Freitag, 20. Juni 2014

Lampedusa


Manchmal verkommen Begriffe zu platten Schlagworten oder Kampfbegriffen.
Die Mittelmeerinsel Lampedusa ist die größte der vier Pelagischen Inseln (neben Linosa, Lampione und der Isola dei Conigli) und das erste Eiland auf das man von Tunesien aus kommend stößt, wenn man das Europäische Sizilien ansteuert.
Mit 20 Quadratkilometern ist Lampedusa einen Tick größer als Hiddensee und um etwa ein Drittel kleiner als Borkum.
Die wärmste Mittelmeerinsel ist eigentlich von 4500 Menschen bewohnt, welche durch rabiate Rodungen die ganze Insel ziemlich verdorren lassen haben.
Aber wen interessiert das noch?

Für Millionen Menschen, die perspektivlos im nordafrikanischen Elend hocken, zählt nur die vergleichsweise geringe Entfernung von 160 km. Lampedusa bedeutet für sie der schnellste illegale Weg von Tunesien in die EU.
(Noch schneller geht es nur in die Spanischen Enklaven Melilla und Ceuta, aber der Grenzzaun ist unerbittlich. Nur wenige überwinden das mehrfach mit Nato-Draht gesicherte Monstrum. Dabei ziehen sie sich aber manchmal lebensgefährliche Schnittverletzungen zu und müssen damit rechnen trotz ihrer Bitte um Asyl illegal von Spanischen Sicherheitskräften einfach wieder rausgeworfen zu werden. Auf der anderen Seite des Zaunes warten dann von Europa bezahlte Marokkanische Grenzschützer, die jeden Flüchtling zunächst einmal grausam verprügeln und dann hunderte Kilometer gen Süden fahren, wo sie dann in Unterwäsche und jeder Habseligkeit beraubt rausgeworfen werden.)

Für Millionen um ihren eigenen Wohlstand fürchtende Europäer, die ihren Wohlstand freilich auch durch Ausbeutung Afrikas erlangten, steht Lampedusa hingegen für ein lästiges Einfallstor.
Immer mal wieder geht eine leichte Empörung durch die EU-Öffentlichkeit, wenn mal wieder hunderte oder tausende Menschen auf dem Weg nach Lampedusa elend verreckt sind. Aber wie die letzten EU-Wahlen deutlich gezeigt haben, besteht die Forderung an Brüssel die Elenden aus dem Süden noch konsequenter abzudrängen.

Für Hamburger steht der Begriff „Lampedusa“ dagegen für ein linkes Aufreger-Thema.
Piraten und Linke regen sich gar fürchterlich über den Hamburger SPD-Senat auf, weil er einigen Dutzend afrikanischen Flüchtlingen keinen gesicherten Aufenthaltstitel geben will.
„Lampedusa“ ist der Kampfbegriff der schwarz Vermummten geworden, wenn anlässlich irgendwelcher Daten vorzugsweise in der Schanze-Gegend zum Marsch gegen die Regierung geblasen wird.
Wenn Böller, Flaschen und Steine fliegen, die Bannmeile um das Hamburger Rathaus gestürmt wird, tun die wurfstarken Demonstranten das vorgeblich zum Wohle der „Lampedusa-Flüchtlinge“.
(Hafenstraße ist schon zu lange befriedet und bei der Roten Flora kann man dem Senat nicht recht etwas vorwerfen, weil er geradezu vorbildlich deeskalierend gegen den dubiosen Privateigentümer der Flora vorgeht. Da braucht es einen neuen Schlachtruf auf der Suche nach Ärger.)

Wieso gibt sich der SPD-Senat diese offene Flanke? Kann er nicht bei den paar Menschen ein Auge zudrücken und sie hier akzeptieren?

Um es vorweg zu nehmen: Nein, kann er nicht. Der Senat handelt richtig.

Da ich mich als Undeutscher selbst immer um einen Aufenthaltstitel bemühen muß und in meinem Leben schon sehr viele Stunden im Ausländeramt mit Asylbewerbern verbracht habe, ahne ich wie unangenehm diese bürokratische Prozedur ist. Man wird von sichtlich genervten und überlasteten Beamten schlecht behandelt und muß Geduld mitbringen. Dabei habe ich im Vergleich zu einem „Lampedusianer“ noch leicht reden, da ich a) Obdach und b) eine Lebensgrundlage habe und zudem auch noch deutsch spreche.
Ich will und kann mich wirklich nicht mit einem Asylbewerber vergleichen.

