Dienstag, 13. Dezember 2022

Sehenden Auges – Teil II

Es ist wirklich erstaunlich; heute habe ich nach langer Zeit mal wieder mit einem Bekannten in Essen und später mit einer Freundin in Mainz telefoniert. Beide sind Anfang 60 und beide sagten unabhängig genau das, was auch meine ähnlich alten Freunde in Hamburg sagen: Noch nie erschien ihnen die Welt und die Gesellschaft so kaputt wie heute, noch nie waren sie so froh, schon so alt zu sein und keine Kinder zu haben. Auch aus den USA vernehme ich von meiner Alterskohorte das gleiche fatalistische, resignierte Lachen über die vor unseren Augen scheiternde Zivilisation.

Man hat nicht nur keine Hoffnung auf das langfristige Überleben der Menschheit, man nimmt es zunehmend sarkastisch zur Kenntnis, zuckt nur noch mit den Schultern, wenn die Einschläge näher kommen und die massive Verblödung der Massen wieder drastisch vorgeführt wird.

Jeder kann aus dem Stehgreif eine Handvoll aktueller Geschichten des puren Irrsinns  aus seinem Alltag zum Besten geben, die wie aus Schilda klingen.

Leben wir vielleicht doch in einer Simulation? Der Matrix? In einem kosmischen Witz? Man möchte „die“ Menschen, „die“ Deutschen nur noch auslachen.

Aber die großen Lacher kommen nicht, weil die Pointen alle seit Jahren, oder sogar Jahrzehnten absehbar sind.

Kaum eine der Giga-Katastrophen, welche die Welt gerade beschäftigten, kam überraschend. Im Gegenteil; es gab so viele Kassandras, daß niemand sie überhören konnte.

Antizipierte Pointen sind unkomisch. Man braucht sich nicht über die Sintflut wundern, wenn jeder Mensch „nach mir die Sintflut“ als Lebensrichtschnur ansieht.

Wir sind nicht nur sehenden Auges in all unsere Probleme gerannt, sondern haben dabei ein maximal debiles Verhalten an den Tag gelegt, welches unsere Schwierigkeiten erst ausgelöst hat.

Klimakatastrophe, Fachkräftemangel, Gasabhängkeit, Klinikkollaps, Pflegekatastrophe, Abhängigkeit von asiatischen Chips – alles geschieht so unerträglich vorhersehbar.

Wir sind wie lebenslange treue Kirchengänger, die sich nach dem Gottesdienst staunend anglotzen, weil niemand mit dem Wort „Amen“ gerechnet hätte.

Als ich Ende der 1980er Jahre in der Uni mit Pharmakologie in Berührung kam, erzählten uns die Professoren schon, die Weltpharmakaproduktion werde aus Deutschland nach Asien verlegt.

Im Dezember 1984 explodierte ein Tank der Chemie-Anlage im indischen Bhopal. 25.000 Menschen starben sofort, 500.000 wurden schwer verletzt; leiden teilweise bis heute. Vor 40 Jahren wurde also einer breiten deutschen Öffentlichkeit bekannt. In den 1990ern war klar, daß der Pharma-Standort Deutschland nicht zu halten ist, weil die hiesigen Unis einfach zu schlecht sind. Chemiestudium in Deutschland produzierte gute handwerklich geschickte Laborköche, die aber dem aktuellen Stand der Technik 30 Jahre hinterher hingen. Chemiker wurden noch gesucht, man konnte immer einen Job finden, aber wer in die Forschung oder eine akademische Karriere machen wollte, mußte spätestens nach dem Diplom in die USA oder in die Schweiz gehen, um dort zu promovieren.

Um 2007 übernahm ich die Betreuung/Pflege meines Vaters, der im Gegensatz zu mir Kassenpatient war und freundete mich mit seiner Apothekerin an, die ein bißchen mit mir fachsimpeln konnte. Da erlebte ich das erste mal praktisch die Verwaltung des Mangels. Hunderte gängige Medikamente – darunter extrem häufig Verschriebene, wie Betablocker – waren kaum zu bekommen, weil jede Kasse spezielle Verträge mit Großhändlern hatte. Für mich war es nicht schlimm, wenn ein verschriebenes Medikament gerade nicht erhältlich war, weil mir als Privatpatienten ganz unkompliziert ein Generikum; der gleiche Wirkstoff von einem anderem Hersteller; ausgehändigt wurde. Bei Kassenpatienten ist das nicht so einfach.

Ich konnte es nicht glauben. In DER Pharmanation Deutschland, gab es derartige Lieferengpässe, daß simple, aber grundlegende Präparate wie Schmerzmittel, Fiebersenker, Antibiotika oder eben Betablocker komplett ausverkauft waren. Diese Basis-Medikamente importierten wir vollständig aus Indien. Bayer, Hoechst und BASF stellten sie wegen der zu geringen Verdienstmargen nicht mehr her. Meine Apothekerin verzweifelte an ihren Nachschubproblemen und musste 2012 schließen.

