Obgleich ich den rotgrünen Hamburger Senat regelmäßig sehr lobe und Peter Tschentscher für einen ausgezeichneten Bürgermeister halte, falle ich gern in Lästerattacken ein, wenn es um die katastrophale kommunale Verkehrspolitik geht. Jeden Tag wird es unerfreulicher als Verkehrsteilnehmer auf Hamburgs Straßen unterwegs zu sein, weil eine nicht durchdachte Sinnlosmaßnahme die Nächste jagt. Da schimpft es sich trefflich über „die da oben“, über „die Politiker“, die als „Schreibtischtäter“ den Wählern überflüssigerweise das Leben schwer machen.
Lokale Verkehrspolitik ist deswegen so ein penetrantes Dauer-Ärgernis, weil man sich jeden Tag zwangsweise damit beschäftigen muss.
Zwangsweise ist man auch von der Coronapolitik betroffen, muss über das Pandemiegeschehen, Inzidenzwerte, Ausgangssperren, Maskenpflichten und Einschränkungen im Alltag Bescheid wissen.
Auch hier gibt es einige Maßnahmen, die unsinnig erscheinen, während andere zu lax gehandhabt werden.
In anderen Bundesländern, in anderen Städten kennt man das, aber nun gilt auch in Hamburg eine Sperrstunde.
Das zum Beispiel halte ich für recht unsinnig.
Feiernde und trinkende junge Erwachsene in Diskos und Bars
auf St. Pauli. Um 23.00 Uhr schließt der Wirt ab und dann? Gehen dann alle brav
allein nach Hause und haben keine für das Infektionsgeschehen relevanten Kontakte
mehr?
Das erscheint mir doch reichlich naiv. Die Leute werden dann das Bacchanal
entweder in ein „Cornern“ umwandeln oder aber in die privaten vier Wände eines
der Protagonisten wechseln. In beiden Fällen gibt es dann gar keine
Hygienekonzepte und Abstandsregeln mehr.
Wäre es nicht sicherer die Teens und Twens in den Kneipen zu lassen, nachdem die Wirte mit viel Aufwand hygienisch umgerüstet haben, Plexiglas-Trennungen aufgestellt, Desinfektionsmittel positioniert und penibel saubere Gläser haben?
Im Gegensatz zu den dämlichen Pop-Up-Bike-lanes (die ich schon wegen des anglifizierten Namens ablehne), schimpfe ich aber nicht über Corona-Konzepte.
Ich möchte mich keinesfalls mit Covidioten der verschiedenen Ausprägungen von Laschet/Lindner über Wendler, Naidoo, Trump, Berger bis hin zu Attila Hildmann gemein machen.
Außerdem möchte ich nicht in der Haut der verantwortlichen Politiker stecken, die ihre Entscheidungen der Not gehorchend schneller treffen müssen, als sie die Folgen analysieren können. Sie agieren auf einem Politikfeld, für das es keine Blaupause gibt, können nicht auf Erfahrungen zurückgreifen und werden mit jeder Maßnahme für einige viel zu radikal und für andere zu lasch wirken.
„Die Politiker“ müssen sich in der Tat auf „die Vernunft der Bürger“ stützen, weil man nicht das Verhalten jedes einzelnen der 82 Millionen Menschen in Deutschland kontrollieren kann. Zwangsweise auf Vernunft zu setzen in einem Land, das (wie die meisten anderen auch) über eine signifikante Masse unvernünftiger Menschen verfügt.
Wie soll verantwortungsvoller Umgang mit Hygienekonzepten in einem Schweinestall gelingen, wenn jede zweite Sau einen Aluhut trägt, AfD wählt, der Homöopathie anhängt, irgendwelchen Pädosex-freundlichen Sekten frönt, oder sich in einer von Reptiloiden und Illuminati kontrollierten „Deutschland GmbH“ wähnt?
Da muss im Kampf mit einem unbekannten und immer noch unberechenbaren Virus allerlei schief gehen.
Die Bürgermeister, Ministerpräsidenten und Bundesminister schone ich und lasse ihnen echte Flops wie Spahns Warn-App durchgehen.
Nicht verzeihen kann ich aber die verwaltungspolitischen Defizite, die durch standhaftes Ignorieren der offensichtlichen Verhältnisse entstehen.