Aber man kann die Lampedusa-Flüchtlinge mit 10.000 anderen vergleichen, die genau in der gleichen Situation sind und sich nicht dem legalen Weg entziehen.

Ich verwahre mich ausdrücklich gegen kirchliche und linke Kräfte, die vom Senat verlangen einer bestimmten kleinen Gruppe von Flüchtlingen eine Vorzugsbehandlung zukommen zu lassen, weil diese sich vorher besonders unkooperativ und zudem illegal verhalten haben.
Sie weigern sich bis heute einen Asylantrag zu stellen und ihre Personalien zu offenbaren. Aber das soll der Rechtsstaat goutieren und einen Präzedenzfall schaffen?

Das Bündnis der Menschen, die vom Senat verlangen Tausende ehrliche Flüchtlinge zu hintergehen ist lang und beeindruckend.
Angeführt wird sie vom Ex-RAF-Terroristen Karl-Heinz Dellwo, der an der Geiselnahme in der deutschen Botschaft in Stockholm beteiligt war und zu zweimal lebenslanger Haft verurteilt wurde. Während der Besetzung erschoss das RAF-Kommando die Diplomaten Andreas von Mirbach und Heinz Hillegaart.

Zahlreiche Prominente haben ein Manifest für die Lampedusa-Flüchtlinge in Hamburg unterzeichnet. Zu den ersten Unterzeichnern gehören unter anderem die Musiker Bela B. und Jan Delay, die Intendantinnen des deutschen Schauspielhauses und von Kampnagel, Karin Beier und Amelie Deuflhard, sowie der Filmemacher Fatih Akin und der Publizist Roger Willemsen. In dem Papier mit dem Titel "Hier eine Zukunft! Manifest für Lampedusa in Hamburg" erklären sie ihre Solidarität mit den afrikanischen Flüchtlingen, die seit einem Jahr in der Hansestadt leben und ein Bleiberecht fordern.
In dem Papier, das am Mittag vorgestellt wurde, kritisieren die Unterstützer Innensenator Michael Neumann (SPD). Seine Behörde habe deutlich gemacht, dass die Flüchtlinge in einem Asylverfahren kaum eine Chance hätten. Es sei daher auch völlig unpassend, dass Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) die Hansestadt erst kürzlich bei einer programmatischen Rede als kosmopolitisch und weltbürgerlich bezeichnet habe.
Über die Motive der Unterzeichner heißt es in dem Manifest: "Wir unterstützen den Kampf dieser Gruppe aus den unterschiedlichsten Gründen. Die einen sind aus christlicher Nächstenliebe dabei, andere aus humanitären oder politischen Gründen (...). Was uns eint, ist die Überzeugung, dass diese Menschen eine Zukunft haben müssen – und zwar hier in dieser Stadt". […]

Aber wie und auf welcher Rechtsgrundlage sollte ein Innensenator sagen, daß für eine exklusive Gruppe von ca 70 Flüchtlingen ausnahmsweise keine Regeln und Gesetze gelten?
Und was sollte der SPD-Senat dann den anderen Flüchtlingen sagen? Tatsächlich werden in Hamburg zehntausende Flüchtlinge untergebracht und das ist gerade in einer reichen Stadt wie Hamburg nicht so einfach für den Senat, da sich das fehlgeleitete und von Piraten plebiszitär verseuchte Wutbürgertum gegen jeden Unterbringungsort wehrt.
Welcher Standort auch immer erwogen wird; sofort ist eine St. Florians-Bürgerinitiative zur Stelle, die mit Prozessen und Volksentscheiden droht: Man habe ja nichts gegen Flüchtlinge, aber doch bitte nicht genau in unserer Nachbarschaft. Dabei hat der Senat bereits auch einen Standort mitten in einem der reichsten Viertel Hamburgs, nämlich in der Sophienterrasse  in Harvestehude durchgedrückt. (Richtig so!) Die Anwohner wehren sich. Allerdings nicht alle. Es gibt durchaus auch Solidarität unter Harvesterhudern, die ihre neuen Nachbarn mit offenen Armen empfangen wollen.

