Donnerstag, 11. August 2022

Ohne Gatekeeping geht es nicht.

Früher war natürlich NICHT alles besser. Aber einiges eben doch. Als Teen und Twen, als Schüler und Student, war ich einen erheblich umständlicheren Weg zur Erlangung von Informationen gewöhnt. Wir stöberten in Lexika und Bibliotheken, lasen Zeitungen und Magazine. Interessierte ich mich besonders für ein Thema, ging ich in den kleinen Buchladen mit dem schrulligen Inhaber, besprach mich mit ihm; er begann zu recherchieren und bestellte Bücher.

Als Student gab es jedes Semester einen Run auf empfohlene Lehrbücher, die man zwar auch in der „Stabi“ ausleihen konnte, aber natürlich waren nie genug Exemplare für alle da. Einige Werke, von denen man sich besonders viel versprach, kaufte man am Anfang einer neuer Vorlesung. Das musste gut überlegt sein, denn Preise weit über 100 DM waren genauso üblich, wie ungeheuerlich in den 1980ern. Manchmal kaufte man sich zu zweit ein Buch, man ver- und entlieh sie, kopierte sich ganze Kapitel. Diese Lehrbücher waren ein Schatz, weil sie über ausgeklügeltes Layout und großartige Graphiken verfügten. Fasziniert blätterte man in ihnen und freute sich, die neue Welt, die sich vor einem ausbreitete, zu erlernen und zu verstehen.

Bald schon erreichte man ein fachliches Niveau, das über die Lehrbücher für das Grundstudium hinausging. Es wurde Aufgaben gestellt, für die man nicht einfach in eins der Bücher über seinem Schreibtisch greifen konnte, um die Lösung nachzuschlagen. Nun war man auf wissenschaftlicher Ebene angekommen. Die Staatsbibliothek half nicht weiter, aber man verbrachte endlos viel Zeit in der Fachbibliothek, in der all die wissenschaftlichen Zeitschriften mit aktuellen Forschungsergebnissen aufgereiht standen. Genaue Literaturangaben, wo man zu suchen hatte, waren Gold wert. Anderenfalls konnten es sehr lange Tage werden.

Der nächste Schritt nach Durchforstung der Fachliteratur war es, direkt zur Quelle zu gehen. Womöglich gab es Diplomanten oder Doktoranten, die sich genau mit dem Thema beschäftigten, gelegentlich hatte man besonderes Glück, indem man einen Professor, der daran forschte, direkt befragen konnte.

Obwohl ich selbst so lange in der analogen Welt lebte, kann ich kaum noch die Umständlichkeit nachvollziehen. Was für einen Aufwand hatte ich da betrieben, um an Informationen zu gelangen, für die ich heute zehn Sekunden googele und das auch noch dank der Klugtelefone immer und überall.

Wie viel effizienter muss man heute mit all der gesparten Zeit studieren können.

Kein Forscher wird sich die Zeiten ohne das Internet zurückwünschen, weil die Möglichkeiten unvergleichlich größer sind.

Aber, und das ist ein ziemlich großes ABER, die Informationsbeschaffung in der ersten Hälfte meines Lebens, hatte durchaus auch Vorteile. Man wertschätzte die Erkenntnisse viel mehr, konzentrierte sich entsprechend mehr darauf, lernte den Stoff intensiver. Insbesondere konnte man sich aber auf die Seriosität des Geschriebenen weitgehend verlassen. Das Veröffentlichte war gegengecheckt, lektoriert und illustriert. Es wurde Mühe darauf verwendet.

Heute sind Informationen oberflächlicher. Selbst auf Dissertationen ist kein Verlass mehr. Guttenberg und weitere CSU-Generalsekretäre zeigen, wie man offensichtlich auch an renommierten Universitäten seinen Dr.-Titel per Copy and Paste erstellen kann.

Die leichte Verfügbarkeit so vieler Informationen macht aber insbesondere auf der Laien-Ebene, unterhalb der Wissenschaftsszene, Gatekeeping wichtiger denn je.

Meyers Lexikon, die Bertelsmann-Lexikothek, Brockhaus Enzyklopädien, das 24-bändige dtv-Taschenlexikon oder gar die Britannica waren sehr teuer und nicht für jeden zugänglich. Wikipedia kostet nichts und wird von jedem verwendet.

Letzteres ist ein enormer sozialer Fortschritt. Aber was im Brockhaus steht, stimmt auch, wurde wissenschaftlich lektoriert. Wikipedia eignet sich im Grunde nur, um Namen und Daten nachzuschlagen, die man schon kannte, aber vergessen hatte.

Die wichtigsten Gatekeeper sind Redakteure in Sendern und Zeitungen. Sie wählen aus den täglich millionenfach auf sie einprasselnden Meldungen, die wichtigen und die wahren aus, so daß der Leser, der sich nicht hauptberuflich um Überprüfung von Informationen kümmern kann und über kein eigenes Spezialistenteam verfügt, eine zu bewältigende Menge relevanter Informationen bekommt.

