Das war vermutlich eine Überraschung, als meine Oma in der Nazi-Zeit mit 41 Jahren erneut schwanger wurde. Sie hatte schon vier Kinder und Opa war sogar fast 50, als meine Mutter geboren wurde. In meiner Familie lässt man sich Zeit mit der Vermehrung. Der Vater meiner Oma, also mein Uropa, war Jahrgang 1846 und starb mehr als 60 Jahre vor meiner Geburt. Drei meiner vier Großeltern waren schon vor meiner Geburt tot; nur eine Oma, MEINE Oma, kannte ich.
Insofern hat es mich immer fasziniert, wenn meine Freunde von dem Verhältnis zu ihren Omen und Open erzählten, gar ihre Urgroßeltern kannten. Für mich war das lange vergangene Historie.
Es fasziniert mich heute, wie andere ihre Familiengeschichte „aufarbeiten“ und drei Generationen nach dem Holocaust, endlich ohne rosa Brille darauf gucken, was ihre Familie eigentlich unter Hitler tat. Oder nicht tat.
Bei mir kommt erschwerend hinzu, daß meine Mutter in ihren Twen-Jahren nach vielen ausgiebigen Reisen, beschloss auszuwandern, weil ihr das spießige Nachkriegsdeutschland viel zu eng wurde. Opa wurden anonyme Anzeigen von der Polizei zugestellt. Man habe seine Tochter in der Stadt am Jungfernstieg mit einem so kurzen Rock gesehen, der nicht einmal die Knie verhüllte. Ein anderes Mal soll sie dabei gesehen worden sein, als sie in der Öffentlichkeit in einem Lokal mit einem unbekannten Mann Alkohol trank. Mein Opa solle sich schämen.
In ihrer neuen Heimat New York gab es die Probleme selbstverständlich nicht. Meine Mutter konnte arbeiten gehen, allein eine Wohnung nehmen, ohne ihren älteren Bruder oder Vater um Erlaubnis zu fragen, ein Bankkonto eröffnen zu dürfen. Niemand scherte sich darum. In den USA lernte sie meinen späteren Vater kennen, so daß die Hälfte meiner Vorfahren US-amerikanisch ist und somit erst Recht nicht dazu taugt, zu erforschen, wie sich die eigene Familie im Nationalsozialismus verhalten hatte.
Natürlich kenne ich aber die grundsätzliche Daten der Familie mütterlicherseits.
Opa war im Ersten Weltkrieg Soldat in Frankreich. Für den WK-II also glücklicherweise zunächst zu alt. Außerdem war er als Uhrmacher in der Herstellung von Schiffschronometern beschäftigt. Das war eine „kriegswichtige Tätigkeit“, für die man von der Wehrmacht freigestellt wurde.
Noch mal Glück gehabt. Zumal es nichts Fieses war, das er baute. Keine Waffen, keine Chemikalien, bloß Uhren. Sein ältester Sohn war schon als Kleinkind in den Wirren nach dem WK-I gestorben, weil Oma keine Medikamente für ihn bekommen konnte. Seine Töchter hatte das Glück Mädchen zu sein. Aber da war noch mein Onkel K., geboren 1924. Auch er hatte, wie sein Vater, mein Opa, Uhrmacher gelernt und ebenfalls die Möglichkeit in Papas „kriegswichtigen Betrieb“ von der Wehrmacht freigestellt zu werden.
Aber: Niemand in der Familie war in der Partei. Man guckte bereits argwöhnisch auf die vermeidlichen „Drückeberger“. K. wurde mir von seinen Geschwistern als äußert sensibel und feingeistig beschrieben. (Chiffres?) Ein ausgesprochen hübscher Junge, der sich für Kunst interessierte und im Internat offenbar gemobbt wurde.
Ich kenne nur Fotos, vermute aber, daß er schwul war. 1944, nach dem Abschluss seiner Lehre als Feinmechaniker, hielt er es nicht mehr aus, empfand es auch als weilen. Er entschied sich gegen den Chronometerbau, meldete sich zur Wehrmacht, wurde direkt an die Ostfront transportiert.
Auch dort wollte sein Vorgesetzter dem „Sensibelchen“ gleich mal zeigen, wie es an der Front zuging und schickte ihn nach einer halben Stunde als Späher los. K. geriet sofort in russische Gefangenschaft, ohne einen Schuss abzufeuern.
Meine Tante reiste Jahrzehntelang auf den Spuren ihres geliebten Bruders, um ihn zu finden. Er wurde offensichtlich vergleichsweise gut behandelt. Sie traf 1955 eine Gruppe Spätrückkehrer, die bis 1955 mit Onkel K. in einem Gefangenenlager waren. Inzwischen sprach er offenkundig gut russisch und wurde im letzten Moment, bevor die anderen zurück nach Deutschland geschickt wurden, mit einer Gruppe, bestehend aus Mechanikern, Ingenieuren oder sonstigen Technikern, ausgewählt, um in ein Speziallager nach Sibirien geschickt zu werden.
