Vielleicht
hat es der ein oder andere schon gelegentlich anhand meiner zarten Andeutungen
zwischen den Zeilen erahnt: Ich bin gar nicht religiös. Kirchenmitglied bin ich
auch nicht.
Gläubige
haben mich schon gefragt, ob ich eigentlich persönlich schlechte Erfahrungen
gemacht hätte.
Nein,
ich bin kein Opfer. Das wurde bereits eine Generation zuvor erledigt.
Mein
Vater wuchs katholisch auf. Mein Opa starb, als mein Vater sieben Jahre alt
war. Daraufhin mußte meine Oma arbeiten, den Lebensunterhalt verdienen und die
Priester achtete auch das Gedeihen ihrer kleinen Kinder.
Offensichtlich
traute man damals Witwen nicht zu, Kinder „zu erziehen“ - das Wort „Alleinerziehende“
war vermutlich noch nicht erfunden.
Die
Fürsorge des Pfarrers bestand in Prügeln, seelischen Misshandlungen und einem
geradezu manischen Interesse an Masturbation. Lange bevor mein Vater wußte was
das eigentlich ist, mußte er sich in der Beichte darüber ausfragen lassen.
An
seinem 18. Geburtstag trat er aus der Kirche aus und war zeitlebens Atheist.
Das war
eine eigenartige Übereinstimmung mit meiner Mutter, die auf einem anderen
Kontinent in einer anderen Konfession aufwuchs und ebenfalls an ihrem 18.
Geburtstag aus der Kirche austrat.
Sie
glaubte damals allerdings schlicht nicht an Gott, während mein Vater durch ein
langes Kindheits-Martyrium regelrecht aus der Kirche getrieben wurde.
In der
Folge der Lebensgeschichten meiner Eltern wuchs ich natürlich konfessionslos
auf und bin ihnen dankbar, daß ich nie getauft wurde, also nie in irgendeinem
Kirchenbuch auftauchte.
Als Kind
kam ich nach Deutschland. Wir zogen zu meiner Oma, die ebenfalls nicht
besonders religiös war. Es wurde nicht gebetet, nicht in der Bibel gelesen,
nicht in die Kirche gegangen.
Allerdings
waren meine Großeltern, beide im 19. Jahrhundert geboren, Kirchenmitglieder.
Das
gehörte sich damals so und bei besonderen Anlässen; Hochzeiten oder
Beerdigungen; ging man in die Kirche.
Meine
Oma erklärte mir, als ich ein kleines Kind war, daß sie durchaus an Gott
glaube, sich aber nur bei wirklich existenziellen Fragen und riesigen Problemen
an ihn wendete. Man könne nicht mit jeder Kleinigkeit zu Gott laufen und von
ihm erwarten die Dinge zu regeln, während man abwartete.
Oma, die
als Erwachsene zwei Weltkriege durchlebt hatte, die erlebte wie die Heimat
komplett zerstört wurde, die Kinder im Krieg verloren hatte und Hunger kannte, wußte
im Übrigen was „echte Probleme“ sind.
Meine Großeltern
fühlten sich ihrer Gemeinde aber so verpflichtet, daß sie der Kirche die Kanzel
stifteten. Opa war damals Unternehmer und hatte ein sehr soziales Gewissen. Er
freute sich, wenn er für die Nachbarn und Kollegen etwas tun konnte, auch wenn
Oma die Suppe mit Wasser strecken mußte.
Daß in
der Kirche um die Ecke eine Kanzel mit unserem Familiennamen drauf steht,
erfuhr ich um 1980 herum.
Ich war
nie bei einem Gottesdienst gewesen, aber meine Mitschüler waren auf einmal alle
bei diesem geheimnisvollen „Konfer“.
Da
gingen sie nachmittags hin und am Ende des Jahres bekam man einen Anzug,
schicke neue Schuhe und jede Menge Geld.
Man
sprach begeistert davon, was man sich alles mit seinen zukünftigen „Konfer“-Reichtümern
kaufen könne.
