Mittwoch, 15. August 2018

Familiengeheimnisse in Pennsylvania


Mein Vater wurde vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Greensboro, PA geboren. Eine Gemeinde in Greene County, in der heute die stattliche Anzahl von 260 Personen lebt.
Fast alle Einwohner waren coal-miner. Mein Opa besaß als einer der wenigen einen Anzug, den er voller Stolz und mit sauberen Fingern trug.
Meine Großmutter dachte vermutlich, das große Los gezogen zu haben, weil sie den einen Mann geangelt hatte, der einen Schreibtischjob hatte.
Sie bekamen natürlich schnell Kinder – wie sollte es anders sein bei streng gläubigen Katholiken?
Mein Vater war der dritte Sohn der jungen Familie und man zog um nach Bobtown, die größere Kohle-Stadt des Bezirks. So mußte sich der gesellschaftliche Aufstieg anfühlen.
In Bobtown ist verglichen mit Greensboro schon richtig was los.

 [….] As of the census of 2000, there were 742 people, 340 households, and 207 families residing in the town.
The racial makeup of the township was 95.5% White, 1.4% Hispanic, 0.4% Black, 0.3% Native American, and 2.1% from two or more races.
There were 322 households, out of which 23.3% had children under the age of 18 living with them, 50.3% were married couples living together, 10.6% had a female householder with no husband present, and 33.5% were non-families. [….] The median income for a household in the town was $40,038, and the average income for a household was $54,545. [….]
(Wiki)

In Bobtown lebte auch Großonkel Frank, der sogar ein eigenes Haus auf einem Hügel besaß. Als Rentner pflegte er mit einem geladenen Gewehr auf der Veranda zu sitzen, drohte auf jeden „Neger“ zu schießen, der sich seinem Besitz nähern könnte.

Mein Vater und seine Brüder gingen in die Sonntagsschule, wie alle in dem streng katholischen Kaff.
Dort unterrichtete der pyknisch-polnischstämmige Priester die Jungs über die größten Gefahren der Welt.
Erstens Masturbation und zweitens Juden.
Über die Wichserei befragte er jeden einzeln im Beichtstuhl, wie man Juden erkenne erklärte er in großer Runde. Diese hätten keine einzelnen Zehen, sondern noch sichtbar Huf-artige Füße.

Dort leben immer noch Verwandte von mir. Die Lieblingscousine meines Vaters, die fast ihr ganzes Leben in Washington verbrachte und nach ihrer Pensionierung nach Bobtown zurück zog, um ihre hochbetagte Mutter zu pflegen, sagte mir immer Bobtown sei der toteste Ort der USA.

Der soziale Aufstieg wurde allerdings kurz nach dem siebten Geburtstag meines Vaters jäh ausgebremst, als mein Opa mit einem Herzinfarkt tot zusammenbrach.
Schon blöd für meine Großmutter; da hat sie den einzigen Mann, der nicht jeden Morgen in die Kohlegrube fährt, um den man immer bangen muß und dann gibt der so früh den Löffel ab.
Hartz IV, Kindergeld oder Grundsicherung gab es nicht.
Oma musste jeden blöden Job annehmen, während sie ihre drei kleinen Jungs entweder bei Großonkel Frank parkte, so daß sie ihm auf seinem privaten Hochsitz bei der Ausschau nach sich nähernde „Neger“ helfen konnten, oder aber sie blieben tagsüber beim Pastor in der Kirche.


Ich weiß nicht ganz genau was dort vorgefallen ist, außer daß mein Vater bis zu seinem Lebensende in Wut geriet, wenn er Priester sah und sich weigerte detailliert zu erzählen.
Keiner der drei Brüder sprach darüber. Verbrieft ist aber der Vorfall, daß sie in irgendeinem Nachtschrank Kondome fanden, diese natürlich für „wonderful balloons“ hielten, aufbliesen, im Vorgarten damit spielten und dann so von dem Priester verprügelt wurden, daß meine Oma ihre Kinder schnappte und noch in derselben Nacht mit ihnen nach New York fuhr und nie wieder kam.
Ich kann nur erahnen wie es sich für die Kleinen anfühlte durch Manhatten zu gehen, wenn man vorher nur Greensboro, Bobtown, den Priester und Großonkel Frank kannte.
Später auf dem College teilte sich mein Vater ein Zimmer mit einem schwulen, jüdischen Kunststudenten und vergaß nie zu erzählen, daß er am ersten Abend sicherheitshalber doch auf dessen nackte Füße schielte, als er aus dem Bad kam. Keine Hufe. Fünf Zehen. Pro Fuß.

Typisch ist, daß auch in unserer Familie die nachfolgenden Generationen ein extremes Verhältnis zur Kirche behielten.

Mein Vater brach sobald er volljährig war mit dem Katholizismus – eine interessante Gemeinsamkeit mit meiner Mutter, die einen Kontinent entfernt in einer anderen Konfession ebenfalls an ihrem 18 Geburtstag ihren Kirchenaustritt vollzog.
Seine Brüder hingegen wurden immer katholischer und blieben bis zu ihrem Tod weit frommer als es ihre Mutter je gewesen war.

Es gibt die Anekdote meiner Eltern von dem schwulen Priester, der sich bei einer Taufe eines Neffens in New York derartig tuntig und affektiert gerierte, daß meine Eltern auf der letzten Kirchenbank nur mit kräftigen gegenseitigen Fußstritten ins Schienbein ihre Lachkrämpfe unterdrücken konnten.
Es wurde aber doch bemerkt. Mein Onkel stellte sie empört zur Rede, wie kämen sie dazu sich in der heiligen Kirche so aufzuführen und ständig zu lachen? Meine Mutter platze damit heraus, ihr täte es leid, aber der Priester sei so tuckig, daß sie es nicht unterdrücken konnten. Mein Onkel verstand das Wort gar nicht, überlegte minutenlang, kam dann mit hochrotem Kopf zurück und bellte sie an, ob sie etwa damit andeuten wolle, der Priester sei homosexuell?
So eine Unverschämtheit. Das gäbe es nicht in der Kirche.

