Mittwoch, 13. Juli 2016

Es soll halt nicht sein.



Vielleicht hat es der ein oder andere schon gelegentlich anhand meiner zarten Andeutungen zwischen den Zeilen erahnt: Ich bin gar nicht religiös. Kirchenmitglied bin ich auch nicht.

Gläubige haben mich schon gefragt, ob ich eigentlich persönlich schlechte Erfahrungen gemacht hätte.
Nein, ich bin kein Opfer. Das wurde bereits eine Generation zuvor erledigt.
Mein Vater wuchs katholisch auf. Mein Opa starb, als mein Vater sieben Jahre alt war. Daraufhin mußte meine Oma arbeiten, den Lebensunterhalt verdienen und die Priester achtete auch das Gedeihen ihrer kleinen Kinder.
Offensichtlich traute man damals Witwen nicht zu, Kinder „zu erziehen“ - das Wort „Alleinerziehende“ war vermutlich noch nicht erfunden.
Die Fürsorge des Pfarrers bestand in Prügeln, seelischen Misshandlungen und einem geradezu manischen Interesse an Masturbation. Lange bevor mein Vater wußte was das eigentlich ist, mußte er sich in der Beichte darüber ausfragen lassen.
An seinem 18. Geburtstag trat er aus der Kirche aus und war zeitlebens Atheist.
Das war eine eigenartige Übereinstimmung mit meiner Mutter, die auf einem anderen Kontinent in einer anderen Konfession aufwuchs und ebenfalls an ihrem 18. Geburtstag aus der Kirche austrat.
Sie glaubte damals allerdings schlicht nicht an Gott, während mein Vater durch ein langes Kindheits-Martyrium regelrecht aus der Kirche getrieben wurde.

In der Folge der Lebensgeschichten meiner Eltern wuchs ich natürlich konfessionslos auf und bin ihnen dankbar, daß ich nie getauft wurde, also nie in irgendeinem Kirchenbuch auftauchte.
Als Kind kam ich nach Deutschland. Wir zogen zu meiner Oma, die ebenfalls nicht besonders religiös war. Es wurde nicht gebetet, nicht in der Bibel gelesen, nicht in die Kirche gegangen.
Allerdings waren meine Großeltern, beide im 19. Jahrhundert geboren, Kirchenmitglieder.
Das gehörte sich damals so und bei besonderen Anlässen; Hochzeiten oder Beerdigungen; ging man in die Kirche.
Meine Oma erklärte mir, als ich ein kleines Kind war, daß sie durchaus an Gott glaube, sich aber nur bei wirklich existenziellen Fragen und riesigen Problemen an ihn wendete. Man könne nicht mit jeder Kleinigkeit zu Gott laufen und von ihm erwarten die Dinge zu regeln, während man abwartete.
Oma, die als Erwachsene zwei Weltkriege durchlebt hatte, die erlebte wie die Heimat komplett zerstört wurde, die Kinder im Krieg verloren hatte und Hunger kannte, wußte im Übrigen was „echte Probleme“ sind.

Meine Großeltern fühlten sich ihrer Gemeinde aber so verpflichtet, daß sie der Kirche die Kanzel stifteten. Opa war damals Unternehmer und hatte ein sehr soziales Gewissen. Er freute sich, wenn er für die Nachbarn und Kollegen etwas tun konnte, auch wenn Oma die Suppe mit Wasser strecken mußte.

Daß in der Kirche um die Ecke eine Kanzel mit unserem Familiennamen drauf steht, erfuhr ich um 1980 herum.
Ich war nie bei einem Gottesdienst gewesen, aber meine Mitschüler waren auf einmal alle bei diesem geheimnisvollen „Konfer“.
Da gingen sie nachmittags hin und am Ende des Jahres bekam man einen Anzug, schicke neue Schuhe und jede Menge Geld.
Man sprach begeistert davon, was man sich alles mit seinen zukünftigen „Konfer“-Reichtümern kaufen könne.
 Fahrräder, Spiele, Rollschuhe – sogar an Ponys oder Mofas wurde gedacht.
Was hatte es bloß mit diesem „Konfer“ auf sich?
Irgendwas mit Kirche, aber was eigentlich?
Unter einer „feierlichen Segenshandlung der evangelischen Kirchen, die den Übertritt ins kirchliche Erwachsenenalter markiert“ konnte ich mir wirklich gar nichts vorstellen.
Ich fragte meine Mutter, ob ich auch zum Konfirmationsunterricht gehen könne.
Sie war wie vom Donner gerührt, freute sich aber auch, daß ich mich aus eigenem Antrieb dafür interessierte und versprach mich beim Pastor anzumelden.
Sie schärfte mir allerdings ein, mich nicht wegen des Geldes konfirmieren zu lassen und versprach, ich bekäme am Ende der Unterrichtszeit auch Geschenke, wenn ich mich gegen die Kirche entschiede.
Deal.
Die Kirchenleitung willigte ein auch ungetaufte Kinder zu unterrichten; die Taufe könne dann bei der Konfirmation nachgeholt werden.
Umso besser. Im Gegensatz zu den anderen Kindern, die zwangsgetauft wurden, könnte ich mich also selbst entscheiden und den Schritt bewußt gehen.

