»Putin ist kriminell sozialisiert und kennt keine
anderen Mittel als zu lügen, zu fälschen, zu erpressen«
Herta Müller, drei Wochen vor dem russischen Angriff auf die Ukraine.
Wie andere Leute es hinbekommen, all das zu lesen, was sie lesen wollen, ist mir ein Rätsel.
Ich bin ständig in Verzug und scheitere an den immer höher werdenden Stapeln.
Heute konnte ich ein wenig abarbeiten und drang in eine Zeitungssphäre aus dem Januar 2022 vor. Einige Themen haben sich wenig geändert in den anderthalb Jahren. Missbrauchs-Skandale in der katholischen Kirche, freidrehende Querdenker, Immobiliendämmung, Heizungen, Radikalisierung von AfD und Maaßen, Umgang mit China und Totalversagen Stark-Watzingers.
Andere Themen sind hoffnungslos überholt. Die ewige Regentschaft Queen Elisabeth II., das abschätzige Lachen über Prince Charles, der wohl nie König werde und dann natürlich die Ukraine-Russland-Krise.
Damals war es surreal zu beobachten, daß Putin offensichtlich Truppen an der russischen Westgrenze zur Ukraine zusammen zog. Die Krim hatte er bereits acht Jahr zuvor geschluckt und im Donbass sprachen ebenfalls schon die Waffen.
Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj war noch ein jugendlich wirkender, gut rasierter Mann im Anzug, der sich demonstrativ nicht nervös machen ließ. Er blicke voller Gelassenheit auf Russland, ließ er wissen.
Westeuropäische Spitzenpolitiker gaben sich in Moskau die Klinke in die Hand; schließlich könne man doch alles besser auf dem Verhandlungsweg regeln. Anders ginge es ohnehin nicht, da insbesondere die deutsche Wirtschaft seit 20 Jahren am billig und zuverlässig durch russische Pipelines anströmenden Erdgas hing.
Annalena Baerbock, frisch gekürte Außenministerin, war wirklich nicht zu beneiden. Nach diversen kleinen Schwindeleien und reichlich Pannen als Kanzlerkandidatin im Wahlkampf, war ihre Autorität schwer angeschlagen. Nun sollte sie den mächtigen und gerissenen Wladimir Putin zur Raison bringen.
Am 27.01.2022, sieben Wochen nach ihrer Ernennung, veröffentlichte das Auswärtige Amt ein FUNKE-Interview auf seiner offiziellen Website, welches mit dem Baerbock-Motto „Wer redet, schießt nicht“ überschrieben wurde.
Es schien ein kluger Schachzug zu sein. Die Außenministerin schlug hier mehrere Fliegen mit einer Klappe. Einerseits entsprach die damit dem tiefsitzenden Widerwillen der Deutschen gegen Waffenlieferungen oder gar Kampfeinsätze. Anderseits knüpfte sie an den immer noch populären, ewigen Außenminister Hans-Dietrich Genscher an. So demonstrierte sie Kontinuität und versuchte von der Autorität und Kompetenz des Mannes im gelben Pullunder zu profitieren. Schließlich war es auch ein freundliches Signal an den Koalitionspartner FDP, die langjährige Zeit der FDP-Außenminister zu würdigen.
[….] "Solange man miteinander redet, schießt man nicht aufeinander" – das Bonmot Hans-Dietrich Genschers ließe sich der europäischen Entspannungspolitik seit den späten 1960er Jahren als Motto voranstellen. Tatsächlich war Kommunikation über die Blockgrenzen hinweg der Schlüssel zu einer Sicherheitsordnung in Europa, deren Bestand auch dann nicht in Frage gestellt wurde, als sich die Beziehungen zwischen den beiden Supermächten ab Ende der 1970er Jahre wieder verschlechterten. [….]
(Berlin Center for cold war studies, 2017)
Ein beliebtes Motto, auf dem basierend die erste Frau an der Spitze des Berliner Außenamtes, ihre Russland-Politik erklärte.
[….] Funke: Für wie gefährlich halten Sie den Konflikt zwischen der Ukraine und Russland, in dem ja auch die Nato eine Rolle spielt?
BAERBOCK: [….] Und genau deshalb habe ich mich von der ersten Minute meiner Amtszeit dafür eingesetzt, dass wir einen Kurs von Dialog, aber auch Härte mit Blick auf den russischen Truppenaufmarsch fahren.
Funke: Droht im gegenwärtigen Konflikt ein Krieg, der über die Ukraine und Russland hinausgehen könnte?