Während alle seriösen Zeitungen seit Jahren mit schrumpfenden Auflagen kämpfen und die Verleger Sparmaßnahme nach Sparmaßnahme durchdrücken, werden sie paradoxerweise eigentlich immer wichtiger, da sich durch Social Media die Fehlinformationen exponentiell verbreiten. Wer wie David Berger, Identitäre Bewegung, Covidioten, Reichsbürger oder Attila Hildmann eine kontrafaktische Hasswelt erschaffen möchte, denkt sich einfach selbst etwas aus, tippt das in einen Blog und nennt es frech „alternative Medien“.

Für jeden, der noch mit einem Bein in der Gatekeeper-Welt steht und dem „Quelle: Internet“ nicht ausreicht, wirken diese rechtsextremen Verschwörer unfreiwillig lächerlich. Man schickt sich gegenseitig die neusten Elaborate der Q-Welt und lacht sie herzlich aus.

Damit unterschätzt man aber sträflich, daß weitere Teile der westlichen Gesellschaft bereits vollständig in die nicht mehr realitätsbasierte Wahnwelt abgedriftet sind.

Sie geben sich keine Mühe mehr bei der Informationsbeschaffung und schlucken bereitwillig leicht zu erreichende Propaganda.

Die Meldungen aus Fahrschulen bilden eine hübsche Metapher.

Nie waren die Durchfallquoten bei Hamburger Fahrschülern so groß wie heute. Mehr als 55 Fahrstunden werden durchschnittlich benötigt, wie das Abendblatt berichtet. Wer in den 80ern mehr als 20 Stunden brauchte, wurde schon ausgelacht. Wieso sind die Fahranfänger so gewaltig viel schlechter als meine Generation damals?

Der Grund ist einleuchtend: Klugtelefone!

Meine Generation achtete im Alter von 0-18 bei jeder Autofahrt genau darauf, was die Eltern taten, welche Pedale sie traten, wie diese Gangschaltung funktionierte und beobachtete den Verkehr ganz genau, so daß einem die Situation äußerst vertraut war, wenn man das erste mal im Fahrschulauto am Steuer saß.  Die nach 2000 Geborenen stierten nur auf ihr Handy, wenn Muttern sie zur Schule fuhr. In der ersten Fahrstunden ist für sie alles völlig neu und gleichzeitig reicht ihre Konzentrationskraft nicht mehr für einen 55-Minütige Prüfung aus, weil sie an TikTok-Clips und Instagram-Reels gewöhnt sind. Nach 90 Sekunden erschlafft die Großhirnrinde.

Das Internet erspart ihnen also nicht etwa Zeit oder macht das Fahren-Lernen effizienter, sondern behindert drastisch, indem die Verkehrs-Realität außerhalb des Mini-Bildschirms gar nicht wahrgenommen wurde.

Mir wäre es in der Fahrschule vermutlich nicht anders ergangen, wenn ich mit Klugtelefon aufgewachsen wäre. Es ist die Gnade der frühen Geburt, die den Führerschein für mich leicht machte. Sowohl Theorie- als auch Praxisprüfung erschienen mir völlig simpel.

Sich mit Führerschein zu quälen, ist eine Unannehmlichkeit. Und teuer. Aber eben auch nur eine Metapher für den ganz großen Schaden, den Social Media anrichtet, indem es Typen wie Trump zum mächtigsten Mann der Erde aufsteigen ließ, die Briten zum blödinnigen Brexit verleitete und zerstörerische Populisten in die Parlamente spült.

Früher gab es überall einen Dorftrottel, der unsinniges oder rechtsradikales Zeug glaubte. Er sagte das aber entweder nicht laut, weil er Widerspruch befürchtete, oder wurde nicht ernst genommen. Ganz sicher wurde er aber nicht veröffentlicht und als „alternativer Wissenschaftler“ in den Uni-Bibliotheken geführt.

Facebook und Twitter hingegen vernetzen diese einsamen Dorftrottel, die sich folglich in Trottel-Blasen zusammenschließen, alle anderen Informationen ausblenden und sich innerhalb dieser zu 100% vertrottelten Scheinwelt gegenseitig befruchten. Sie halten sich nun für eine Mehrheit und vervielfachen den Ausstoß ihrer Trottelleien so enorm, daß immer mehr Halb- oder Vierteltrottel ebenfalls in die Blasen gesaugt werden, dort eine Metamorphose zu Volltrotteln durchlaufen, weil sie nur noch Trottelinformationen sehen.

Die Techkonzerne, an vorderster Stelle Mark Zuckerberg und die Twitter-Bosse Patrick Pichette/Parag Agrawal, laden gewaltige Schuld auf sich, indem sie das Gatekeeping so mangelhaft einsetzen, daß eine gewählte US-amerikanische Abgeordnete wie Klan Mum aus Georgia, im Minutentakt Hetze an Millionen Follower verbreitet und somit erheblich dazu beiträgt, die USA in einen Bürgerkrieg zu führen.