Sonntag, 3. Oktober 2021

Briten in der Patsche

 Schadenfreude, also die Freude über Missgeschicke, Pech, Schmerzen anderer, gilt als besonders deutsches Phänomen. Gelegentlich hört man, Schadenfreude käme ähnlich, wie die panische Angst vor leichten Luftzügen („Zug“) überhaupt nur in Deutschland vor.

Mutmaßlich nivelliert das Internet diesen spezifisch deutschen Humor, so daß man nun global über Videoclips lacht, in denen sich jemand verletzt.

Meine Eltern behaupteten zumindest in meiner Teen- und Twen-Zeit, diese Begeisterung für Schadenfreude nicht aus den USA zu kennen.

(…..) Nur zwei Jahre später also rückte so eine Chemiekatastrophe ganz nah an uns heran. „Bhopal am Rhein“. Gemeint war damit die Baseler Sandoz-Katastrophe.

Am 01.11.1986 brannte eine gigantische Chemikalienlagerhalle ab. Riesige Mengen kontaminierten Löschwasser gelangten in den Rhein, darunter auch Herbizide des Nachbarunternehmens Ciba-Geigy; wie zum Beispiel 400 kg Atrazin.  Der gesamte Rhein färbte sich blutrot.

[…..] Die Giftwelle schob sich rheinabwärts: Sie löschte den gesamten Aalbestand auf einer Strecke von mehr als 400 Kilometern aus, tötete zahlreiche andere Fische und Lebewesen. Bilder von tausenden verendeten Aalen, die aus dem Rhein geborgen wurden, gingen um die Welt. Die Trinkwasserentnahme aus Deutschlands "Schicksalsfluss" wurde bis in die Niederlande für fast drei Wochen eingestellt. Es war eine der größten Umwelthavarien und löste damals, im Jahr der Tschernobyl-Katastrophe, viele Ängste aus. […..]

(STERN, 01.11.11)

Als Herr Meister, der Gärtner aus dem kleinen Vorgarten in unser Wohnzimmer trat, starren wir gerade auf weihnachtliche Bilder aus Rotterdam.  Inzwischen war die toxische Flut aus der Schweiz im Rhein-Maas-Delta angekommen, alle Fische starben, trieben stinkend an der Oberfläche und die Niederländer mühten sich ab die Kadaver abzuschöpfen.

[…..] Wenigstens 30 bis 40 Tonnen hochgiftiger Substanzen sickerten ins Flußwasser, wie viele es wirklich waren, wird sich nie rekonstruieren lassen. Rund 1200 Tonnen Chemikalien, darunter 900 Tonnen hochgiftiger Verbindungen, waren in der niedergebrannten Lagerhalle gestapelt - genug, um die Bevölkerung von ganz Europa umzubringen.  Mit 3,7 Stundenkilometer Fließgeschwindigkeit wanderte die 70 Kilometer lange Giftschleppe flußabwärts. Am sechsten Tag erreichte sie Bonn. Anfang letzter Woche diffundierten die Giftpartikel vor der niederländischen Rheinmündung in die Nordsee. Vorläufige Schadensbilanz für den Oberrhein: 150000 tote Aale, "riesige Mengen von toten Zandern, Barben und Barschen (Fischereisachverständiger Hartmut Kickhäfer), Vernichtung aller Wasserflöhe, das Absterben der Fliegenlarven zu 80 Prozent, der Wasserschnecken "in erheblichem Umfang" - Störung des ökologischen Gleichgewichts in diesem Flußabschnitt auf lange Zeit. […..]

(SPIEGEL, 17.11.1986)

Herr Meister hatte seine ganz eigene Meinung dazu: „Das gönne ich den Holländern!“

Wir mussten uns wohl verhört haben, starrten ihn ungläubig an.

Aber Herr Meister war überzeugt im Recht zu sein und präsentierte uns vollkommen unironisch seine Erklärung.   Seit 30 Jahren äßen seine Frau und er zu Weihnachten eine deutsche Gans. Dieses Jahr hätten sie erstmals eine Gans aus Holland gekauft und das Biest wäre ja dermaßen zäh gewesen!  In den folgenden Dekaden verwendete ich diese Begebenheit oft als Metapher für das Urteilsvermögen der Deutschen.   (….)

(Herr Meister, 23.07.2019)

Empirisch kann man tatsächlich nachweisen, wie sehr Deutsche im Vergleich zu anderen Völkern zu Missgunst und Neid neigen.

Während Chinesen oder US-Amerikaner, die sich kein teures Auto leisten können, den reichen Nachbarn für seinen Mercedes bewundern und sich an dem tollen Auto erfreuen, ist die naheliegende Reaktion der ärmeren Deutschen, den Lack des Nobelautos zu zerkratzen. Wenn man sich selbst keinen Porsche leisten kann, soll der reiche Nachbar auch keine Freude daran haben.

