Freitag, 30. April 2021

Ich sage JA zum Iran

Was soll man schon machen, wenn das eigene Land zufällig mitten im größten Pulverfass der Erde liegt, man von direkten Nachbarn angegriffen wurde, man darüber hinaus massiv von zwei weiter entfernteren Atommächten bedroht, sowie immer wieder durch Luftschläge attackiert wird?

Auf die Idee, sich selbst Atomwaffen zu beschaffen, würde in der Situation auch der friedlichste Perser kommen.

(…..) Auch Biden scheint dem Irrglauben zu erliegen, die USA hätten das Recht andere Nationen maximal unter Druck zu setzen, dabei wissen wir gerade aus dem Iran, daß die brutalen Sanktionen aus Washington die Mullah-Regierung sogar stabilisierten.

Ich hingegen halte es grundsätzlich für problematisch, wenn Nationen, die selbst ganz selbstverständlich Kernwaffen produzieren und testen – Frankreich, GB und USA – anderen Nationen mit dem Zeigefinger vor der Nase herumfuchteln und ihnen Atombomben verbieten.

Was ich darf, darfst du noch lange nicht?

Außerdem ist es aus sicherheitspolitischen Überlegungen absolut verständlich, daß Teheran Atombomben anstrebt.   Der Iran wurde immer wieder mit westlicher Unterstützung militärisch angegriffen. Die USA lieferte dem Irak Waffen und Zielkoordinaten für den Angriff auf den Iran 1980. Der achtjährige Krieg kostete 500.000 bis 1.000.000 Iraner das Leben.   Die USA flogen 1980 und 1988 direkte Militärschläge gegen den Iran, griffen immer wieder Iranische Anlagen an und töteten einzelne Iraner.

Der prominenteste Fall war die Ermordung des iranischen Volkshelden und Generalmajors Kassem Soleimani im Januar 2020 durch das US-Militär.    Anschließend zeterte Trump los, er werde 52 weitere Ziele im Iran angreifen.

[….] Auf Twitter richtete Trump äußerst konfrontative Worte an die Islamische Republik, der er dringend von Vergeltungsakten abriet: Die für Iran und dessen Kultur teils sehr bedeutsamen Orte auf der Liste würden sonst "sehr schnell und sehr hart angegriffen", schrieb er in Großbuchstaben - ebenso wie das Wort "Warnung". Seine Tweet-Serie schloss Trump mit den Worten: "Die USA haben genug von Drohungen!" […..]

(SZ, 05.02.2020)

Die „Schurkenstaaten“, die sich gegen den Willen der USA tatsächlich Atomwaffen beschafft haben; Pakistan und Nord-Korea; sind hingegen nicht nur vollkommen sicher vor US-Angriffen, sondern werden als Partner auf Augenhöhe behandelt.

Iran hat bei seinen beiden großen Nachbarn – dem Irak und Afghanistan – erlebt, wie es einer Nation im Clinch mit den USA ergeht, wenn sie keine Atomwaffen haben. Beide wurden in die Steinzeit gebombt, haben Millionen Tote zu beklagen. (…..)

(Nicht so schreckliche Schreckensszenarien, 06.03.2021)

Im bekannten Iran-Atomvertrag von 2015, (Joint Comprehensive Plan of Action, JCPOA), dem ganz wichtigen außenpolitischen Werk der Obama-Kerry-Regierung ging es darum, dem Iran jede Nutzung der Atomkraft zu verbieten.

Warum ein 85-Millionenvolk auf gar keinen Fall das darf, was ein 8-Millionenvolk in der Nähe ganz selbstverständlich tut und vom Rest der Welt akzeptiert wird, ist völkerrechtlich nicht zu erklären.

Dennoch hielt sich der Iran bekanntlich peinlich genau an die Bestimmungen des Atomvertrages. Er kooperierte mit den internationalen Kontrolleuren und die JCPOA-Vertragspartner USA, EU und UN attestierten Teheran dies wohlwollend.

Im Gegenzug sollte wieder der Handel stattfinden.

Dann kam allerdings ein vollkommen fanatischer irrer Vollidiot an die Macht – in den USA. Trump kündigte im Mai 2018 zum Entsetzen Europas, Russlands und Chinas einseitig den JCPOA, verhängte brutale Sanktionen nicht  nur gegen den Iran, sondern drohte sie auch allen Ländern an, die vertragstreu mit dem Iran Handelsbeziehungen begannen.    Die Europäer fügten sich dem illegalen Vertragsbrecher und Erpresser USA und standen nicht zu dem vertragstreuen Iran.