Wir, der atheistischen Zweig der Familie haben in den folgenden Jahrzehnten natürlich viel darüber gesprochen, gerätselt wieso die anderen so felsenfest zur RKK stehen.
Inzwischen glaube ich, daß mein Onkel nicht bewußt negierte, etwas nicht wahrhaben wollte.
Er hat wirklich geglaubt „so etwas“ gäbe es nicht in der RKK.
Und trotz seiner eigenen Kindheit und der Erfahrung mit dem dicken polnischen Priester, war er außer sich vor Entsetzen, als 2002 die Missbrauchsskandale der Katholiken durch die US-Presse schwappen.
Er, der tägliche Kirchengänger konnte es nicht fassen, daß sich sowas in einer Kirche abspielte, während meine Eltern keine Sekunde überrascht waren und ohnehin nie etwas anderes von Priestern erwartet hatten.

Nachdem diese Generation tot ist, frage ich meine US-Cousins gelegentlich, ob es ihnen nicht schwer fiele jede Woche zehn Prozent ihres Gehaltes „freiwillig der Kirche zu spenden“, wenn sie doch wüßten, daß damit die Milliardenzahlungen an die von katholischen Priestern vergewaltigen kleinen Jungs gezahlt werden müssten.
Dafür zehn Prozent des Lohnes freiwillig geben?

Als mein Vater ähnliche Diskussionen mit seinen Cousins führte, glaubten sie ihm einfach nicht. Er war ja Atheist und käme eh in die Hölle, also müsse er schlecht über die Kirche reden.
Ich bin in einer anderen Lage, weil das myriadenfache Kinderficken der US-Priester nicht nur in der gesamten Presse dokumentiert, sondern auch von zwei Päpsten offiziell eingeräumt wurde.
Nun habe ich, der böse Atheist, die Fakten auf meiner Seite.

Aber die Gläubigen nehmen diese Informationen hin, sind entsetzt, bedauernd auch die Opfer, aber sie scheinen es nicht emotional mit ihrer Kirche zu verquicken.
Die Täter-Priester sind immer irgendwelche anderen. Böse. Wölfe im Schafspelz, die eigentlich nie was in der Kirchen zu suchen hatten.

Offensichtlich können Kirchisten die hochkriminellen Bösartigkeiten ihrer Geistlichen völlig von ihrem eigenen Glauben abtrennen.

Für rational denkende Menschen ist das schwer zu verstehen.
Es waren schließlich nicht einzelne, wenige Priester, die Kinder brutal verprügelten und sexuell missbrauchten, sondern es handelt sich um ein Massenphänomen.

[….] Ermittlungsbehörden im US-Bundesstaat Pennsylvania haben erschütternde Details über das Ausmaß von sexuellem Missbrauch und dessen Vertuschung in der katholischen Kirche der USA recherchiert. Die Behörden beschuldigen mehr als 300 namentlich genannte katholische Priester, sich des sexuellen Missbrauchs von Kindern schuldig gemacht zu haben - bis hin zur Vergewaltigung. "Obwohl die Liste von Priestern lang ist - wir denken nicht, dass wir alle gekriegt haben", sagte der Generalstaatsanwalt von Pennsylvania, Josh Shapiro. [….]

Und zwar ein Massenphänomen, das sich überwiegend auf kleine Jungs bezieht und das es eben nicht in anderen christlichen Konfessionen in annähernder Häufigkeit gibt.

Könnte es noch offensichtlicher sein, daß Zölibat, abstruse Sexualmoral und das Verbot von Frauenpriestertum eine Rolle spielen?


[….][Auch] die Sprache der Bürokratie kann den Horror nicht mildern. Ein Priester, heißt es im Bericht, habe im Krankenhaus ein Mädchen vergewaltigt, nachdem diesem gerade die Mandeln entfernt worden waren. Ein anderer Priester habe sein Opfer gefesselt und mit Lederriemen geschlagen. In Pittsburgh habe es einen Ring von Priestern gegeben, die ihre Opfer untereinander austauschten, um sie zu vergewaltigen. Ein Priester habe in Amt und Würden bleiben dürfen, nachdem er ein Mädchen geschwängert und dann zu einer Abtreibung gezwungen hatte. [….] Pennsylvanias Generalstaatsanwalt Josh Shapiro, dessen Behörde die Untersuchung initiierte, sagte, ranghohe Kirchenbeamte in Pennsylvania und im Vatikan hätten den Missbrauch systematisch vertuscht: "Sie haben ihre Institution um jeden Preis beschützt. Die Kirche zeigte ihren Opfern gegenüber reine Verachtung."
Wohl nur in zwei Fällen wird es aktuelle Anklagen geben. [….] Die Kirche hat sich bisher nach Kräften[gegen Änderungen an der Verjährungsregel] gewehrt. [….] "Priester vergewaltigten kleine Jungen und Mädchen", heißt es in dem Report, "und die Gottesmänner, die für sie verantwortlich waren, blieben nicht nur untätig, sie vertuschten das alles. [….]
[….] Die katholische Kirche in den USA sieht sich seit mehr als 15 Jahren Vorwürfen des umfassenden Missbrauchs ausgesetzt. Zehn Untersuchungen von Grand Jurys gab es bisher im Land. Amerikanische Bischöfe mussten einräumen, dass landesweit mehr als 17 000 Menschen von Priestern oder anderen Kirchenverantwortlichen belästigt oder missbraucht wurden. [….]