[….]  Deutsche sehen Reiche als egoistisch, materialistisch und rücksichtslos. Zudem neigen Deutsche stärker zum "Sündenbockdenken" als andere Nationen und geben Superreichen die Schuld an den Problemen dieser Welt. Schließlich reagieren sie eher als Franzosen, Briten und Amerikaner mit Schadenfreude, wenn ein Millionär mit einem Geschäft viel Geld verliert.  Das sind einige Ergebnisse der ersten international vergleichenden Studie zur Einstellung von Europäern und Amerikanern gegenüber Reichen, die vom Institut für Demoskopie Allensbach und von Ipsos MORI in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den USA durchgeführt wurde. In jedem Land wurden 1000 Personen befragt. Die Ergebnisse sind in meinem soeben im Finanzbuch Verlag veröffentlichten Buch "Die Gesellschaft und ihre Reichen. [….]

(Dr. Dr. Rainer Zitelmann, 11.02.2019)

Ob es an meinem fehlenden deutschen Pass liegt, kann ich nicht sagen, aber ich neige immer eher zu Mitleid, als zur Schadenfreude und habe das Konzept von „gerechter Strafe“ nicht verinnerlicht.  Selbst bei wirklich abscheulichen Menschen, verstört mich die allgemeine Freude über ihr Ableben.

Angela Merkel, die Christin, die sich angeblich auf Werte wie Nächstenliebe beruft, sagte nach der völkerrechtswidrigen Tötung Osama bin Ladens (ohne Gerichtsverfahren) «Ich freue mich darüber, dass es gelungen ist, Bin Laden zu töten

Als Atheist und Humanist empfinde ich keine Freude, wenn Menschen getötet werden und halte solche nationalen Strafaktionen inklusive der dubiosen geheimen Entsorgung der Leiche im Meer für falsch.  Dafür braucht es die biblische Rache-Ideologie (Auge um Auge, Zahn um Zahn), die mir fehlt.

Nicolae Ceaușescu, der rumänische Diktator wurde 81-jährig am 25.12.1989 zusammen mit seiner 83-jährigen Frau Elena Ceaușescu erschossen; die Bilder ihrer Leichen genüßlich landesweit verbreitet. Ich empfand keine Freude.

Saddam Hussein, der irakische Diktator wurde 69-Jährig, nachdem er Jahre elend in einem Erdloch hockte, am 30.12. 2006 unter barbarischen Gejohle seiner Henker barbarisch ermordet. Ich war angeekelt.

Muammar al-Gaddafi, der Libysche Diktator, wurde 69-Jährig am 09.09.2011 grausam verstümmelt und schließlich zu Tode gepfählt. Ich fand es widerlich.

Ich weiß nicht, wieso sich die Pfarrerstochter Merkel so über das Sterben eines Menschen freut. Offensichtlich ist das eine religiöse Eigenart. Radikale Muslime sind ebenso wie evangelikale Amerikaner begeisterte Anhänger der Todesstrafe, während wir evolutionären Humanisten staatliches Morden strikt ablehnen.

Natürlich lehne ich Strafen nicht generell ab.

Manchmal sind Freiheitsstrafen schon deswegen nötig, um potentielle Opfer vor gefährlichen Menschen zu schützen; gerade wenn keine Resozialisierung des Delinquenten möglich ist.

Manche Strafen sind als Erziehungsmaßnahmen notwendig.  Dazu gehören beispielsweise die enormen ökonomischen Probleme, die sich gerade im Post-Brexit-England manifestieren. Johnson und 51% der Wähler frönten ihrer Xenophobie, wollten wider alle Vernunft möglichst viele Ausländer aus dem Land werfen.

Nun stehen die Engländer vor leeren Supermarkt-Regalen, weil 100.000 LKW-Fahrer fehlen.

Die ausländerfeindlichen Briten wollten nämlich genau die ost- und südeuropäischen Menschen von den Inseln vertreiben, die solche Jobs erledigen, die Engländer und Waliser nicht selbst machen wollen. Wie sich nun  - völlig überraschend  - herausstellt, gerät die britische Ökonomie ohne Erntehelfer, Lageristen, Wäschereimitarbeiter, LKW-Fahrer und Putzkräfte in erhebliche Schwierigkeiten.

In den letzten beiden Jahren haben mindestens 300.000 Ausländer Groß Britannien verlassen. Ein Traum der UKIP/Brexiteers/AfD/LePen/FPÖ wurde wahr.

Es ist allerdings ein Alptraum.

