Als ich mit den ersten zarten Anzeichen der Pubertät natürlich auch zum Popmusik- und NDW-Fan wurde, bekam man Informationen über die Hitparade in ausgehängten Listen aller Läden (darunter Kaufhäuser), die Platten verkauften.
Die Verkaufsrankings wurden wesentlich von den ganz wenigen Pop-Musik-Radiosendungen beeinflusst. Dort lernte man neue Songs kennen, auf die man tage- oder wochenlang wartete, um sie mit einem vor das Radio gestellten Cassettenrekorder aufzunehmen. Wolle man eine Aufnahme in besserer Qualität, kaufte man die Single, die dann hoffentlich noch nicht vergriffen war und für die man sechs Mark ausgeben musste. Nicht ganz wenig für ein Kind, das auf Taschengeld angewiesen ist.
Aber auch wenn man genügend gespart hatte, war das Vorhaben oft mit einem sehr aufwändigen Plattenladen-Hopping verbunden.
Ich hatte damals eine feste Route aus sechs oder sieben Plattenläden in der Innenstadt, die ich per Bus und Bahn abklapperte, wenn ich auf der Suche nach bestimmten Liedern war. Das dauerte Tage.
Die höchste Form der Verehrung war es, die Langspielplatte zu erwerben, die aber 14 bis manchmal 19 DM kostete. Kaum ein Teenager konnte sich das mehr als einmal im Monat leisten.
Für den bräsigen GenZ/GenAlpha von heute, der auf seinem Sofa klebend buchstäblich mit einem Fingerschnipp jeden Song der Welt in höchster Digital-Qualität quasi umsonst spotifyet, dürfte es nicht vorstellbar umständlich erscheinen, wie ich 1981 einen Song ergatterte.
Aber Achtung, jetzt kommt erwartungsgemäß der „früher war alles besser“-Satz des alten Sacks: Man wertschätze so eine neue Platte ganz anders und die Künstler gaben sich erheblich mehr Mühe, ein Album mit qualitativen Stücken zu füllen.
Für eine neue Platte nahm man sich voller Stolz sehr viel Zeit, studierte das Cover und die Texte, hörte konzentriert jeden einzelnen Takt.
Man traf sich sogar mit Freunden, um gemeinsam Musik zu hören. Eine pekuniäre Notwendigkeit, da selbstverständlich nicht jeder alle aktuellen Platten besaß.
Für die Sänger/Band hatte der damalige technische Stand ebenfalls einen Vorteil: Ihr Einkommen wurde weitgehend von den Plattenverkäufen sichergestellt.
Konzerte waren finanziell nicht sehr relevant und sprachen auch ein anderes Publikum an. Für sie wurde vergleichsweise wenig Aufwand betrieben. Bühnenshows und Tanz-Choreographien waren bis zum Aufkommen der Boybands unbekannt.
Abgesehen von Stadionbands, die es natürlich auch schon gab, konnte aber seine Lieblings sehr niederschwellig auch live erleben. Eintrittskarten gab es für 10 bis 20 DM, in kleinen Clubs 7-9 DM, bei besonderen Superstars auch mal 25 DM.
Leisten konnte man sich das Musikerlebnis; ein Hinderungsgrund war eher das Schmuddelimage. Ein leicht derangiertes Volk wurde angelockt. Im Publikum soff und rauchte man um die Wette, kam ganz nah an seine Stars ran.
Ich erinnere mich an ein Cure-Konzert in der abgehalfterten Alsterdorfer Sporthalle, als ich so betrunken und von dem konzentrierten Cannabis-Schwaden in der Halle benebelt war, daß ich auf dem Weg vom Klo kurz auf einem Sitz der ersten Reihe hocken blieb. Es saß ja ohnehin keiner – alle pressten hoppsend im Innenraum zusammen. Neben mir saß ein Typ, den ich von anderen Konzertbesuchen kannte; den ich aber erst verzögert bemerkte, dann fragte „und was machst du hier so?“, woraufhin er murmelte „ich warte nur bis die fertig gebumst haben“, mit glasigen Augen auf ein Grufti-Paar deutete, das genau zu unseren Füßen auf dem Hallenboden liegend, seelenruhig kopulierte, während diejenigen, die auf Klo mussten, desinteressiert über sie hinüber stiegen. „Ach so“, entgegnete ich achselzuckend. „Ich gehe dann wieder nach vorn zu Robert; bestimmt spielen sie gleich noch From The Edge Of The Deep Green Sea.“
Das ist heute alles ganz anders. Von CD-Verkäufen kann niemand mehr leben. Daher lohnt es sich wenig, zu viel Zeit und Mühe in die Song-Produktion zu stecken.
