Die ungeheuerlichen Zustände in Pflegeheimen und das totale Versagen der zuständigen Politik, gibt es natürlich auch deswegen, weil die betroffenen Bettlägerigen und Dementen nicht wie Bauern, mit ihren großen Traktoren unter großem öffentlichen Tamtam vor die Parlamente fahren und dort buchstäblich ihren Mist ablassen.
Einer 90-Jährigen fixierten Frau mit Dekubitus und Exsikkose wird, anders als milliardenschweren Industriekapitänen, niemals der rote Teppich in der CDUCSUFDP-Fraktion ausgerollt. Ihre Bedürfnisse finden sich nicht wortwörtlich in den Gesetzesinitiativen der Konservativen wieder.
Was man nicht weiß, was man nicht sieht, macht einen nicht heiß.
Wer hat sich eigentlich um die überall in Deutschland stattfindende Genitalverstümmelung von Kindern und Säuglingen geschert, bevor das „Kölner Beschneidungsurteil“ 2012 lapidar den eigentlich doch ganz selbstverständlichen Satz „Eine religiös motivierte Beschneidung der Vorhaut eines männlichen Säuglings ist auch mit Zustimmung der Kindeseltern eine Körperverletzung gem. § 223 Abs. 1 StGB“ formulierte?
Otto Normalverbraucher sieht üblicherweise nicht zu, ist nicht dabei, wenn ein Mohel oder ein türkischer Onkel sich am Penis eines Jungen zu schaffen macht und diesen schwer verletzt.
[….] Mesut war damals fünf Jahre alt. Zusammen mit seinem Bruder und einigen Verwandten waren sie im Haus der Großmutter. "Da kamen plötzlich zwei Leute, und dann ist das einfach passiert. Es wurde gesagt: 'Jetzt wirst du zum Mann.' Man hat mich zu dritt festhalten müssen," erzählt er heute. Mesut sah eine riesige Spritze und eine Schere, er hatte Angst. "Die ziehen dir den Kopf nach hinten, damit du nicht hingucken musst. Aber du merkst natürlich alles. Wir haben geschrien und geweint", sagt Mesut. Es gab eine lokale Betäubung, aber kein Krankenhaus und keinen Arzt. Die Brüder lagen dann einen Tag gemeinsam im Bett, sie sahen ihr Blut zwischen weißen Laken. […]
Unsere Fähigkeit, auszublenden, was doch offensichtlich millionenfach stattfindet, ist beachtlich.
So war ich wieder einmal über mich selbst verblüfft, als ich im so viel geschmähten öffentlich-rechtlichen Fernsehen, eine erhellende und gleichzeitig extrem verstörende Reportage über die Zustände hinter den Mauern des Maßregelvollzuges sah, weil ich ein halbes Jahrhundert nie genügend Interesse aufbrachte, was eigentlich mit den kranken Menschen dort passiert.
Dabei ist „der ist doch krank“ eine der häufigsten Floskeln, wenn man sich über einen Menschen, der etwas Schreckliches tut, echauffiert. Ob es nun ein S-Bahn-Schubser, Wladimir Putin, Donald Trump oder ein Tierquäler ist.
Paradoxerweise schwingen in dem Fall mit „krank“ die schärfste Verachtung und der Wunsch noch harter Strafe mit. Dabei ist das offenkundiger Unsinn; schließlich kann nur für seine Taten verantwortlich gemacht werden, wer eben gerade nicht psychisch krank ist.
Es ist brutal und kriminell, wenn ein Mensch auf einen anderen einsticht.
Wenn aber der Täter unter Schizophrenie leidet oder durch sonst einen Wahn, diesen anderen Menschen für einen drei Meter großen Axtmörder hält, gegen den er sich unter Todesangst verteidigt, kann er nichts dafür, sondern ist selbst Opfer. Opfer einer tückischen Krankheit. Deswegen kommt so ein „Psychotäter“ auch richtigerweise nicht ins Gefängnis.
Da es aber ein reales Opfer gibt und der „Kranke“ eine Gefahr für andere darstellt, kann er selbstverständlich auch nicht freigelassen werden.
Deswegen gibt es geschlossene psychiatrische Kliniken und Maßregelvollzug. Dort sollen die armen seelisch kranken Menschen therapiert und möglichst geheilt werden. So lange das nicht gelungen ist, bleibt er unfrei.
Soweit die Theorie. In der Praxis funktioniert das in Deutschland gar nicht, weil im Maßregelvollzug zutiefst unmenschliche Verhältnisse, drastische Überbelegung und kaum therapeutische Maßnahmen stattfinden.
[….] Deutschlands Maßregelvollzug ist am Limit. In einer Umfrage beklagte der Großteil der 78 deutschen Kliniken des Maßregelvollzuges Überbelegung und Personalmangel. Wegen Überfüllung wurden in Berlin erstmals gefährliche Straftäter abgewiesen. Ärzte nennen die Zustände menschenunwürdig. Verantwortliche warnen, dass die Therapie hinter Gittern in Gefahr gerät ebenso wie die Sicherheit des Personals und der Menschen draußen - nämlich dann, wenn nicht ausreichend geheilte Ex-Straftäter freikommen. Erstmals durfte ein Kontraste-Reporter eine Woche lang im größten Maßregelvollzug Deutschlands drehen, Missstände dokumentieren und mit Patienten und Personal sprechen. [….]
Dies ist ein weiteres Feld, auf dem Politik und Gesellschaft auf erbärmliche Weise versagen.
Dabei wissen wir es besser, sind ein reiches Land. Aber wir sehen nicht hin, handeln nicht und taumeln lieber auch auf diesem Weg tumb in die Katastrophe.
BITTE ANSEHEN:
Ich schäme mich für die deutsche Justiz, daß sie es soweit kommen ließ.
Ich schäme mich auch für das deutsche Gesundheitswesen, das es seit Jahrzehnten nicht schafft genügen Psychotherapieangebote zu schaffen und es – wenig überraschend – im Maßregelvollzug soweit kommen ließ.
[….] Lars Landgraf, Stationsarzt: "Wir versuchen jetzt die Krankheit so weit in Griff zu kriegen, dass er nicht gefährlicher als ein Durchschnittsbürger ist. Und dass er dann irgendwann ein einigermaßen selbstbestimmtes Leben führen kann."
Doch statt Therapie heißt es hier vor allem: Stunde um Stunde Rumstehen. Pro Woche 45 Minuten mit einer Therapeutin, bisweilen weniger, sind die Regel, weil Personal fehlt.
Helge B., Pfleger: "Es gibt immer wieder akute brenzlige Situationen auf Grund der Überbelegung, keine Therapien."
Sabine M., Pflegerin: "Keine Therapien die mehr stattfinden können so wie unsere Patienten es eigentlich bräuchten. Und die Behandlung dann irgendwann hintenüberfällt. Komplett auf der Strecke bleibt."
Helge B., Pfleger: "Es ist kein vorankommen möglich. Dadurch verzögert sich alles hinaus." [….]
Vergammelte Fliesen und Armaturen, giftiger Schimmel, Zustände, eines Krankenhauses unwürdig, sagen Pflegerinnen und Pfleger.
Sabine M., Pflegerin: "Es ist in keinem schönen Zustand. Alles sehr, sehr alt. Sehr, sehr renovierungsbedürftig. Es hat Stückweit auch was mit Würde zu tun."
Lars Landgraf, Stationsarzt: "Jeder kann in die Situation kommen, so schwer psychisch krank zu werden, dass man Recht und Unrecht nicht mehr einsehen kann und eine Straftat begeht. Das kann passieren. Jedem von uns." [….]