Fahrräder, Spiele, Rollschuhe – sogar an Ponys
oder Mofas wurde gedacht.
Was hatte
es bloß mit diesem „Konfer“ auf sich?
Irgendwas
mit Kirche, aber was eigentlich?
Unter einer „feierlichen Segenshandlung der evangelischen Kirchen, die den Übertritt ins kirchliche Erwachsenenalter markiert“ konnte ich mir wirklich gar nichts vorstellen.
Unter einer „feierlichen Segenshandlung der evangelischen Kirchen, die den Übertritt ins kirchliche Erwachsenenalter markiert“ konnte ich mir wirklich gar nichts vorstellen.
Ich
fragte meine Mutter, ob ich auch zum Konfirmationsunterricht gehen könne.
Sie war
wie vom Donner gerührt, freute sich aber auch, daß ich mich aus eigenem Antrieb
dafür interessierte und versprach mich beim Pastor anzumelden.
Sie
schärfte mir allerdings ein, mich nicht wegen des Geldes konfirmieren zu lassen
und versprach, ich bekäme am Ende der Unterrichtszeit auch Geschenke, wenn ich
mich gegen die Kirche entschiede.
Deal.
Die
Kirchenleitung willigte ein auch ungetaufte Kinder zu unterrichten; die Taufe
könne dann bei der Konfirmation nachgeholt werden.
Umso
besser. Im Gegensatz zu den anderen Kindern, die zwangsgetauft wurden, könnte
ich mich also selbst entscheiden und den Schritt bewußt gehen.
So kam
ich in die kleine Luther-Kirche „Up de Worth“, die am 1. Advent 1937 mit der
von meinen Großeltern gestifteten Kanzel eingeweiht wurde.
Es ist
ein kleines, rustikales, gepflegtes Gebäude aus Hamburger Backsteinen mit Fachwerkfassaden,
auch „Kaffeemühle“ genannt.
Heute
ist die Kirche wie so viele Evangelische weiblich. Frau Pastorin Tröstler und Pastorin
Zanda Ohff werden im Gemeindebüro von Doris Rebentisch und Carolin Waschkeit
unterstützt. Die Jugendarbeit leitet Diplom-Theologin Anja Pasche.
Zu meiner
Zeit war der Chef natürlich ein Mann, Pastor M.
Er
selbst habe aber keine Zeit sich um Kinder
zu kümmern.
Den Konfirmandenunterricht
führte ein Gemeindehelfer im Nebengebäude durch.
In der
Kirche hätten wir nichts zu suchen.
Ich
wollte wissen was es mit der Bibel und dem Glauben auf sich hatte, konnte mir
aber kein Gehör verschaffen, weil allen anderen Konfirmanden schon ab der
ersten Stunde ausschließliche diskutierten wie sie ihre zukünftigen Reichtümer,
die es zur Konfirmation hageln würde, zu verprassen gedächten.
Der
Lehrer war desinteressiert, die Schüler waren desinteressiert.
Der
einzige, der sich tatsächlich für die Kirche und ihre Bedeutung interessierte
war ich.
Und ich
fragte.
Das
gefiel dem Gemeindehelfer gar nicht. Ich solle an Gott glauben und ihn nicht
hinterfragen.
Einige
Wochen später erhielt meine Mutter einen Anruf von Pfarrer M. Ihr Sohn sei für
den Konfirmandenunterricht ungeeignet, weil er alles hinterfrage.
So
schnell kam also das „Aus“ für meine Kirchenkarriere.
Immerhin
hatte der Pastor damals eine richtige Eingebung.
Ich
tauge wirklich nicht dazu blind Dogmen zu folgen.
Nur
wenige Jahre später sah ich Pastor M. wieder. Meine Oma war gestorben und er
besuchte uns anschließend, um zu erfahren, was sie eigentlich für ein Mensch
gewesen wäre. Schließlich sollte er die Trauerrede in der Kirche halten.
