die Verantwortlichen beeindrucken. Zu schwache Sanktionen aber, das ist gewiss, werden sie ermuntern. [….]
(Daniel Brössler, SZ, 26.05.2021)
Es ist völlig richtig; das Husarenstück, daß sich ein Regierung nach Gutdünken mitten in Europa ein ziviles Flugzeug vom Himmel holt, weil sie einen bestimmten Passagier nicht mag, weil der nämlich öffentlich etwas ausplaudert, das nicht gehört werden soll und man ihn unbedingt zum Schweigen bringen will, muss harte Konsequenzen nach sich ziehen.
Außer natürlich, es ist die USA, die sowas tut. So wie die Obama-Regierung 2013. Dann halten wir devot die Klappe.
Damals erzwang Washington eine Zwischenlandung des Flugzeuges von Boliviens Präsident Evo Morales in Wien, um Whistleblower Edward Snowden zu verhaften. Snowden war zu seinem Glück aber gar nicht an Bord. Die US-Geheimdienste hatten sich geirrt.
Gegen die USA gibt es natürlich keine Sanktionen. Auch nicht wegen der unethischen Todesstrafe oder dem Abhören der Regierungstelefone befreundeter Regierungen oder Abu Ghraib oder Guantamo.
Die USA sind schließlich wirtschaftlich und militärisch noch mächtiger als China. In dem Fall pfeifen wir auf unsere humanistischen und demokratischen Werte. Die drücken wir, wenn überhaupt, nur gegen Schwächere durch und auch nur, wenn die keine Hebel haben, um uns zu erpressen.