Mittwoch, 27. November 2024

Andere Zeiten

Als Teenager fühlte ich mich stets sehr erwachsen, aber in meinen 20ern und 30ern fragte ich mich heimlich, wann dieser Zustand des „Erwachsenseins“ eigentlich wirklich eintritt. Eine überzeugende Definition kenne ich, während mein nächster runder Geburtstag die „60“ sein wird, immer noch nicht. Aber ich fühle immer wieder indirekte Hinweise, daß ich wohl erwachsen sein muss, wenn ich beobachte wie Gewissheiten meines Lebens, bei heute Jungen nicht mehr zutreffen.

Als Teenager lebten meine Freunde und ich vergleichsweise selbstständig. Man war dauernd irgendwo und da es bekanntlich keine Mobiltelefone gab, teilte man auch nicht permanent öffentlich mit, wo man sich gerade befand. Weder beeinflussten Influencer/Likes was man anzog, oder wie man sich die Haare „stylte“, noch fungierten die Eltern als Taxis. Dabei strebten wir alle danach möglichst schnell noch unabhängiger zu werden. Das Elternhaus ließ das entweder zu oder aber man nutzte den 18. Geburtstag als Kickstart. Bevor ich 19 wurde, machte ich Abitur, begann ein Studium, bekam den Führerschein, eine eigene Wohnung und auch mein erstes Auto.

Passend zu meinen US-amerikanischen und deutschen Wurzeln, wurde mir das Auto als sichtbares Zeichen meiner Selbstständigkeit, tatsächlich von der Familie geschenkt. Ein Neuwagen, der mit Schleife und Blumenstrauß auf dem Lenkrad geliefert wurde. Alexey! Ein schwarzer FIAT Panda mit 0,7 Liter Hubraum, 34 PS, einem Scheibenwischer, einem Außenspiegel und dem größten Fahrspaß meines Lebens. Er kostete 9.800 DM, also knapp 5.000 Euro. Das war der Neupreis und ich fühlte mich durchaus privilegiert, ein jungfräuliches Modell frisch aus der Fabrik zu fahren.

Später, als mein jüngerer Bruder 18 wurde, der allerdings deutlich weniger erfolgreich in der Schule war, bekam er zwar einen größeren, schwereren und kräftigeren Wagen – einen Toyota – aber der war auch schon durch einige Hände gegangen.

Ich hatte für andere Autos gar keine Augen. Meins war schließlich das Schönste und außerdem so flott. Im Fahrzeugschein war zwar 120 km/h als Höchstgeschwindigkeit angegeben, aber was wußten die schon?
Auf der Autobahn, mit Rückenwind und leicht abschüssiger Fahrbahn konnte ich an die 140 km/h erreichen. Die Trabbis und Wartburgs auf der Transitstrecke nach Berlin verheizte ich locker, raste an ihnen vorbei, während ich johlend genoss von Windböen hin und her geschleudert zu werden. Gern hörte ich dabei Musik aus einem alten batteriebetriebenen Cassettenrekorder, der in dieser beigen Stofffalte vor dem Beifahrersitz, die als Ablage fungierte, hin und her rutschte.

Meistens hielten die Batterien nicht sehr lange. Wenn man die Grenze Berlin-Reinickendorf passierte, leierten The Cure und B-52s schon bedenklich.

Mein zweites Auto, Nikolai, war wieder ein schwarzer FIAT und wieder ein Neuwagen. Diesmal bezahlte ich ihn aber selbst, hatte gespart und legte unglaubliche 7.300 Euro auf den Tisch. Der Uno, Sondermodell Hobby, war allerdings auch schon ein ganz anderes Kaliber. Er hatte einen rechten Außenspiegel, ein geschlossenes Handschuhfach, ein kleines Dachfenster, unfassbarerweise sogar ein eingebautes Autoradio und konnte mit seinen sagenhaften 70PS raketenartige Geschwindigkeit erreichen. Autoradio mit zwei Boxen links und rechts in den Türen boten ein völlig neues Klangerlebnis. Nun konnte man sogar die Texte der Songs verstehen. Der Clou war aber, daß es von der Autobatterie gespeist wurde. Nun durfte ich plötzlich meine Musik-Cassetten sogar IM Auto vor und zurückspulen. Das galt es vorher mit „Tiny“, dem Küchen-Cassettenradio mit der abgebrochenen Antenne, in der ein Stück Kleiderbügel steckte, stets zu vermeiden, weil damit zu viel Batterie verbraucht wurde.

Mein drittes Auto blieb zwar schwarz, italienisch und war ebenfalls ein Neuwagen, aber ich wechselte die Marke und vollzog einen Quantensprung bei Preis und Leistung.

Es kostete mehr als 21.000 Euro. „Das sind vier Alexeys!“ stellte ich völlig schockiert fest. Ein Auto, das so viel wie vier Autos kostet. Von dem Wahnsinn galt es sich erst mal zu erholen. Es war außerdem die bis dahin teuerste Anschaffung meines Lebens. Ich wußte gar nicht, wie man eine derart astronomische Summe bezahlt. Bar? Per Scheck? So viel ließ mein Überweisungslimit meines Girokontos nicht zu.

