Montag, 16. Mai 2016

Brutale Ehrlichkeit



Das Kind dahinten hat ja einen riesigen Wasserkopf!
 - Was fällt Ihnen ein; das ist mein Sohn!
 
Steht ihm aber ausgezeichnet.

Vermutlich war es im Fernsehen, daß mir zuerst diese richtig dummen Menschen aufgefallen sind, die in Reality-Shows damit prahlen „immer ehrlich“ zu sein. Sie sind stolz darauf anderen ihre Meinung immer direkt ins Gesicht zu sagen.

Diesem Irrglauben liegt die bizarre Selbsteinschätzung zu Grunde, es  fürwäre das Gegenüber immer relevant und wichtig wie man ungefiltert denkt.

Jemanden zu sagen „man, hast du da eine ekeligen großen Pickel auf der Stirn“ ist polterig-aufdringlich und unhöflich. Das läßt sich nicht damit glattbügeln „eben immer ehrlich“ zu sein.

Ich halte mich für einen recht guten Lügner und bin stolz drauf.
Wenn meine 94-Jährige Nachbarin an meinen Geburtstag denkt und mir einige Mon-Chéri Sweet Cherries in den Briefkasten legt, sage ich ihr natürlich, daß ich mich darüber wahnsinnig gefreut habe und nicht das was ich ehrlich denke, nämlich, daß diese widerlichen Branntwein-Billigschokolade-Dinger sofort in den Müll gehören.

In Pflegeeinrichtungen und geriatrischen Abteilungen passiert es mir immer wieder, daß ich auf total vereinsamte Menschen treffe, die ein ganz starkes Mitteilungsbedürfnis haben.
Oft trauen sie sich aber nicht, selbst wenn sie die Gelegenheit bekommen, „Nein, ich will ihnen nicht ihre Zeit stehlen und sie langweilen.“
Dann ist es wichtig sehr gut lügen zu können und den Eindruck zu erwecken, man interessiere sich wirklich brennend für eine Geschichte.
Was kostet es mich schon mir mal eine Stunde Zeit zu nehmen, wenn es einem anderen Menschen so gut tut?

Spontan gut lügen zu können, ist einerseits wichtig um sich aus lästigen Verpflichtungen zu winden, aber es ist noch bedeutender als Fähigkeit Komplimente zu machen und einfach höflich zu sein.

Lügen im privaten Umfeld ist gut.

Natürlich muß man eine Balance finden. Es ist tragisch, wenn man nach 50-Jähriger Ehe feststellt morgens immer den labberigen Kamillentee getrunken zu haben, weil man dachte der Partner verabscheue Kaffee-Geruch, obwohl es ihm umgekehrt genauso ging.
Die Literatur ist voll von diesen Geschichten. Mutter quält sich Jahrzehnte damit ab dem Sohn zum Geburtstag Karpfen zuzubereiten, obwohl sie Fisch nicht ausstehen kann und der Sohn traut sich die ganze Zeit nicht zu sagen, daß er auch keinen Fisch mag, aber immer so tat, als ob es sein Leibgericht wäre, weil Muttern den offenbar so gerne kocht.

Im offiziellen Umfeld sind Lügen noch heikler.

Man lügt natürlich bei ernsthaften physischen Beschwerden nicht seinen behandelnden Arzt über den eigenen Drogenkonsum an!

Das gilt auch für das schreckliche Kreditgespräch in der Bank, wenn man ein Immobiliendarlehen haben möchte. Hier heißt es wirklich brutal ehrlich zu sein, denn sonst kommt man irgendwann in große finanzielle Schwierigkeiten.

Alles was man sagt, muß wahr sein.
Aber man muß nicht alles sagen, was wahr ist.
(Egon Bahr)


Sie sind wichtig, um diplomatisch zu sein.
Aber es kann auch in grob undiplomatisches Verhalten umschlagen, wenn sich das Gegenüber zu offensichtlich verarscht fühlt.

Ein hohes offizielles Amt wie das eines Ministers oder eines Bundeskanzlers bedingt es allerdings, daß man gemäß dem Bahrschen Axiom immer ehrlich ist.

Toppolitiker, die wie Ursula von der Leyen, Finanzminister Wolfgang Schäuble oder Thomas de Maizière immer wieder deftiger Lügen überführt werden, sind eine echte Schande für ihren Beruf.
Allerdings, das gebe ich zu, nützen ihnen ihre Lügen bei der Karriereplanung offensichtlich, da der Urnenpöbel zu phlegmatisch ist, um sich an den Pinocchio-Nasen zu stören.

Dennoch bin ich überzeugt, daß diese permanente Unehrlichkeit insgesamt mehr Schaden anrichtet, weil sie die gesamte politische Klasse in Verruf bringt und somit zu einer echten Demokratie- und Staatsverdrossenheit beiträgt, die sich letztendlich in AfD-Wahlergebnissen und Pogromstimmungen zeigt.

Daß Helmut Kohl über seine Spender und den finanziellen Schwarzgeldsumpf seiner Partei lügt, wundert mich natürlich nicht.
Erstaunlich und irgendwie amüsant ist aber, daß Kohl als Bundeskanzler auch im Zwiegespräch mit Staatsgästen offenbar wie gedruckt log, ohne daß dafür irgendeine Notwendigkeit bestand. Es liegt ihm im Blut.

Märchenonkel im Kanzleramt.
Helmut Kohl hat in seiner Zeit als Kanzler (1982 bis 1998) im Ausland ein merkwürdiges Bild von der Bundesrepublik verbreitet. Argentiniens Präsident Raul Alfonsín erzählte er, die Bundesrepublik sei von Spionen durchsetzt ("circa 20 000 Agenten auf allen Ebenen"). Der britischen Premierministerin Margaret Thatcher vertraute er an, die 2,3 Millionen westdeutschen Erwerbslosen suchten gar nicht alle Arbeit ("Es wird hier viel Missbrauch getrieben"). Und US-Präsident Ronald Reagan berichtete er, es gebe hier Linke, die sich antiamerikanisch äußerten und gleichzeitig "über eine Ranch in Kalifornien" verfügten.

Das muß eine Spezialität der C-Politiker sein.