Metoprolol, der universelle β1-Adrenorezeptorenblocker, mit dem man Bluthochdruck, koronare Herzkrankheiten,  Herzrhythmusstörungen, Herzinfarkte, aber zB auch prophylaktisch Migräne behandelt, von dem wir in Deutschland jährlich 900 Millionen mittlere Tagesdosen verbrauchen, ist immer wieder „nicht lieferbar.

Ich verstehe; in den großen Pharmakonzernen, die wie BAYER lieber 60 Milliarden Euro ausgeben, um den Skandal-Konzern Monsanto mit seinem Megaseller Glyphosat und Myriaden Klagen zu übernehmen, findet es finanziell uninteressant Metoprolol herzustellen. Ich verstehe aber nicht, daß Philip Rösler, Daniel Bahr, Herman Gröhe und Jens Spahn nie auf die Idee kamen, eine nationale Reserve der 100 wichtigsten Medikamente anzulegen. Daß sie die deutschen Pharmahersteller nicht aus übergeordneten nationalen Interesse heraus verdonnerten, auch diese klassischen Medikamente herzustellen. Zumindest, solange wir beim Import von einem einzigen Land abhängig sind. Könnten wir diese Grund-Arzneimittel außer aus Indien, noch in zehn anderen Nationen einkaufen, wäre es zu verkraften, auf eine eigene Herstellung am Rhein zu verzichten. Aber es passierte rein gar nichts. Die gut durchlobbyierten gelben und schwarzen Bundesgesundheitsminister unternahmen nicht nur nichts, um diese grundlegende Versorgung sicher zu stellen, sondern wurden vor lauter Begeisterung für diese totale Unfähigkeit und Arbeitsverweigerung auch  noch stoisch wiedergewählt. De deutsche Michl mag keine Reformen, keine Veränderungen. Deswegen zwang er Rot und Grün 2021 auch die FDP als Regierungspartner auf den Buckel: Damit war sicher gestellt, daß es kein gerechtes Steuersystem, keine Millionärsabgabe, keine Abschaffung der Zweiklassenmedizin und auch keine Vorschriften an Bayer, Höchst und BASF geben wird.

Anfang 2020 die nächste völlig unüberraschende Überraschung: Huch, Deutschland kann ja noch nicht mal einfachste Hygieneartikel, wie Masken, Handschuhe, OP-Tücher oder Desinfektionsmittel herstellen. Fiebersenker sind nicht mehr zu bekommen. Wir sind vollständig von Lieferungen aus China abhängig.

Drei Monate hatte Jens Spahn tatenlos zugesehen, dann verfiel er in Hektik, tat dann wieder anderthalb Jahre nichts.

Genügend Masken kann Deutschland nach wie vor nicht herstellen.

Dezember 2022: Überraschung; es gibt wieder ein Infektionswelle. Noch überraschender: Dafür brauchen wir Medikamente.

Leider hat aber immer noch niemand daran gedacht, daß es ganz günstig wäre, wenn man sowas in Deutschland herstellen könnte und nicht vollständig abhängig von Lieferungen aus Indien und China wäre.

[….] Fiebersaft? Aus. Antibiotika? Keine Chance. Überall in Deutschlands Kliniken und Apotheken sind gerade wichtige Medikamente nicht lieferbar. [….] Es ist ein Beipackzettel der anderen Art. Und er ist lang. Mittel gegen Herzrhythmusstörungen wie Amiodaron stehen darauf. Antibiotika wie Ampicillin und Cotrim, Berberil-Augentropfen, Buscopan-Zäpfchen, die Herzmedikamente Nifedipin und Digitoxin, Ibuprofen-Saft und -Zäpfchen, außerdem Psychopharmaka, Kortisonpräparate und Schmerzmittel. Die Liste hat eine Zentralapotheke aus dem Rheinland für Dutzende Krankenhäuser erstellt, die sie beliefert. Sie enthält jene Medikamente, bei denen es zu Lieferengpässen im Dezember kommt. Vermerkt ist auch, wie es weitergeht: In der Rubrik "Voraus. Liefertermin" steht fast immer: "Nicht bekannt", "Nicht bekannt (längerfristig)", manchmal auch "2. Quartal 2023". Bitte besprechen Sie möglichen Ersatz mit Ihren ärztlichen Kolleginnen und Kollegen, wird den Medizinern geraten.

Liefertermine für Autos und Fahrräder verlängern sich ständig. Handwerkertermine sind kaum zu bekommen. Baumaterialien sind knapp, Holz und Papier auch, Gas sowieso. Daran hat man sich gewöhnt. Aber dass lebenswichtige Medikamente und Arzneimittel für den täglichen Bedarf nicht zu bekommen sind? Und dann auch noch im reichen Deutschland, das mal als "Apotheke der Welt" galt, mit Traditionsunternehmen wie Bayer, Merck, Hoechst, Boehringer? [….]

(Werner Bartens, 13.12.2022)