Die Familie hörte nie wieder von ihm. Seine Geschwister blieben zeitlebens in Kontakt mit dem Suchdienst des Roten Kreuzes, hofften auf neue Erkenntnisse, als Michail Gorbatschow vorher nicht zugängliche Archive öffnete. Aber nichts. Meine Tante reiste privat in die Sowjetunion, um das Lager zu besichtigen, in dem ihr Bruder zuletzt war. Aber das scheiterte, weil es komplett abgerissen und bepflanzt wurde. Der Wald hat es sich zurück geholt, es gibt keinerlei Aufzeichnungen. Man sollte mutmaßen, daß mein Onkel sich nach dem Ende der UDSSR selbst in Hamburg gemeldet haben sollte, wenn er noch gelebt hätte. Heute wäre er 101 Jahre alt und ich schließe sicher aus, jemals Gewissheit zu bekommen.
Auf seinem Grabstein in Hamburg steht – wie auf so vielen anderen – „vermisst 1944 in Russland“.
Wie Millionen andere, wurde meine Oma ihre Leben lang von der Ungewissheit über den Verbleib ihres Kindes gequält. Noch heute empfinde ich deswegen tiefes Mitleid mit ihr. Wie schrecklich es sein muss, zwei Kinder im Krieg „zu verlieren“ und jeden Tag zu vermissen. Der einzige Trost für war, daß ihr Sohn nie schießen musste. Vor 1944 hatte er sich davor am meisten gefürchtet: Jemanden umbringen zu müssen, das könne er nicht mit seinem Gewissen vereinbaren.
Ich war zu jung, um meine Oma genau nach dem Nationalsozialismus zu befragen, hielt meine Familie aber für unschuldig. Die Amerikanische Hälfte ohnehin; die kämpften schließlich gegen Hitler-Deutschland. Und im deutschen Teil war niemand in der engeren Familie Soldat. Ich weiß noch von einem Schwager meiner Oma, der Pilot war und in Frankreich abgeschossen wurde. Auch er überlebte nicht. Bis auf den tragischen Onkel K. waren alle anderen aber zu alt oder gerade eben zu jung. Es gibt außerdem eine Vorlandung aus den 1930er Jahren. Mein Oma musste sich bei der Gestapo melden, weil sie demonstrativ weiterhin in einem jüdischen Bekleidungsgeschäft einkaufte. Ihr gelang es, sich rauszureden. Sie wäre völlig unpolitisch und entschiede sich nicht für die Kleidung, weil sie von Juden stamme, sondern weil sie seit Jahrzehnten die Qualität schätze.
Offensichtlich waren meine deutschen Großeltern also keine Antisemiten. Sie waren keine Fans von Hitler. Sie waren keine Arschlöcher.
Glück gehabt.
Wirklich?
Vor kurzem meldete sich ein Ahnenforscher aus Amsterdam. Im Nachlass seines Vaters habe er Listen gefunden, nach denen wir verwandt wären. Er käme bald nach Hamburg und bitte um ein Treffen.
Natürlich dachte ich an Spam. Irgendeine KI-Betrugsmasche. Zumal wir beide inzwischen andere Familiennamen tragen. Ich lehnte höflich ab, bekam dann aber Bilder seiner Unterlagen.
Sie gehen ebenfalls zurück auf die Nazizeit. Bekanntlich galten die „Nürnberger Rassegesetze“ und viele Menschen benötigten einen „Ariernachweis“.
[…] Ein Ahnenpaß war eine wichtige Voraussetzung für den "Ariernachweis", den jeder Bürger des Deutschen Reiches zu erbringen hatte, seit durch die Nürnberger Gesetze das volle Bürgerrecht (Reichsbürgerschaft) ausschließlich an Bürger mit "deutscher oder artverwandter Abstammung" verliehen wurde. Ein vollständiger, amtlich und/oder kirchlich beglaubigter Ahnenpaß ersetzte die sonst geforderten Geburts-, Tauf- und Trauurkunden. [….]
(Deutsches Historisches Museum)
Die Ahnenpässe meiner deutschen Familie, in schwarzes Leder gebundene Ausgaben, befinden sich mittlerweile bei mir.
An dieser Stelle ausnahmsweise ein Ausflug zu Wikipedia.