Tatsächlich
fand die Trauerrede dann in der kleinen Wellingsbüttler Kirche unter der von
ihr gestifteten Kanzlei statt.
Ich war
am Boden zerstört und weinte bitterlich.
Pastor
M. war sauer, weil seine Rede davon gestört wurde. So herrschte er
währenddessen meine Mutter an, sie möge ihr Kind zur Raison bringen.
So erlebte
ich es kurze Zeit später bei der Beerdigung meines Freundes wieder.
Pfarrer hören sich gern selbst reden und reagieren aggressiv bei Störungen von
weinenden Angehörigen.
Die
meisten Jungs haben in der Grundschule einen besten Freund.
Meiner
hieß Mark und a posteriori bin ich der Meinung, daß wir uns wirklich sehr gern
mochten.
Ich
jedenfalls wollte immer möglichst viel Zeit mit ihm verbringen.
Obwohl,
oder vermutlich eher „weil“ wir so unterschiedlich waren, ergänzten wir uns
perfekt.
Ich
war 1 ½ Jahre jünger, aber besser in der Schule und der kontemplative Typ.
Er
war mehr der klassische „Rabauke“, der sich immer selbstlos vor mich stellte,
wenn irgendjemand gemein zu mir war.
Marks
Elternhaus war…. nun ja, das würde zu persönlich werden.
De
facto wohnte Mark teilweise bei mir.
Kurzfristig
verloren wir uns etwas aus den Augen, nachdem ich mit neun Jahren die Schule
wechselte.
Es
würde mich brennend interessieren, was aus ihm geworden wäre - wenn er nicht
mit 14 bei einem Verkehrsunfall gestorben wäre.
Am
Tag der Beerdigung hatte ich eine prägende Erfahrung mit der Kirche.
Von
der Bibel hatte ich schon im Konfirmandenunterricht gehört, aber den Kurs hatte
ich bereits abgebrochen - trotz der Drohung des Pfarrers dann keine Geschenke
zu bekommen.
Da
meine Eltern aber beide schon lange aus der Kirche ausgetreten waren, schreckte
mich das wenig.
Mark
hingegen wollte sich unbedingt konfirmieren lassen - WEGEN der Geschenke. Ob er
an Gott geglaubt hat, weiß ich nicht. Die Beerdigung war jedenfalls kirchlich.
Man
setzte mich neben Marks Mutter, die nicht gerade überraschend die ganze Zeit
heulte und immer wieder stammelte, daß ihr Sohn genauso groß wie ich wäre.
Dem
Pfarrer, der bei seiner Rede soeben Marks tiefe Gläubigkeit anhand des
Konfirmationsspruchs „bewiesen“ hatte, missfiel es außerordentlich gestört zu
werden.
Daher
herrschte er die weinende Mutter während der Trauerrede an, sie solle sich
gefälligst zusammenreißen - schließlich bewiese der frühe Tod ihres Sohnes, daß
Gott ihn besonders geliebt habe.
„Whom
the gods love, die young“ - das ist ja das was man in der Situation am liebsten
hört.
Im Jahr
2014 sah sich sogar Helmut Schmidt veranlasst auf der Trauerfeier des Hamburger
Ehrenbürgers Siegfried Lenz, der sein enger Freund war,
Partei für ihn zu ergreifen, nachdem Michel-Pastor Alexander Röder den Atheisten
Lenz auf unverschämte Weise vereinnahmt hatte.
Die
Beerdigung meiner Oma war das letzte mal, daß ich die Kleine Kirche in
Welllingsbüttel betrat.
Ich
wohne längst ganz woanders, aber im Abstand von 5 bis 10 Jahren fahre ich noch
durch die Straße „Up de Worth“ und halte an der Kirche, weil ich mir die Kanzel
gerne noch einmal ansehen möchte.
Es
funktionierte nur nie, weil die Kirchentüren immer verschlossen sind.