Natürlich war es chaotisch und problematisch von eben auf jetzt im März 2020 sämtliche Schule zu schließend und alle Kinder auf Online-Unterricht umzustellen.
Aber wieso gibt es acht Monate später immer noch keine Idee wie man die Schüler mit Notebooks versorgt, in kaum einer Schule WLAN und noch nicht mal die Möglichkeit Klassenräume zu lüften, weil niemand dran dachte die Fenster gangbar zu machen.
Was haben die Kultusminister eigentlich während der Sommerferien getan; let alone Anja Karliczek?
Die deutschen Spitzenkliniken, die sich am Anfang um die schwersten Corona-Fälle kümmerten, die wie zum Beispiel das Hamburger UKE schwerste betroffene Patienten aus Frankreich und Italien aufnahmen, sind heute finanziell schwer gestraft, weil niemand in Spahns Gesundheitsministerium bisher einfiel, die Kosten zu übernehmen.
[….] Ausgerechnet die Krankenhäuser, die im Frühjahr viele Corona-Patienten behandelt haben, machen jetzt Verluste. [….][Im] Frühjahr 2020 [….] forderte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Kliniken auf, die Kapazitäten für Intensivmedizin hochzufahren - koste es, was es wolle, wie er sagte. Im Klinikum in Rosenheim brach die Bauwut aus. Anschlüsse für Sauerstoff, Druckluft und Vakuum wurden verlegt, Hygieneschleusen an Stationseingängen eingerichtet, die Zahl der Intensivbetten verdoppelt. Das Klinikum deckte sich mit Geräten und Schutzausrüstung ein, wie viele andere Krankenhäuser auch - mit den bekannten Folgen: Die Preise gingen weltweit durch die Decke. Atemmasken verteuerten sich um den Faktor 30 bis 40, Beatmungsgeräte waren Mangelware. "Wir haben gekauft, was wir kriegen konnten", sagt Deerberg. "Zu jedem Preis." Doch das ist Vergangenheit. Heute weiß er, dass die Monate des Kampfes gegen die Seuche nicht nur die Mitarbeiter an den Rand der Erschöpfung brachten, sondern auch den Klinikverbund in die roten Zahlen: 3,4 Millionen Euro fehlen Deerberg zum Jahresende. Bisher weigert sich der Bund, das Loch zu schließen. [….] RoMed-Geschäftsführer Deerberg rechnete Gesundheitsminister Spahn in einem Brief vor, welche Mehrkosten ihm durch die vielen Corona-Patienten entstanden sind: Er musste 125 zusätzliche Mitarbeiter einstellen, 179 Mitarbeiter in Intensivmedizin und Beatmung schulen und "persönliche Schutzausrüstung und Materialien zur Isolierung von Patienten mit Zusatzkosten von Mio. 3,4 €" anschaffen. So heißt es in einem Schreiben von Anfang Juni, das der Landrat und der Oberbürgermeister von Rosenheim unterzeichneten. Spahn bedankte sich drei Wochen später schriftlich für das "überdurchschnittliche Engagement Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter" und verwies darauf, dass jede Klinik für die Schutzausrüstung bei der Behandlung von Covid-19-Patienten "einen erhöhten Betrag von 100 Euro je Fall" abrechnen könne. Deerberg schüttelt den Kopf. 100 Euro je Fall - "ein Witz", sagt er. Das kosteten allein schon die FFP2-Schutzmasken der Mitarbeiter, die sie gemäß den Hygieneregeln des Robert-Koch-Instituts mehrmals täglich wechseln mussten. Außerdem erhalte er das Geld nur für bestätigte Covid-19-Patienten. Aber seine Mitarbeiter mussten auch die gut 800 Verdachtsfälle isolieren und in voller Schutzmontur untersuchen - dafür hat Deerberg keine Kompensation zu erwarten. [….]
Billionen für die Wirtschaft, neun Milliarden für die Lufthansa, 15 Milliarden für Werften, aber Deutschland kann nicht die Corona-bedingten Mehrkosten für Krankenhäuser übernehmen?
Ebenso absurd; bis heute sind die meisten Prämien für das schwer überarbeitete Pflege- und Klinikpersonal, die wochenlang allabendlich um 21.00 Uhr beklatscht worden, nicht geflossen. Die Klinikbetreiber drücken sich und Initiator Jens Spahn versagt.
