Dienstag, 11. April 2023

Brexit at work

Die Grafschaft Kent, in der südöstlichsten Ecke Englands, liegt dem Festland am nächsten. Dort beginnt auch der Eurotunnel. Mit 1,85 Millionen Menschen leben dort ähnlich viele Leute wie in Hamburg, auf gut 3.700 km², also etwa fünfmal so groß wie Hamburg.

Kent entspricht vielleicht am meisten unserer Südengland-Klischeevorstellung von  gesitteten Bürgern, die in ihrer Freizeit mit der Nagelschere die sattgrünen Rasenflächen bearbeiten, um in einem der zahlreichen Gartenwettbewerbe zu gewinnen.

Kent nennt sich (wie einige andere südenglische Grafschaften auch) „Garten Englands“, weil dort traditionell Obstplantagen und Hopfengärten bewirtschaftet werden.

Obst vor den Toren einer Weltstadt zu produzieren, ist schlau. Der steinreiche Neun-Millionenmolloch London mit seinen reichen Bewohnern benötigt viel frisches Gemüse und Obst.

Nicht, daß ich Hamburg mit London vergleichen will, aber mit dem „Alten Land“ verfügen auch wir über unseren eigenen Obstgarten. Gemeint sind die Gebiete der südlichen Elbmarsch von Hamburg und Niedersachsen. Dort werden auf 10.700 Hektar Äpfel (77%), Kirschen (13%), Birnen und viele andere Obstsorten angebaut.

Jeder Hamburger weiß, wann dort die Blütezeit ist und fährt sich gern die Pracht ansehen. Natürlich kaufen wir Gemüse, Blumen und eben Obst vorzugsweise aus dem Alten Land, weil das die regionalste und damit auch nachhaltigste Quelle ist.

Da Kent zu 70% aus Farmland besteht (das sind etwa 2.600 km², also 260.000 Hektar = 24 mal das Alte Land) sollte man meinen, daß die Kenter eine Menge Briten mit regionalem Obst versorgen können.

Allerdings fanden die imperialen Briten heraus, daß man Obst noch billiger aus China und Südamerika importieren kann.

Die Grafschaft Kent produzierte 1995 noch Obst im Wert von 380 Millionen Pfund; heute ist es nur noch die Hälfte. Die Obst- und Gemüseproduktion für das eigene Volk nimmt in Toristan jedes Jahr ab.

[….]  Key results for 2020 compared to 2019

• The Utilised Agricultural Area (UAA) decreased by 1.5% to 17.3 million

hectares, covering 71% of land in the UK.

• The total croppable area decreased by 1.8% to 6.0 million hectares.

• The cereal crops area decreased by 5.4% to 3.0 million hectares.

• The area of oilseed crops planted decreased by 24% to 415 thousand

hectares.

• The total number of cattle and calves decreased by 1.3% to 9.6 million. The

beef and dairy herds remained largely unchanged at approximately 1.5 and 1.9

million animals, respectively.

• Total pig numbers decreased by 0.5% to 5.1 million.

• Sheep and lamb numbers decreased by 2.6% to 32.7 million.

• The total labour force on commercial holdings decreased by 0.8% to 472

thousand. [….]

(Agriculture in the United Kingdom 2020)

Richtig bergab ging die britische Obst- und Gemüseproduktion ab 2020, als sie wegen des Brexits dringend hätte hochgefahren werden müssen.

Aber dazu müssten sie genügend Mitarbeiter, insbesondere Pflücker haben. Genau die sind ihnen aber durch den Brexit abhandengekommen.

Ausgerechnet die Menschen in Kent, die am meisten von der EU abhängen, wollten dringend die EU verlassen, weil sie leider doof sind.

[….]  People in Kent have voted strongly in favour of leaving the European Union.

Over 970,000 people in the county cast a vote in the historic referendum, with 59% voting to leave and 41% to remain.

Tunbridge Wells was the county's only district that voted to stay in the EU, with 54.9% voting to remain and 45.1% to leave. Turnout there was 79%.

Local Conservative MP Greg Clark tweeted: "Now, as we negotiate with our European neighbours, we must show calm judgement and mutual respect."

Ashford, Canterbury, Dartford, Dover, Tonbridge and Malling, Gravesham, Maidstone, Medway, Sevenoaks, Shepway, Swale and Thanet all voted to leave, with Gravesham delivering the biggest vote at 65.4%. [….]

(BBC, 24.06.2016)

Vielen Dank an die britischen Konservativen; damit wurde der Grafschaft Kent das ökonomische Genick gebrochen. Dort wird nämlich längst nicht mehr nur Obst produziert, sondern beispielsweise auch die zu 85% aus der EU importierten Äpfel sortiert und verpackt.