Heute
dann die Überraschung. Schon von weitem konnte ich von meinem Auto aus sehen,
daß die Kirchentüren aufstanden, als ich nachmittags vorbei tuckerte.
Natürlich
hielt ich an, atmete durch und ging auf Zehenspitzen in das Gebäude.
Nach den
unangenehmen Erfahrungen gruselt es mich immer noch ein wenig.
In den
vorderen Bänken spielten fünf, sechs Kinder, die von einigen Frauen mit
Kostümen und Dekorationen versorgt wurden.
Offensichtlich
plante man irgendeine Art „Event“ für das draußen mit einem großen Banner
angekündigte Sommerfest.
Ich
schlich zu einer der Damen, die ganz rechts damit beschäftigt war ein Plakat zu
falten und fragte flüsternd, ob ich mich kurz umgucken und den Altar ansehen
dürfe.
Das gehe
nur wirklich nicht, herrschte sie mich an, „sehen sie denn nicht, daß wir hier
gerade proben?“.
Und so
flog ich, wieder einmal, aus der Wellingsbüttler Kirche.
Ich
werde dort offensichtlich in jedem Lebensalter als Störung empfunden.
Für
Gebete, Zwiesprache mit Gott oder Stille Andacht im Kirchenschiff hat man keine
Chance „Up de Worth.“ Dort ist man wohlhabend und bleibt unter sich. Fragen
unerwünscht.
Das
verrückte an der Geschichte ist, daß ich schon viele Jahre vor meiner „Konfer-Erfahrung“
längst ohne es zu wissen mit der Kirchengemeinde in Kontakt gekommen war, weil
ich wöchentlich das zugehörige Altersheim am Rabenhorst besuchte, Kuchen buk,
das ganze Jahr Geld sammelte, weil ich mir vorgenommen hatte, daß nicht nur
Kinder, sondern alle alten Leute ein Geschenk zu Weihnachten bekommen sollten.
Alte
Menschen lebten im Altersheim, also war ich als kleines Gör eines Tages einfach
mit dem Fahrrad dahin gefahren und hielt mich dort gern auf.
Natürlich
wußte ich nicht, daß die Kirchengemeinde das Heim betrieb, hatte dort auch nie
einen Pfarrer gesehen.
Wer
etwas für seine Gemeinde tun will, sich sozial engagiert, der trete sofort aus der Kirche aus.
Kirchen geben
um die fünf Prozent ihres Etats für soziale Zwecke aus. Wer also seine
Mitgliedsbeiträge bezahlt (vulgo Kirchensteuer), verschwendet 95% davon.
Das
sieht auch eine Mehrheit der Hamburger so. Inzwischen sind unter 28% Mitglieder
der evangelischen Kirche.
Hamburg
ist auf gutem Wege.
Glückwunsch,
Kirche!
Das muß erst mal jemand nachmachen: Eine Organisation, die dermaßen vom Staat mit Geld zugeschissen und privilegiert wird, dennoch kontinuierlich zu schrumpfen, ist eine echte Leistung!
Das muß erst mal jemand nachmachen: Eine Organisation, die dermaßen vom Staat mit Geld zugeschissen und privilegiert wird, dennoch kontinuierlich zu schrumpfen, ist eine echte Leistung!
37.000
Menschen traten 2014 aus der Nordkirche aus.
Bitte weiter so.
Bitte weiter so.
2% der Hamburger Protestanten, entsprechend 0,5% aller
Hamburger gehen sonntags
in die Kirche. Und das in einem Bundesland, in dem ohnehin nur 27,9% Mitglied
der evangelischen Kirchen sind.
Für
meinen Geschmack sind einer von 200
immer noch viel zu viele Gottesdienstbesucher, aber auch wenn man es
religionspolitisch neutral betrachtet, muß man sich schon fragen, woher die
hanseatischen Kirchen die Chuzpe nehmen sonntagsmorgens mit ihrem grausam
lauten Gebimmel die Stadt aufzuwecken, wenn 99,5% offensichtlich nicht geweckt
werden wollen.