Geld kommt statt dessen über TV-Auftritte, Social-Media-Werbung, Merchandising und Konzerttournee herein.
Karten für internationale Stars sind unfassbar teuer, können das Hundertfache dessen kosten, das ich als Teenager durchschnittlich ausgab. Dafür gibt es technisch ultraaufwändige Bühnenshows, die Klinisch rein sind.
Keine Helicopter-Mum muss sich um das Seelenheil ihrer Elfjährigen sorgen, wenn sie allein zu Taylor Swift geht, um deren 45 (!) Songs mit 16 Kostümwechseln in drei Stunden für ihren Insta-Account abzufilmen.
Für Madonna, Lady Gaga und Co lohnt es sich; Swift ist inzwischen 1,1 Milliarden Dollar schwer.
Den ganz großen Mammon macht man heute durch Tourneen.
Das hat auch Donald Trump verstanden, der seit neun Jahren ununterbrochen tourt, um seinen fanatischen Jüngern seinen horrend überteuerten Merchandising-Krempel anzudrehen.
Wenig überraschend also, daß der Verein, der am geldgierigsten von allen ist, inzwischen auch verstärkt auf Tourneen setzt: Die Katholische Kirche.
[….] Der Kult um Reliquien in der katholischen Kirche ist so alt wie skurril, die Faszination ungebrochen: Demnächst geht das Herz des jungen „Influencers Gottes“ auf Deutschland-Tournee – und drei Schädel dürfen auf Heimaturlaub.
Carlo Acutis wird „Cyber-Apostel“ genannt oder „Influencer Gottes“: Der 2006 im Alter von nur 15 Jahren an Leukämie verstorbene fromme Katholik programmierte einst religiöse Internetseiten. [….]. Erst vor Kurzem hat Papst Franziskus entschieden, dass Acutis heiliggesprochen werden soll, als erster „Millennial“ überhaupt. In dieser Woche nun kommt ein Stück von Carlo Acutis nach Deutschland, genauer: sein Herz. Zuerst wird der in Gold eingefasste Hohlmuskel am 21. Juli in der Münchner Heilig-Geist-Kirche erwartet, von dort geht es weiter nach Kloster Weltenburg, dann nach Berlin, Köln und Hamburg – es ist die Tournee des Herzens, gewissermaßen.
Manche dieser heiligen Reste gehen eben auch auf Reisen
Der katholische Reliquienkult ist uralt, aber erfreut sich – aller Säkularisierung zum Trotz – immer noch einer großen Faszination. Oberschenkel, Haarbüschel oder Totenschädel von Heiligen sind in vielen katholischen Kirchen mehr oder weniger sichtbar zu finden, in Gefäßen oder Schreinen oder im Altar eingearbeitet. Und manche dieser heiligen Reste gehen eben auch auf Reisen.
Gut 300 Kilometer nördlich von München zum Beispiel laufen gerade die Vorbereitungen für eine solche Tour: Die Schädel der Frankenapostel Kilian, Kolonat und Totnan dürfen, so teilte es das Bistum Würzburg mit, Anfang Oktober auf Heimaturlaub nach Irland. Wird auch Zeit, nach immerhin 1338 Jahren. Schon 686 nach Christus nämlich war der irische Mönch Kilian mit seinen beiden Begleitern an den Main aufgebrochen, um die Franken zu missionieren. Das hat rückblickend ganz gut geklappt. Nicht so super lief es am Ende für die drei Iren selbst. Davon zeugen Löcher in zwei der drei Hirnschalen – Wunden, wie sie bei einem Schwerthieb entstanden sein könnten, sagt der Würzburger Domkonservator Wolfgang Schneider. Um 698 fanden die Frankenapostel in Würzburg den Märtyrertod, mutmaßlich ermordet von den Schergen des Herzogs Gosbert und seiner Gefährtin Gailana. [….]