Als Ketzer und Ritualverächter sind allgemeine Feiertage, wie Ostern oder Pfingsten oder Weihnachten immer willkommen. Die haben zwar keine unmittelbaren Auswirkungen auf mich, weil ich mein Verhalten selbstverständlich nicht danach ausrichte. Aber da alle anderen schon Wochen vorher in hypernervösen Stress verfallen, empfinde ich es als besonders wohltuendes Privileg, davon befreit zu sein.
Das Beste ist aber die Ruhe, die einkehrt. Während der Feiertage passiert nichts, niemand ruft einen an, es kommen keine nervigen Emails vom Steuerberater oder Versicherungen, man muss nicht raus, weil ohnehin die Läden zu sind. Der Lärmpegel der Stadt ist insgesamt runtergefahren, weil die Bauarbeiter nicht bauarbeiten, Gärtner nicht laubbläsern und Baumpfleger nicht kettensägen.
Als meine Elterngeneration noch lebte, hielten wir uns für die ganz ganz wenigen Glücklichen, die schlau genug waren, auf die Frage „Was machst du Weihnachten?“ mit „Weihnachten? Da geh‘ ich nicht hin!“ zu antworten.
Inzwischen glaube ich nicht mehr, so ein seltenes Exemplar zu sein. Im Gegenteil, in meiner Social Media-Blase, hat sich eine Mehrheit längst des Ritualzwangs entzogen. Viele sind froh, sich ebenso wie von der Kirche, auch von Massenfamilienreffen und Geschenkorgien emanzipiert zu haben.
Man muss nur etwas genauer hinsehen/hinhören, weil die Weihnachtsfeierer viel lauter und aufdringlicher sind, so daß oberflächlich nur sie zu hören sind und man den falschen Eindruck erhält; alle feierten begeistert im Familienverband.
Aber es ist wie bei den ersten Pandemie-Lockerungen, als man durch die Stadt fuhr und fassungslos Teen- und Twen-Pulks maskenlos zusammengedrängt die Außengastronomie fluten sah. Mein erster resignierter Gedanke war natürlich, daß offenbar alle verrückt geworden sind und wir Corona mit dieser Bevölkerung nie überwinden.
Aber ich sah auch nur die Regelbrecher und nicht die mutmaßlich viel zahlreicheren Menschen, die eben nicht ins nächste Bistro strömten, um Infektionströpfen zu tauschen, sondern brav zu Hause blieben.
Wenn man etwas sensibler in seinem Umfeld horcht, stellt man fest, wie genervt viele auf das hohle Familien-Blabla in den Weihnachtsbotschaften reagieren.
[…] Meine Frau und ich wünschen Ihnen ein schönes Weihnachtsfest! Ein Weihnachten, an dem Sie für einen Moment Abstand gewinnen können zu dem, was Sie in diesem Jahr erschreckt, geängstigt, aufgewühlt hat. Ein Weihnachten, an dem Sie sich freuen können über Begegnungen, das Zusammensein mit der Familie, über die Ruhe nach einem anstrengenden Jahr. An Weihnachten feiern wir Christen die Ankunft des Kindes, das Hoffnung bringt in eine düstere Gegenwart. Und auch viele Nichtchristen feiern mit und lassen sich berühren von den Verheißungen der Weihnachtsgeschichte: Wärme und Schutz, Nähe und Eintracht, Zuversicht und Frieden. […]
(Frank-Walter Steinmeier, 24.12.2022)
Diese mächtigen Plapperchristen sind notorisch unsensibel und kommen gar nicht auf die Idee, wie verletzend diese Familien-Idealisierung und Familien-Romantisierung auf diejenigen wirken kann, die keine Familie haben, oder sie womöglich gerade erst verloren haben.
Ich kann mich glücklich schätzen, diese Sorte „We do things right“-Christen stets herzlich auszulachen. Mich können sie nicht verletzen. Aber nicht jeder nimmt es so leicht, von Frömmlern wie Steinmeier, Salz in die Wunden gestreut zu bekommen.