Damit es keine Missverständnisse gibt: Ich bin ausdrücklich dafür Flüchtlinge aufzunehmen, ich denke Hamburg könnte und sollte noch mehr Flüchtlinge aufnehmen. Und ich bin entsetzt darüber, wenn man zum Beispiel durch eine Wallraff-Sendung erfährt wie schlecht diese Menschen behandelt werden.
Und natürlich ist es absurd und krank Asylbewerbern grundsätzlich keine Arbeitserlaubnis zu erteilen und sie zur Untätigkeit zu verdammen.
Ich wehre mich aber dagegen dem Senat zu unterstellen, er täte nichts.
 Das ist einfach nicht wahr. Allein dieses Jahr gibt Hamburg über 250 Millionen für die Unterbringung und Betreuung von Flüchtlingen aus. Um diesen Menschen zu helfen, müssen sie sich aber einmal melden und sagen „Hallo, da bin ich.“
Die übergroße Mehrheit der Flüchtlinge tut auch genau das und die Stadt Hamburg ist keineswegs untätig.

Im Moment ist der Scholz-Senat damit beschäftigt Unterkünfte für 4000 Menschen zu schaffen.

Woche für Woche stranden neue Flüchtlinge in Hamburg. Intensiv sucht die Stadt für sie nach Unterkünften. Eine Senatsantwort auf Anfrage des CDU-Politikers Roland Heintze zeigt: Derzeit ist der Bau von elf neuen Einrichtungen geplant.
In den Gebäuden sollen künftig 2100 Menschen leben. 380 etwa in der Brookkehre (Bergedorf) oder 288 in der August-Kirch-Straße im Bezirk Altona. Gesamtkosten für die Gebäude-Herstellung: rund 50 Millionen Euro.
„Weiterhin“ besteht laut Senat ein „Engpass bei der Unterbringung“. 2014 müssten 4000 neue Plätze geschaffen werden. Alle Bezirke müssen sich an der Suche nach geeigneten Gebäuden und Flächen beteiligen. [….]

Es ist eine Aufgabe, die richtig ist und die getan werden muß, um die man die SPD-Senatoren aber nicht beneiden kann.
Wo immer und wie immer Flüchtlinge untergebracht werden. Nachbarn (per se dagegen) und Linke (per se dafür) kritisieren einen sowieso und Majorität der Hamburger ist angefeuert von der CDU und der Springerpresse ohnehin leicht xenophob und betrachtet die Ausgaben für Menschen aus Syrien oder dem Libanon mit Argusaugen. Hamburgs Sozialsenator Detlef Scheele erklärt im SZ-Interview was Hamburg tut.

SZ: Herr Scheele, mitten in Hamburg, in einem Park in Altona, haben 50 Menschen aus Rumänien über Wochen in Zelten und Autos campiert, darunter Schwangere und viele Kinder. Erschreckt Sie das?

Detlef Scheele: Leider passiert das zurzeit allenthalben in deutschen Großstädten. Besonders stark betroffen sind Mannheim, Berlin und Duisburg. Dort lassen sich Menschen aus Bulgarien und Rumänien nieder, die auch in ihren Heimatländern nicht integriert sind, die in der Regel keine Schulabschlüsse haben, keine Berufsausbildung und teilweise gar nicht lesen und schreiben können.

SZ: Was passiert mit diesen Menschen?

Detlef Scheele: Wir beraten sie in ihrer Muttersprache und sagen ihnen: Ohne Berufsausbildung, ohne Sprachkenntnisse, ohne einen Rechtsanspruch auf Sozialleistungen oder Wohnraum können wir Euch keine Perspektive bieten. Ihr müsst zurückfahren. Wir sind in Hamburg ganz erfolgreich mit dieser Art Rückführung, denn es gibt für diesen Personenkreis hier keine Integrationsperspektive.

SZ: Könnten Sie die Menschen, wenn sie einen Anspruch hätten, überhaupt in öffentlichen Unterkünften unterbringen?

Detlef Scheele: Wegen der hohen Flüchtlingszahlen haben gegenwärtig außer in Hotels keine Chance, jemanden unterzubringen. Gar keine Chance. Wir haben keine Plätze. Wir stehen mit dem Rücken zur Wand, fest angelehnt.

SZ: Wie dramatisch ist die Lage?

Detlef Scheele: Unsere Erstaufnahmestelle ist um 500 Personen überfüllt, weil wir die Flüchtlinge von dort aus nicht in die Folgeunterbringung abgeben können. Uns fehlen für dieses Jahr 4000 zusätzliche Plätze. Bei 2400 Plätzen wissen wir immerhin, wo sie entstehen sollen, einige werden schon gebaut. Bei 1600 Plätzen wissen wir noch nicht einmal, wo wir sie bauen können.

SZ: Falls alles klappt, hätten Sie am Ende 14000 Plätze. Reicht das überhaupt?