BAERBOCK: Wenn man das Schlimmste verhindern will, sollte man nicht das Schlimmste herbeireden. Daher ist es mir wichtig, alle Kanäle für Dialog zu nutzen. Jahrelang gab es keinerlei Austausch zwischen Russland und der Nato darüber, wie man gemeinsam für mehr Sicherheit sorgen kann. Nun haben wir als Bündnis gegenüber der russischen Regierung signalisiert: keinen Schritt weiter. Und es öffnet sich gerade ein kleines Fenster für Gespräche. Genau dieses müssen wir nutzen. [….] Wir haben in den letzten Jahren von der russischen Regierung gemischte Signale erhalten: auf der einen Seite Bestrebungen, zu einer alten geostrategischen Rolle zurückzukehren - auch mit Androhung von Gewalt wie zu Zeiten des Kalten Kriegs. Auf der anderen Seite gibt es aber auch ein großes Interesse an verstärkter Zusammenarbeit in der russischen Wirtschaft. Beides geht aber nicht zusammen. Grundlage jeder Zusammenarbeit sind für mich das internationale Recht, insbesondere die gemeinsamen Vereinbarungen über Sicherheit. Das habe ich bei meinem Besuch in Moskau mehr als deutlich gemacht. [….] [….] Mit Frankreich leisten wir als Vermittler im Rahmen des Normandie-Formats – dem einzigen Ort, wo Ukraine und Russland zurzeit an einem Tisch sitzen - einen wesentlichen Beitrag zur Sicherheit der Ukraine. In der Nato arbeiten wir daran, dass im Nato-Russland-Rat endlich wieder gesprochen wird, auch um wieder Schritte zur Abrüstung zu vereinbaren. [….][….] Das Normandie-Format ist einer der Gesprächskanäle, um die es jetzt geht, weil es Schritt für Schritt mehr Sicherheit brächte. Russland hatte sich lange geweigert, überhaupt in den Dialog zu treten. Ja, deswegen ist es ein gutes Signal, dass man sich nun wieder an einen Tisch setzt. Durchbrüche innerhalb weniger Tage sollten wir nicht erwarten. Aber wer redet, schießt nicht. Daher ist es fatal, die Wiederaufnahme von Dialog abzutun. [….]
16 Monate später klingen Baerbocks Sätze völlig aus der
Zeit gefallen.
es wäre billig, ihr diese Irrtümer vorzuwerfen. So viele Europäische Politiker
hatten sich in ihrer Russland-Politik fundamental geirrt. Auch ich befinde mich
mit meinen Irrtümern in bester Gesellschaft echter
Militärexperten. A posteriori ist man immer schlauer.
Man musste sich allerdings nicht irren. Im Nachhinein sehen wir nämlich auch, wie unser Wunschdenken die Sicht auf Russland prägte. Putin hingegen machte erstaunlich klare Ansagen. Man hätte wirklich ahnen können, was sich zusammenbraut. Man staunt hinterher, wie leicht es Putin gelang nach der Krim-Annexion Merkel in Minsk auszumanövrieren. Sie erkaufte sich Zeit und Ruhe, dafür konnte Russland gründlich aufrüsten und sich auf die Invasion vorbereiten.
Anders als vor dem US-Angriff auf den Irak 2003, als man jeden Tag in der Zeitung lesen und in den Nachrichten hören konnte, wie Experten und Politiker der meisten Parteien (außer der CDUCSU) genau das Desaster prognostizierten, das später auch eintrat, waren die Stimmen der Weisen vor Beginn des Ukraine-Krieges weniger zu hören und deutlich unpopulärer.
Aber es gab sie. Die von mir hoch- und höchstgeschätzte Hertha Müller sprach es am 05.02.2022 im Nobelpreisträgerinnen-Doppelinterview mit Swetlana Alexijewitsch aus.
[….] Müller: Glaubst du wirklich, Swetlana, dass er all die Truppen aufmarschieren lässt, nur um so etwas zu erreichen? Was sollte ihn denn hindern einzumarschieren? Er hat es ja auch 2014 schon auf der Krim probiert, und es hat geklappt. Er hat die Krim völkerrechtswidrig annektiert. Er hat einen Teil des Donbass faktisch besetzt, ohne Putin gäbe es die Separatisten doch gar nicht. Er hat die Ukraine zerstückelt. Alle reden jetzt immer von der »Krise«. Was für eine Krise? Wir haben doch längst Krieg in der Ukraine. Seit acht Jahren!
[….] SPIEGEL: Ist es angemessen, Putin einen Diktator zu nennen?
Müller: Was soll er denn sonst sein? Er schickt Oppositionelle ins Gefängnis oder ins Lager. Stalins Lagersystem wirkt in Russland bis heute. [….]
SPIEGEL: Nazideutschland hat fürchterliches Leid über die Länder des Ostens gebracht. Können Sie verstehen, warum die deutsche Regierung auf Diplomatie setzt und keine Waffen in die Ukraine schicken möchte?
Müller: Das ist doch eine Ausrede, mit der man jetzt nicht kommen sollte. Was haben wir denn in den Neunzigerjahren in Ex-Jugoslawien gemacht, aus guten Gründen? Wir haben militärisch ausgeholfen. Gerade die Deutschen mit ihrer Geschichte müssen der Ukraine helfen. Was wollen die deutschen Politiker jetzt der Ukraine schicken? Helme? Das ist doch eine Blamage vor der ganzen Welt! Wollen sie vielleicht als Nächstes Fencheltee schicken? (Müller zeigt auf die Packung auf dem Tisch). Oder Särge für die gefallenen ukrainischen Soldaten?
SPIEGEL: Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock sagt: »Wer redet, schießt nicht.« So begründet sie die Entscheidung der Regierung, auf Diplomatie zu setzen.
Müller: Was für ein dummer, abgenutzter Satz. Geredet wird immer, auch wenn geschossen wird. Es ist schrecklich, wie sich unsere Politiker jetzt äußern. [….]
(DER SPIEGEL, 05.02.2023)
Heute bin ich selbst darüber erschrocken, nicht viel früher über die offensichtliche Dummerhaftigkleit des Baerbock-Satzes Wer redet, schießt nicht gestolpert zu sein.