Allerdings hatte ich, mittlerweile im Gerontenalter angekommen, auch andere Maßstäbe angesetzt. Ich wollte ein Auto, das ich wirklich hübsch finde. Ein überzeugendes Design, das heraussticht und das man nicht überall sieht. Das aber gleichzeitig auch funktional ist. Vier Leute sollten reinpassen. Eigentlich liebte ich den FIAT-Barchetta meiner Mutter. Schwarz mit einem Hardtop. Ein echtes Schmuckstück, das enormen Fahrspaß bot. Aber eben auch ein Zweisitzer mit kleinem Gepäckraum. Das brachte einen beim Einkaufen schon an gewisse Grenzen. Darin konnte man kein Altglas und Altpapier zwischenlagern.

Bei den ersten drei Autos meines Lebens gab es noch keine Frage der Antriebsart.

Die Kriterien waren einerseits selbstverständlich der Preis und natürlich der persönliche Geschmack. Sofern es die finanziellen Möglichkeiten zuließen, seinen ästhetischen Vorstellungen zu folgen, konnte man Autobauer meiden, die hohe Summen an CDUCSUFDP spenden, häßliche Kreischfarben umschiffen und eine ansprechende Form und Größe finden.

Weiter bin ich noch nicht gekommen. Fast vierzig Jahre nach einem Führerscheinerwerb, fahre ich immer noch mein drittes Auto. Mehr als vier werde ich wohl in meinem ganzen Leben nicht schaffen. Wenn überhaupt.

Müsste ich heute ein neues Auto kaufen, stellen sich ganz andere Probleme. Die erste Frage ist die des umweltfreundlichen, nachhaltigen Antriebes, die aber nicht von meiner Nachfrage, sondern dem limitierten Angebot abhängig ist. Das zweite Problem, sind die astronomischen Preise. Ein neues E-Model kostet inzwischen ZEHN Alexeys. Abgesehen davon, daß man das Geld erst mal haben muss, bereitet es mir grundsätzlich Bauchschmerzen, für ein Ding, das mich genau wie Alexy von A nach B bringt, den zehnfachen Preis zu zahlen. Weiterhin scheiden viele Hersteller aus. Ich werde keinesfalls Myriaden zahlen, die in der Tasche von Trump-Liebchen Elon Musk, Lindner-Liebchen Oliver Blume oder Merz-Liebchen Susanne Klatten landen.

Ich müsste einen Neuwagen schon extrem lieben, um über meine finanziellen und politischen Schatten zu springen.

Hier liegt aber eins der weiteren Auto-Probleme. Die Blumes dieser Welt produzieren vollständig an meinem Geschmack vorbei. 

Alle Neuwagen der 2020er Jahre sind von blinden und blöden Designern entwickelt worden. Sie sehen völlig einheitlich aus. Alles SUVs. Sogar die Klein- und Mittelwagenklasse sieht aus wie kleine SUVs. Grauenvoll. Es ist wohl die angebotsorientierte Marktwirtschaft, von der Merz und Lindner faseln. Nur daß die „Leistungsträger“, die Unternehmer an der Spitze, zu dumm sind, um zu wissen, was gefällt und was in die Zeit passt.

[….] Dafür gibt es einen Autofriedhof. In Essen. Im Norden der Stadt. Gelegen zwischen Stadthafen und Autobahnkreuz. Mit Blick auf das vom Areal der Logistikfirma per Drohne aufgenommene Foto in wagnerianischer Todessehnsucht muss man sagen: Was für ein grandios schreckliches Sterben!

Zu sehen ist Blech. Blech. Und Blech. Gibt es ein grausam stimmigeres Bild, um das Elend der deutschen Kfz-Branche zu illustrieren? Oder wie Bild titelt: „Hier parkt die deutsche Autokrise“. Wagentür an Wagentür, Stoßfänger an Stoßfänger, Audi an Audi und Volkswagen an Volkswagen. Wahnsinn an Irrsinn. [….] Die Autos wirken, als warteten sie geduldig auf den Tod. Das Bild passt zu den täglichen Horrornachrichten aus einer Welt von Transformation und Disruption. Recaro, ein Hersteller von Autositzen: Insolvenzantrag. Bosch als Autozulieferer: Personalabbau. Der Batteriehersteller Northvolt: Insolvenzantrag. Schaeffler, ZF, Conti oder Volkswagen, BMW, Mercedes, Audi: „Das Auto“ (aus der VW-Kampagne) befindet sich als Kulturgut im freien Fall. Die Krise ist dramatisch.

Zum Teil ist das selbstverschuldet (falsche Modelle, falsche Preise), [….] Und ist es eigentlich ein Naturgesetz, dass es deutsche Autos nur noch in den Kategorien „superteuer“ und (nicht: oder) „superhässlich“ gibt? [….]

(Gerhard Matzig, 26.11.2024)