[….] Die kurze Geschichte des Ahnenpasses hat ihren Ursprung im Missbrauch der Ahnenforschung, einer historischen Hilfswissenschaft, für den nationalsozialistischen Rassenwahn. Kurz nach der Machtergreifung wurde die Grundlage für die Entwicklung von Ahnenpässen mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 geschaffen, womit für Beamte der Nachweis einer „arischen Abstammung“ zu erbringen war. Als Arierparagraph galt insbesondere der Paragraph 3, der die Anweisung enthielt „Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen“. Nur wenige Tage nach Bekanntgabe des Gesetzes konkretisierte am 11. April 1933 die „Erste Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ den Paragraphen 3 und legte fest: „Als nicht arisch gilt, wer von nicht arischen Eltern oder Großeltern abstammt. Es genügt wenn ein Elternteil oder ein Großelternteil nicht arisch ist.“
Von Mitgliedern der NSDAP und ihren Gliederungen wurden sogar weiterreichende Abstammungsnachweise gefordert. Der Nachweis der „deutschblütigen Abstammung“ sollte bei diesen bis zum 1. Januar 1800 zurückreichen. Der Grund für die Festlegung dieser zeitlichen Grenze lag an der rassenideologischen Auffassung, um 1805 hätte eine jüdische Emanzipation stattgefunden mit dem Ergebnis von Mischehen und ab diesem Zeitpunkt der Aufnahme „größerer Mengen jüdischen Blutes“ durch das „deutsche Volk“.
Ausgelöst durch das Gesetz vom April 1933 und später verursacht durch die weiteren Verschärfungen der Rassengesetze, setzte ein massenhafter Boom der Ahnenforschung ein. Die Problematik bestand zunächst darin, wie die vier geforderten „arischen“ Großeltern, oder gar 4 bis 6 Generationen zurück „arische Ahnen“ belegt werden konnten. Da in Deutschland staatliche Standesämter erst 1876 eingeführt wurden und für die Zeit davor keine zivilen Quellen existierten, musste das NS-Regime auf Geburts-, Taufe-, Ehe- und Sterbeeinträge der Kirchenbücher zurückgreifen. Laut einem Bericht vom Mai 1935 wurden alleine in den ersten zwei Jahren nach der Machtergreifung 12,5 Millionen Kirchenbuchauszüge ausgefertigt. Das betraf vor allem Mitglieder der NSDAP, der SA und SS sowie deren Funktionsträger, zudem Amtsinhaber anderer Institutionen, Verbände und Vereine. Insgesamt mussten, laut einem Zensus von Mai 1939, 4.737.962 Millionen Staatsbürger gemäß dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von 1933 den Nachweis „arischer Abstammung“ erbringen. Die Kirchenbücher erwiesen sich hierbei als nicht so harmlos, sie „hatten nicht nur eine Geschichte, sie machten Geschichte“, indem sie zu Instrumenten nationalsozialistischer Rassenpolitik umfunktioniert wurden. Die „Rassenzugehörigkeit“ wurde also durch das religiöse Bekenntnis der Vorfahren anhand von Taufbelegen ermittelt. Sowohl ein fehlender oder das Vorhandensein eines jüdischen Taufbelegs diente als Beleg einer vermeintlich „jüdischen Rassezugehörigkeit“. [….]
Nicht nur Kirchen und Nazi-Organisationen machten bei diesem Rassenwahn mit.
Auch mein Opa begeisterte sich offenbar für die Ahnenforschung und trat einer Gruppe bei, die unsere Familie bis ins frühe 15. Jahrhundert zurückverfolgte. Man traf sich regelmäßig und schrieb immer mehr Namen von angeblichen Familienmitgliedern auf. 1938 waren es in unserem Fall fast 20 Seiten – viel für einen ziemlich seltenen Nachnamen. Die meisten stammten aus Friesland oder Holland. Offenbar weitgehend weiße Protestanten. Ein Glück für die ledernen Ahnenpässe, die bald lückenlos gefüllt wurden.
Auch die Eltern des Herren aus Amsterdam, der sich bei mir meldete, stehen auf der Liste. Vielleicht sind wir wirklich verwandt. Oder sie hatten bloß den gleichen Nachnamen.
Die Freude an der genetischen Reinheit des Names ging so weit, daß sich aus allen auf der Liste Vereinigten, ein sechsköpfiger Vorstand (darunter ein Bruder meines Opas) bildete, der sogar ein Familienwappen mit einem lateinischen Motto kreierte, aus dem sie schwülstig auf die typischen Tugenden aller Familienmitglieder schlossen. Diese Güte läge in unserem Familienblut.
Ich könnte mein Wappen und mein Familienmotto jetzt nennen; es ist unverfänglich.
Aber andererseits so ungeheuer pathisch-peinlich, daß ich mich zu sehr schäme.
„Meine Großeltern waren mit Sicherheit keine Nazis“ nehme ich gern für mich in Anspruch, obwohl es weder mein Verdienst, noch meine Schuld wäre.
Es gilt im strengeren Sinne, als sie keine aktiven Verbrecher oder Antisemiten waren.
Aber so, wie man sich 2025 fragen muss, was man eigentlich „mitmacht“ in den USA und Deutschland, was man ohne Widerstand gegen Trump und die AfD oder gegen Putin und Bibi, geschehen lässt, war es auch vor hundert Jahren.
Ich weiß nicht, was mein Opa 1932 und 1933 wählte. Aber ganz offensichtlich missfiel ihm auch nicht alles, was dann kam. Er freute sich, daß die Arbeitslosigkeit zurück ging, unterschieb offizielle Briefe mit „Heil Hitler“ und diese Ahnenpässe fand er toll.