(…..) Ein weiteres Beispiel ist Spahns großzügiges Versprechen vom Anfang der Corona-Krise, als sich tout Deutschland um 21.00 Uhr auf den Balkonen versammelte, um für das schwer schuftende Pflegepersonal zu applaudieren.
Statt nur warmer Worte sollten sie einen Gehaltsbonus von 2.500 Euro bekommen. Das kam gut an. Der Minister belohnt die derzeit beliebteste Berufsgruppe Deutschlands. So kletterte Spahn im Politranking ganz nach oben.
Unnötig zu erwähnen, daß auch der 2.500-Euro-Bonus sich ein halbes Jahr später als heiße Luft erwies. Spahn hatte sich nie um die Finanzierung der Maßnahme gekümmert. Bis heute ist kein Geld geflossen.
[…..] Das Klatschen ist längst verhallt, mehr als eine Erinnerung an den Fenster-Beifall tausender Menschen ist den Corona-Helden in den Krankenhäusern nicht geblieben. Im Gegensatz zu Altenpflegern haben Krankenpfleger nämlich noch immer keine Bonus-Zahlung erhalten. Das ist auch in Hamburg der Fall. Rund 25.000 Krankenpfleger haben in unserer Stadt bislang keinen Cent für ihren Corona-Einsatz gesehen, schätzt die Gewerkschaft „verdi“. Ein Trauerspiel, heißt es dazu. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte den Beschäftigten in den Kliniken eine Sonderzahlung in Aussicht gestellt – gehandelt wurde bislang nicht. […..] „Wir haben alle Arbeitgeber dazu aufgefordert, die Zahlungen zu leisten“, sagt Hilke Stein, Landes-Fachbereichsleiterin Gesundheit von „verdi“. […..] Doch anstatt dass die Vergütung erfolgt, würden Arbeitgeber argumentieren, dass die Beschäftigten froh sein sollen, dass sie in diesen schwierigen Zeiten noch einen Job hätten, sagt sie. […..]
Andere Gesundheitsminister sind nicht solche Versager.
Die damals noch amtierende SPD-Gesundheitssenatorin Prüfer-Storks hatte im Mai 2020 den ebenfalls rund 25.000 Beschäftigten in der ambulanten und stationären Altenpflege eine 1.500 Euro-Sonderzahlung versprochen.
Anders als Spahn kümmerte sie sich aber gleich auch um die Finanzierung (8,2 Millionen Euro aus dem Hamburger Etat, den Rest übernahmen die Pflegekassen) gekümmert.
Die Boni in der Altenpflege sind inzwischen ausgezahlt.
Um die Krankenpfleger nicht Spahns Unfähigkeit ausbaden zu lassen, kündigte inzwischen die neue Gesundheitssenatorin und Hamburger SPD-Landeschefin Leonhard an, sich um die Zahlungen zu kümmern. (…..)
(Impudenz des Monats August 2020)
Viel weiter sind wir Ende Oktober nicht.
Immer noch winden sich die Klinikbetreiber und Kassen um die Zahlungen.
[…..] Streik in Hamburg: Was ist eigentlich mit dem Corona-Bonus? Besonders verärgert ist der 42-Jährige aus Alsterdorf über den Corona-Bonus. „Den gab es erst nur für Altenpflege-Kräfte. Jetzt wurde ein Vorschlag gemacht, auch Pflegekräften im Krankenhaus etwas zu zahlen. Aber dieser soll nicht an alle gehen, sondern nur an ausgewählte Krankenhäuser.“ Welche genau, würde nach Anzahl der Corona-Patienten entschieden. Außerdem würden nicht alle Pflegekräfte davon profitieren, sondern nur diejenigen, die direkt am Bett der Patienten arbeiteten.
„Das ist ein riesengroßer Schwindel“, sagt Lienow. „Alle Kollegen, auch diejenigen in der Reinigung, im Transport und beim Röntgen, sollten den Bonus bekommen!“ Die Stimmung innerhalb der Belegschaft beschreibt er als streik- und auch streitwillig. „Die Kollegen fühlen sich langsam veralbert und nicht wertgeschätzt“, stellt er klar. […..]
(Annalena Barnickel, 20.10.2020)
Die Klinikbeschäftigten bis heute hängen zu lassen kann man nicht mit dem unberechenbaren Virus erklären, sondern nur mit mangelnden Fähigkeiten der Jens Spahns.