Ich bin drei Schritte weiter und freue mich, wenn sich Bischöfinnen
und Kardinäle, Pfaffen und Prälaten durch ihre dummerhaften Weihnachtsreden
coram publico blamieren. Das treibt letztendlich immer die
Kirchenaustrittszahlen nach oben und ist daher zu begrüßen.
Wer kann schon irgendetwas anderes als hanebüchenen Unsinn von Bischöfin Breit-Keßler erwarten?
Das wird kaum einer ernst nehmen.
Dafür lieben wir Breit-Keßlers Alters- und Geschlechtsgenossin Maren Kroymann, die allerdings im diametralen Gegensatz zur fromme Bayerin hochintelligent und humorvoll ist. Ihr Schöne-Bescherungs-Special muss man gesehen haben.
Deprimieren können mich aber nach wie vor Inselverarmte, wie Heribert Prantl.
So ein intelligenter, so ein hochgebildeter und so ein begabter Kolumnist. Das Herz auf dem rechten Fleck, linksliberal, aufmerksam, lernfähig.
Aber zu christlichen Feiertagen fällt all das von ihm ab und er verfällt in peinliches Predigen, so daß man sich beim Lesen nur mitschämen kann.
[…] Ein Kind […]
Vielleicht ist das der Grund, warum die Weihnachtsgeschichte im Kriegsweihnachten 2022 wie eine nervige Zwischenruferin behandelt wird: Sie erinnert ans scharfe Ende. Die Meinung, dass Weihnachten auch ohne die Erzählung vom Kind in der Krippe funktioniert, wird dieses Jahr besonders süffig vorgetragen. Die Verachtung des religiösen Kerns des Festes mag eine Facette jener Kirchen- und Religionsverachtung sein, die auch zu Weihnachten nicht bereit ist, Konzessionen zu machen. Womöglich aber ist die belächelte alte Geschichte kritischer als ihre Kritiker.
Die biblischen Erzählungen, die die Grundlagen der Feiertage sind, sind alles andere als weihnachtsbräsig. Man muss sie als Nachkriegsliteratur lesen. Sie sind nach einem Vernichtungskrieg geschrieben worden - das war der jüdische Krieg im Jahr 70. Sie sind große Literatur und zum prägenden Narrativ der westlichen Kultur geworden. […] Die Intellektuellen des frühen Christentums haben den Gehalt der Geschichten in dogmatische Formeln gegossen, deren Provokation heute kaum noch verstanden wird. "Gott wird Mensch" heißt ein Glaubenssatz, radikalisiert: "Gott wird ein Kind." Man muss allen Verniedlichungen, zu denen er einlädt, eine Abfuhr erteilen.
Er lehrt: Der Mensch ist dem Menschen das höchste Wesen. Das Kind, der Ernstfall des bedürftigen und hilflosen Menschen, der Mensch in seiner schwächsten Gestalt, ist Maß aller Dinge. […] Was braucht das Kind, das Ängste um seinen Soldatenvater aussteht? Wie ist dem Kind zu helfen, das keinen Platz in der Klinik findet? Wie können wir verhindern, dass Kinder, die jetzt geboren werden, später über verdorrte Äcker in den Krieg ziehen müssen? […] Ein Kind überzeugt nicht durch Argumente, es appelliert ans Herz; das ist seine einnehmende Macht. Darum ist Weihnachten das beliebteste aller Feste geworden. […] Ein Kind ist entwaffnend. Entwaffnend! Das ist das Wort für die Weihnachtssehnsucht 2022. Die Weihnachtsgeschichte weckt diese kindliche Kraft auf, immer wieder. Sie ist eine Widerstandskraft gegen Gewalt. Sie konfrontiert mit der entwaffnenden Präsenz eines Kindes, mit seiner Schutzlosigkeit. Das weckt das Fürsorgliche auf, das Beste im Menschen; das macht friedlich. […]
Wie kann ihm das nur passieren? Redigiert das niemand? Wieso ist ihm das nicht peinlich?