Detlef Scheele: Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Wir gehen von den Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge aus, die für dieses Jahr eine Steigerung der Flüchtlingszahlen um etwa 30 Prozent melden. Aber Innenminister de Maizière nannte kürzlich in einem Interview schon wieder deutlich höhere Zahlen. Da würden wir finanziell und räumlich vor unglaublichen Problemen stehen.

SZ: In Irak und Syrien sieht es nicht so aus, als würde sich die Lage entspannen.

Detlef Scheele: Auch in Eritrea, Somalia und Süd-Sudan sehe ich nicht, dass Ruhe einkehrt. Und den Menschen muss man helfen. […]
(SZ vom 20.06.2014)

Bei den Bürgerkriegsflüchtlingen geht es um Kranke, Traumatisierte, Schwangere und Verletzte.
Ich kann nicht einsehen, wieso sich Hamburger Prominente hinstellen und vom SPD-Senat verlangen, diese Menschen hätten alle erst mal zurück zu stehen, weil die 70 – 80 in einer Kirche gut versorgten überwiegend jungen gesunden Männer aus Afrika nun Vorrang hätten. Soll der Senat klein beigeben, weil die Unterstützer einer kleinen besonderen Gruppe von Flüchtlingen kriminell werden; gegen das Bannmeilengesetz verstoßen und Anschläge auf mehrere Büros von SPD-Abgeordneten verüben?
Der Senat handelt richtig, indem er „die Lampedusaflüchtlinge“ jetzt ultimativ auffordert sich bei den Behörden zu melden.

Eigentlich sollte es in der Aktuellen Stunde der Bürgerschaft um Rechtsverstöße wie die Verletzung der Bannmeile um das Rathaus bei einer Demonstration von und für die Lampedusa-Flüchtlinge gehen. Doch ein Satz von SPD-Fraktionschef Andreas Dressel an die Adresse der Lampedusa-Gruppe ließ aufhorchen. "Nutzen Sie bis zum 30. Juni noch die Chance, auf Basis des Verfahrensangebots einen Asylantrag zu stellen", sagte der SPD-Politiker mit energischer Stimme.
Darum geht es nach Informationen des Abendblatts: Am 2. Juni hatten sich die Innenbehörde und die Nordkirche auf ein Verfahren verständigt, wie mit den verbliebenen rund 80 Männern der Lampedusa-Gruppe umgegangen werden soll, die noch keinen Asylantrag gestellt haben. Wer bis zum 30. Juni einen Antrag stellt, der für den Senat die Voraussetzung für einen legalen Aufenthalt ist, für den gelten noch die gleichen Vorzüge im Asylverfahren, die den früheren Lampedusa-Asylbewerbern eingeräumt wurden.
[…]  Der Konflikt um die Flüchtlinge beeinflusst das politische Klima der Stadt seit Monaten. Zuletzt hatten Lampedusa-Männer und Unterstützer auf dem Rathausmarkt gegen die Flüchtlingspolitik des Senats protestiert. Weil die Protestaktion in unmittelbarer Nähe des Sitzes der Bürgerschaft einen Verstoß gegen das Bannmeilengesetz darstellt, begann die Polizei den Platz zu räumen. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen mit den Demonstranten. […] Die Grünen-Politikerin Antje Möller wies die Vorwürfe in der Bürgerschaft zurück: "Die Bannmeile ist für uns ein wichtiges Arbeitsinstrument. Aber wer sie durchbricht, tut das, um auf sich aufmerksam zu machen."
Das sei zwar eine Ordnungswidrigkeit, schrecke die Menschen aber nicht ab, "weil es die einzige Lösung ist, um auf sich aufmerksam zu machen." Dieser Satz löste heftigen Protest bei den Abgeordneten von SPD und CDU aus, die den Grünen vorwarfen, das Bannmeilengesetz zu relativieren.
In einem Punkt waren sich jedoch alle Fraktionen einig: Die Anschläge auf Büros und Privatwohnungen von Abgeordneten, die sich in den vergangenen Monaten gehäuft haben, wurden einhellig verurteilt. Zum Teil wurden die Attacken mit der Flüchtlingspolitik des Senats begründet. "Scheiben wurden eingeworfen, Büros von innen verwüstet. Das macht wütend", sagte Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (SPD) zu Beginn der Sitzung. "Aber wir werden uns davon nicht einschüchtern lassen", sagte Veit unter dem Beifall des gesamten Hauses. […] (Peter Ulrich Meyer 19.06.14)