  […..] Der Mangel an Truckern ist inzwischen so groß, dass sich die Unternehmen die knappen Fachkräfte gegenseitig abwerben, auch das verschärft die Versorgungskrise. »In den vergangenen Wochen haben viele Tanklastfahrer aufgehört, weil sie mehr verdienen, wenn sie für die Supermärkte fahren«, sagt Rod McKenzie, Geschäftsführer des Transportverbands RHA.
Während branchenübliche Jahresgehälter bei rund 42.000 Pfund liegen, bieten Supermarktbetreiber wie Tesco oder Sinsbury inzwischen 50.000 Pfund oder mehr, erzählt er. »Wir haben sogar gehört, dass einmal 75.000 geboten wurden.«
Das lockt derzeit kaum Frauen und Männer ins Führerhaus, aber es treibt die Preise, die wegen der Knappheit bei Energie und Rohstoffen ohnehin klettern wie lange nicht. Im August lag die britische Inflationsrate gegenüber dem Vorjahr bei mehr als drei Prozent, dem höchsten Wert seit Jahrzehnten.
Der Brexit wird unvermeidlich Wohlstand kosten
Es ist eine Krise mit Ansage. Dass die britische Wirtschaft ohne die Arbeitsmigranten in Not geraten würde, sei »lange vorhersehbar gewesen«, sagt Jonathan Portes, Wirtschaftsprofessor am King’s College in London. Bis 2011 war er Chefökonom im Kabinettsbüro des Labour-Premierministers Gordon Brown, der eine vergleichsweise liberale Einwanderungspolitik verfolgte.
Der Brexit, den Browns konservative Nachfolger durchsetzten, brachte das Gegenteil, und das hinterlässt nun überall Spuren. »Die Regierung sollte den Bürgern klar sagen: Das ist der Brexit, dafür haben Sie gestimmt«, sagt Portes. Der EU-Austritt, sei »keine dauerhafte Katastrophe«, aber er werde das Land nun einmal »unvermeidlich Wohlstand kosten«.
[…..]

(DER SPIEGEL, 02.10.2021)

Die leeren Supermarktregale, die Benzinknappheit, die Schrumpfung der Wirtschaft ist eine gerechte, wichtige und notwendige Strafe für England.

Ich kann auch hier keine echte Schadenfreude empfinden, weil mir die andere Hälfte der Briten, die gegen den Brexit stimmte, leidtut.

Aber es ist sowohl für die Inseln, als auch für die anderen EU-Austrittsfreunde in Warschau und Paris notwendig, um einen Erkenntnisprozess einzuleiten, der offensichtlich ohne drastische Nachteile am eigenen Leib nicht vermittelbar ist.

Chaos-Premier Johnson, den die Briten mit überwältigender Mehrheit wiederwählten, überlegte ganz kurz angesichts 100.000 fehlender Trucker doch immerhin 5.000 Rumänen und Polen wieder einreisen zu lassen. In seiner ganzen imperialen Ignoranz, tönte er aber, diese sollten dann bis Weihnachten wieder verschwinden. So macht man sich beliebt im Kampf um Arbeitskräfte. Inzwischen kassierte der blonde Irre in einer nationalen Aufwallung selbst dieses kleine Zugeständnis wieder.

[…..] Britische Benzinkrise Boris Johnson will doch keine ausländischen Arbeiter. Polnische Billig-Benzinkutscher, Deutsche Alt-Führerscheinhalter als Lückenfüller? Braucht Großbritannien gar nicht, sagt Boris Johnson vor dem Tory-Parteitag und verbreitet Optimismus. An dem aber wachsen die Zweifel. [….]

(SPON, 03.10.2021)

Wer nicht hören will, muss fühlen. Und irgendwo kommt in mir doch die klammheimliche Mescalero-Freude, ob der leeren englischen Regale auf.

[….] Being outside the EU single market and customs union imposes bureaucracy and friction at borders that British businesses did not previously face. Ending freedom of movement for EU nationals has drained the labour pool from which many industries recruited. Without agricultural workers, food rots before it can get to market. Without hauliers, goods sit unshipped in depots.  This was all predictable, and predicted. Ending free-flowing EU migration was an advertised benefit of Brexit. The theory was that foreigners were taking jobs from British-born workers or depressing their wages. The gaps should, in that view, now be filled with eager locals. One problem, as businesses warned well in advance, is that migrants were not generally working in dream jobs, surrounded by unemployment. The tasks they did, and the conditions under which they worked, might not appeal to British workers. There might not be slack in the labour market to be taken up. In some fields – haulage, for example – there are also limits to how quickly new recruits can be trained and licensed. [….]

(The Guardian, 25.08.2021)

So wie 75 Millionen Amerikaner auch nach 500.000 Covid-Toten und einem ökonomischen Desaster noch nicht begriffen, daß Trump ein schlechter Präsident war, müssen wohl hartnäckige Brexiteers erst wirklich hungern, um zu verstehen, daß Xenophobie keine gute Politik ist. Mögen sie den selbst angerichteten Clusterfuck als schmerzhafte Lehre akzeptieren.

[…..] It means major retailers such as Sainsbury's and Tesco are warning they are unable to keep all their shops stocked in the way they’d want.

"Their [supermarkets'] number of deliveries decrease over the course of a week, so where they might have been getting five, six, seven deliveries a week that might have gone down to four or five," said retail analyst Bryan Roberts.  "Tesco has already noted that it’s had some issues with food waste as it can’t get it through the system fast enough. "I think we’ll see lots more of these types of issues in the weeks and months ahead because there’s such a shortfall of truck drivers and that will take a long time to remedy because there are thousands that need to be trained." [….]

(EuroNews, 22.07.2021)