So kam ich in die kleine Luther-Kirche „Up de Worth“, die am 1. Advent 1937 mit der von meinen Großeltern gestifteten Kanzel eingeweiht wurde.
Es ist ein kleines, rustikales, gepflegtes Gebäude aus Hamburger Backsteinen mit Fachwerkfassaden, auch „Kaffeemühle“ genannt.


Heute ist die Kirche wie so viele Evangelische weiblich. Frau Pastorin Tröstler und Pastorin Zanda Ohff werden im Gemeindebüro von Doris Rebentisch und Carolin Waschkeit unterstützt. Die Jugendarbeit leitet Diplom-Theologin Anja Pasche.
Zu meiner Zeit war der Chef natürlich ein Mann, Pastor M.
Er selbst habe aber keine Zeit sich um Kinder  zu kümmern.
Den Konfirmandenunterricht führte ein Gemeindehelfer im Nebengebäude durch.
In der Kirche hätten wir nichts zu suchen.
Ich wollte wissen was es mit der Bibel und dem Glauben auf sich hatte, konnte mir aber kein Gehör verschaffen, weil allen anderen Konfirmanden schon ab der ersten Stunde ausschließliche diskutierten wie sie ihre zukünftigen Reichtümer, die es zur Konfirmation hageln würde, zu verprassen gedächten.
Der Lehrer war desinteressiert, die Schüler waren desinteressiert.
Der einzige, der sich tatsächlich für die Kirche und ihre Bedeutung interessierte war ich.
Und ich fragte.
Das gefiel dem Gemeindehelfer gar nicht. Ich solle an Gott glauben und ihn nicht hinterfragen.
Einige Wochen später erhielt meine Mutter einen Anruf von Pfarrer M. Ihr Sohn sei für den Konfirmandenunterricht ungeeignet, weil er alles hinterfrage.
So schnell kam also das „Aus“ für meine Kirchenkarriere.
Immerhin hatte der Pastor damals eine richtige Eingebung.
Ich tauge wirklich nicht dazu blind Dogmen zu folgen.

Nur wenige Jahre später sah ich Pastor M. wieder. Meine Oma war gestorben und er besuchte uns anschließend, um zu erfahren, was sie eigentlich für ein Mensch gewesen wäre. Schließlich sollte er die Trauerrede in der Kirche halten.
Tatsächlich fand die Trauerrede dann in der kleinen Wellingsbüttler Kirche unter der von ihr gestifteten Kanzlei statt.
Ich war am Boden zerstört und weinte bitterlich.
Pastor M. war sauer, weil seine Rede davon gestört wurde. So herrschte er währenddessen meine Mutter an, sie möge ihr Kind zur Raison bringen.


So erlebte ich es kurze Zeit später bei der Beerdigung meines Freundes wieder.
  Pfarrer hören sich gern selbst reden und reagieren aggressiv bei Störungen von weinenden Angehörigen.

Die meisten Jungs haben in der Grundschule einen besten Freund.
Meiner hieß Mark und a posteriori bin ich der Meinung, daß wir uns wirklich sehr gern mochten.
Ich jedenfalls wollte immer möglichst viel Zeit mit ihm verbringen.
Obwohl, oder vermutlich eher „weil“ wir so unterschiedlich waren, ergänzten wir uns perfekt.
Ich war 1 ½ Jahre jünger, aber besser in der Schule und der kontemplative Typ.
Er war mehr der klassische „Rabauke“, der sich immer selbstlos vor mich stellte, wenn irgendjemand gemein zu mir war.
Marks Elternhaus war…. nun ja, das würde zu persönlich werden.
De facto wohnte Mark teilweise bei mir.
Kurzfristig verloren wir uns etwas aus den Augen, nachdem ich mit neun Jahren die Schule wechselte.
Es würde mich brennend interessieren, was aus ihm geworden wäre - wenn er nicht mit 14 bei einem Verkehrsunfall gestorben wäre.

Am Tag der Beerdigung hatte ich eine prägende Erfahrung mit der Kirche.
Von der Bibel hatte ich schon im Konfirmandenunterricht gehört, aber den Kurs hatte ich bereits abgebrochen - trotz der Drohung des Pfarrers dann keine Geschenke zu bekommen.
Da meine Eltern aber beide schon lange aus der Kirche ausgetreten waren, schreckte mich das wenig.
Mark hingegen wollte sich unbedingt konfirmieren lassen - WEGEN der Geschenke. Ob er an Gott geglaubt hat, weiß ich nicht. Die Beerdigung war jedenfalls kirchlich.