[…]  Die Grafschaft Kent im Südosten Englands gilt als der Obstgarten Großbritanniens. Hier werden im Sommer Früchte aus eigenem Anbau geerntet und das ganze Jahr über Importprodukte aus wärmeren Gefilden verpackt. […]  Wie Landwirt Stephen Taylor (Winterwoods Farm) erklärt gibt es Probleme in der Lieferkette. Man gebe sein Bestes, um die Früchte in die Regale zu bekommen. Coh erst vor Kurzem musste er vier Tonnen spanische Himbeeren ïn den Müll werfen, weil die Supermärkte anderen Waren den Vorrang gaben. Seine große Sorge gilt jetzt der eigenen Ernte. Wer wird seine Früchte pflücken? "Wie es momentan aussieht, wird im Sommer Mangel an Erntehelfern herrschen. Die große Frage ist, ob sie kommen können. Wenn wir die Briten fragen, ob sie für Juni, Juli und August unterschreiben, sagen die meisten, dass sie hoffentlich in ihre frühere Beschäftigung zurückkehren werden und sich nicht auf diesen Zeitraum festlegen wollen. […]  Vergangenes Jahr war es der drohende Brexit, der den Obstbauern zusetzte. Zur Hochsaison fehlten bis zu fünfzig Pflücker pro Tag. Jetzt ist der Mangel noch größer. […]  ie Probleme wachsen schneller, als das Obst, sagt Euronews-Reporter Luke Hanrahan. "Britische Landwirte, die bereits mit Komplikationen infolge des Brexits kämpfen, müssen 90 Tausend saisonbedingte Arbeitsplätze besetzen. Und konkurrieren dabei mit Bauern aus ganz Europa. [….]

(Euronews, 24.04.2020)

Im Jahr 2021 war es soweit, daß sich auch die Londoner an leere Gemüseregale gewöhnten. Lieferketten waren zusammengebrochen, Importeure verzweifelten an Zollbestimmunen, britische Obstbauern fanden keine „picker“ und schon gar nicht gab es Lastwagenfahrer, um Waren zu transportieren.

[…] Die Momentaufnahme dieser Woche wiederholt sich seit Wochen allerorten auf der Insel: Tankstellen bleiben geschlossen, in Supermarkt-Regalen herrscht gähnende Leere. Die Fastfood-Kette Nando’s sah sich zur zeitweiligen Schließung von 45 Filialen gezwungen, weil das Hauptnahrungsmittel Hähnchenflügel nicht in ausreichenden Mengen zur Verfügung steht. Vergangene Woche machte McDonald’s Schlagzeilen: Wegen „vorübergehender Lieferprobleme“ muss die durstige Kundschaft bis auf weiteres auf ihre angestammten Milkshakes verzichten.

London – Wegen der andauernden Versorgungsschwierigkeiten schlagen jetzt Firmen und Lobbyverbände wie der Industrieverband CBI Alarm: Der Lagerbestand im Einzelhandel befindet sich auf dem niedrigsten Niveau seit fast vier Jahrzehnten. Sogar EU-feindliche Medien müssen einräumen: Der Brexit gehört zu den wichtigsten Gründen für die mittlerweile dramatischen Engpässe. „Das lässt sich nicht mehr als kurzzeitiges Problem abtun“, warnt Andrew Sentance von der Beratungsfirma Cambridge Econometrics. „Diese Situation könnte länger andauern als die Leute meinen.“  [….]

(FR, 21.08.2021)

Die Tory-Umweltministerin Therese Coffey empfiehlt stattdessen Rüben zu essen.

[….] Mit Verweis auf »Beschaffungsprobleme« bei Produkten aus Südspanien und Nordafrika hat die britische Supermarktkette Asda Kaufbeschränkungen angekündigt. »Wir haben ein vorübergehendes Limit von drei Stück pro Produkt bei einer sehr kleinen Anzahl von Obst- und Gemüsesorten eingeführt«, sagte ein Asda-Sprecher. Die Einschränkungen gelten für Tomaten, Paprika, Gurken, Kopfsalat, Salattüten, Brokkoli, Blumenkohl und Himbeeren. Asda hat in Großbritannien den drittgrößten Marktanteil, nach Tesco und Sainsbury’s. Auch diese Ketten sind vom Mangel an Tomaten infolge von Ernteausfällen in Südeuropa und Nordafrika betroffen. Lebensmittelhändler erklärten, dass sich die Situation durch eine geringere Winterproduktion in Gewächshäusern im Vereinigten Königreich und in den Niederlanden aufgrund hoher Energiekosten noch verschärft habe. [….]