Washington ist zu mächtig, um zu widersprechen.    Die Sanktionen, der Ausschluss von Öl-Geschäften, das Handelsverbot und Corona sind eine brutale Mischung für Teheran.

Dort tobt die vierte Welle, das ganz große Sterben ist in vollem Gange.

[….] Die Arbeiter schichten graue Betonziegel übereinander zu einem Schachbrett aus Rechtecken, mehr als zwei Meter hoch. Es sind neue Gräber auf Irans größtem Friedhof Behescht-e Sarah am Rand der Hauptstadt Teheran. [….] Jetzt kommen jeden Tag mehr Tote hier an als während der schlimmsten Schlachten gegen Saddam Hussein.  Said Khal, der Direktor des Friedhofs, sagte jüngst im Staatsfernsehen, dass jeden Tag bis zu 350 Verstorbene zu bestatten seien. Mehr als 150 von ihnen seien an einer Covid-Infektion gestorben. Es seien "die härtesten und traurigsten Tage" in der 50-jährigen Geschichte des Friedhofs. In aller Eile wird eine neue Leichenhalle errichtet.   Iran befindet sich mitten in der vierten Corona-Welle, und es ist mit Abstand die schlimmste. Gesundheitsminister Said Namaki warnte bereits vor Wochen vor einer "Welle des Todes". [….] Der Große Basar von Teheran, noch immer das pulsierende Herz der Hauptstadt, hat die dritte Woche in Folge geschlossen - auch das gab es nicht einmal im Golfkrieg der Achtzigerjahre. Moscheen und Restaurants sind auch im laufenden Fastenmonat Ramadan dicht, es gibt Beschränkungen für die Nutzung privater Autos und für Reisen zwischen den Provinzen. [….] Die Sanktionen aber hindern Iran auch daran, die Pandemie wirkungsvoll zu bekämpfen. Obwohl es Ausnahmen für humanitäre Güter gibt, findet die Regierung kaum Banken, die bereit sind, Transaktionen für den Kauf von Beatmungsgeräten, Medikamenten, Schutzausrüstung oder dringend benötigten Impfstoff abzuwickeln. Gerade einmal 700 000 Impfdosen hat Iran erhalten, mit denen vor allem das Personal im Gesundheitswesen immunisiert wird. [….] "Die Sanktionen schaden nicht nur der iranischen Wirtschaft, sondern auch dem Recht der Iraner auf Gesundheit, indem sie den Zugang zu lebensrettenden Medikamenten einschränken", sagte Mahmoud Farazandeh, Irans Botschafter in Berlin, der Süddeutschen Zeitung. Leider hielten sich die europäischen Länder "an die ungerechten amerikanischen Regeln und verweigern die Zusammenarbeit mit Iran sogar auf dem Gebiet der Medizin".[….]

(Süddeutsche Zeitung, 30.04.2021)

Natürlich halte ich islamische Theokratien nicht für sympathische Staatsform.

Aber „Religionsfreiheit“ ist doch einer dieser wichtigen Werte des Westens. Saudi Arabien, der Liebling der USA legt die Scharia noch strenger und brutaler als der Iran aus. Im Iran dürfen Transgender-Männer sich legal operieren lassen, 50 % der Frauen studieren.  Davon ist Riad weit entfernt. Das muslimische Pakistan ist sogar Atommacht, ohne daß es irgendjemand in den USA stört. Der größte muslimische Staat der Erde, Indonesien, ist geschätztes Urlaubsland und Handelspartner, die muslimische Türkei ist NATO-Mitglied. In den absoluten Golfmonarchien ist von Religionsfreiheit keine Rede. Das sind streng muslimische Staaten, die aber von westlichen Investoren umschmeichelt werden, während ihren Stränden gerammelt voll sind mit großbusigen kaum bekleideten europäischen Influencerinnen.

 In Washington regiert nun Biden.  Was ist bloß los mit der europäischen Außenpolitik, daß wir nicht endlich dem Iran inmitten einer Pandemie mit dringend benötigten medizinischen Hilfsmitteln zur Seite stehen?