Man setzte mich neben Marks Mutter, die nicht gerade überraschend die ganze Zeit heulte und immer wieder stammelte, daß ihr Sohn genauso groß wie ich wäre.
Dem Pfarrer, der bei seiner Rede soeben Marks tiefe Gläubigkeit anhand des Konfirmationsspruchs „bewiesen“ hatte, missfiel es außerordentlich gestört zu werden.
Daher herrschte er die weinende Mutter während der Trauerrede an, sie solle sich gefälligst zusammenreißen - schließlich bewiese der frühe Tod ihres Sohnes, daß Gott ihn besonders geliebt habe.

„Whom the gods love, die young“ - das ist ja das was man in der Situation am liebsten hört.

Im Jahr 2014 sah sich sogar Helmut Schmidt veranlasst auf der Trauerfeier des Hamburger Ehrenbürgers Siegfried Lenz, der sein enger Freund war, Partei für ihn zu ergreifen, nachdem Michel-Pastor Alexander Röder den Atheisten Lenz auf unverschämte Weise vereinnahmt hatte.

Die Beerdigung meiner Oma war das letzte mal, daß ich die Kleine Kirche in Welllingsbüttel betrat.
Ich wohne längst ganz woanders, aber im Abstand von 5 bis 10 Jahren fahre ich noch durch die Straße „Up de Worth“ und halte an der Kirche, weil ich mir die Kanzel gerne noch einmal ansehen möchte.

Es funktionierte nur nie, weil die Kirchentüren immer verschlossen sind.

Heute dann die Überraschung. Schon von weitem konnte ich von meinem Auto aus sehen, daß die Kirchentüren aufstanden, als ich nachmittags vorbei tuckerte.

Natürlich hielt ich an, atmete durch und ging auf Zehenspitzen in das Gebäude.
Nach den unangenehmen Erfahrungen gruselt es mich immer noch ein wenig.
In den vorderen Bänken spielten fünf, sechs Kinder, die von einigen Frauen mit Kostümen und Dekorationen versorgt wurden.
Offensichtlich plante man irgendeine Art „Event“ für das draußen mit einem großen Banner angekündigte Sommerfest.


Ich schlich zu einer der Damen, die ganz rechts damit beschäftigt war ein Plakat zu falten und fragte flüsternd, ob ich mich kurz umgucken und den Altar ansehen dürfe.
Das gehe nur wirklich nicht, herrschte sie mich an, „sehen sie denn nicht, daß wir hier gerade proben?“.

Und so flog ich, wieder einmal, aus der Wellingsbüttler Kirche.
Ich werde dort offensichtlich in jedem Lebensalter als Störung empfunden.
Für Gebete, Zwiesprache mit Gott oder Stille Andacht im Kirchenschiff hat man keine Chance „Up de Worth.“ Dort ist man wohlhabend und bleibt unter sich. Fragen unerwünscht.

Das verrückte an der Geschichte ist, daß ich schon viele Jahre vor meiner „Konfer-Erfahrung“ längst ohne es zu wissen mit der Kirchengemeinde in Kontakt gekommen war, weil ich wöchentlich das zugehörige Altersheim am Rabenhorst besuchte, Kuchen buk, das ganze Jahr Geld sammelte, weil ich mir vorgenommen hatte, daß nicht nur Kinder, sondern alle alten Leute ein Geschenk zu Weihnachten bekommen sollten.
Alte Menschen lebten im Altersheim, also war ich als kleines Gör eines Tages einfach mit dem Fahrrad dahin gefahren und hielt mich dort gern auf.
Natürlich wußte ich nicht, daß die Kirchengemeinde das Heim betrieb, hatte dort auch nie einen Pfarrer gesehen.

Wer etwas für seine Gemeinde tun will, sich sozial engagiert, der trete sofort aus der Kirche aus.
Kirchen geben um die fünf Prozent ihres Etats für soziale Zwecke aus. Wer also seine Mitgliedsbeiträge bezahlt (vulgo Kirchensteuer), verschwendet 95% davon.
Das sieht auch eine Mehrheit der Hamburger so. Inzwischen sind unter 28% Mitglieder der evangelischen Kirche.

Hamburg ist auf gutem Wege.

Glückwunsch, Kirche!
Das muß erst mal jemand nachmachen: Eine Organisation, die dermaßen vom Staat mit Geld zugeschissen und privilegiert wird, dennoch kontinuierlich zu schrumpfen, ist eine echte Leistung!
37.000 Menschen traten 2014 aus der Nordkirche aus.
Bitte weiter so.
2% der Hamburger Protestanten, entsprechend 0,5% aller Hamburger gehen sonntags in die Kirche. Und das in einem Bundesland, in dem ohnehin nur 27,9% Mitglied der evangelischen Kirchen sind.
Für meinen Geschmack sind einer von 200 immer noch viel zu viele Gottesdienstbesucher, aber auch wenn man es religionspolitisch neutral betrachtet, muß man sich schon fragen, woher die hanseatischen Kirchen die Chuzpe nehmen sonntagsmorgens mit ihrem grausam lauten Gebimmel die Stadt aufzuwecken, wenn 99,5% offensichtlich nicht geweckt werden wollen.