(SPON, 21.02.2023)

Menschen, die nicht völlig ideologisch verblendet sind, könnten nun einwenden, daß es eine mindergute Strategie ist, den gemeinsamen Wirtschafts- und Zollraum EU zu verlassen und dann umso mehr einseitig auf Lebensmittelimporte aus der EU zu setzen.

Gerade eine nationale und konservative Regierung sollte doch in dieser Situation die heimischen Obst- und Gemüsebauern unterstützen – auch wenn ihr die damit verbundenen positiven Klimaeffekte nicht in den Kram passen.

Die Downing-Street-Genies Johnson/Truss/Sunak bringen aber das Gegenteil fertig. Mit ihnen kommt auch die britische Obstproduktion zum Erliegen. Apfelbauern in Kent reißen derzeit im großen Maßstab ihre Apfelbäume aus der Erde, um die Flächen brach zu legen.

[…]  Baum für Baum. Eine Apfelplantage in Großbritannien – und der Bauer reißt die Bäume raus. Trotz andauernder Probleme bei der Versorgung mit Obst und Gemüse im Land macht James Smith diese Plantage dicht.

James Smith, Obstbauer:

»Ich möchte eigentlich nicht alle meine Früchte loswerden, aber ich sehe einfach keine Möglichkeit, all die Herausforderungen des Anbaus, der Ernte und der Lagerung der Ernte zu bewältigen.«

Seit 1882 betreibt die Familie von Smith Apfelgärten in der Grafschaft Kent, im Südosten Englands. Obstanbau ist in der Region Tradition, weshalb sie auch »The Garden of England« genannt wird. Doch der Mix aus Inflation, Klimawandel und Brexit macht es für Bauern wie Smith immer schwerer. Bis zu 80 Prozent seiner Flächen kann er nicht mehr bestellen.

James Smith, Obstbauer:

»In den vergangenen 18 Monaten haben wir einen enormen Anstieg aller möglichen Kosten - seien es Zinsen, Strom, Lohn – erlebt. Gleichzeitig ist der Betrag, den wir von den Einzelhändlern für unser Obst erhalten, gesunken.«

Das Paradoxe: Zuletzt gab es in Großbritannien schon Engpässe beim Gemüse, jetzt wird auch das Obst knapp, warnen Bauern und Verbände. Das liegt daran, dass sich Großhandel und Supermärkte auf billigere Importe verlassen. Doch auch da steigen die Preise und seit dem Brexit reißen immer öfter die Lieferketten. Zu hoch seien die Kosten und der bürokratische Aufwand für die Importeure.

James Smith, Obstbauer:

»Es gibt absolut keine Loyalität von unseren Einzelhändlern oder der Regierung, um die heimische Lebensmittelproduktion hier im Vereinigten Königreich zu schützen.« [….]

(SPON, 11.04.2023)

Natürlich schmerzt es, bei diesem ökologischen Wahnsinn zuzusehen und James Smith tut mir Leid.

Aber wenn man, wie in Kent, mit fast 60% für „LEAVE THE EU“ stimmt, hat man sich die Suppe selbst eingebrockt.

Auch in GB sind die Menschen zu dumm für die Demokratie.

Doofe Wähler und eine noch doofere Tory-Regierung sind eine üble Mischung.

[…]  Laut British Apples & Pears Limited (BAPL) steht die Branche auf Messers Schneide. Äpfel werden auf den Feldern verrotten gelassen, während die britischen Supermärkte von Engpässen betroffen sind, die bis Mai andauern könnten.

Laut BAPL stiegen die Preise für Betriebsmittel – zu denen Ernte, Energie, Transport und Verpackung gehören – um 23 %, während die Beträge, die Supermärkte den Landwirten für ihre Produkte zahlen, im Jahresvergleich um 0,8 % gestiegen sind.

Robin Collingwood aus Tenterden ist ein Landwirt in vierter Generation, der sagte, sein Obstanbaugeschäft habe mit enormen finanziellen Verlusten zu kämpfen.

Er bezeichnete die Situation als „extrem katastrophal“. „Wir verbrauchen viel Strom für unsere Kühlhäuser, damit wir den ganzen Winter über Lebensmittel haben“, erklärte er. „Diese Zahl ist gegenüber dem Vorjahr um 300 % gestiegen, die Beschäftigung ist um 15 % gestiegen und wird voraussichtlich im April erneut steigen.“ […]

(BBC South East, 24. Februar 2023)