Freitag, 4. Oktober 2013

Zwei Herzen schlagen, ach, in meiner Brust.




Ein 42-Augengespräch mußte es also sein. Zur ersten Sondierung mit der SPD traute sich die Union nur in extremer Überzahl.
14 Unions-Leute saßen heute mit sieben Sozis zusammen. Man kann das als Albernheit abtun. Wozu braucht ausgerechnet die Merkel-Partei, mit dem einzigen Programmpunkt „Merkel“, vertreten durch Merkel noch 13 Statisten als Beisitzer?
Offensichtlich handelt es sich, wieder einmal, um eine typisch Merkel‘sche Vernebelungstaktik.
Das Zustandekommen einer K.O.alition hängt de facto nur von ihr ab. Welchen Preis wird sie zahlen? Wird das Pfund Fleisch, das sie sich aus den CDU-Rippen schneiden muß, groß genug sein, um die Sozen zu überzeugen?
Merkel kennt Steinbrück, Gabriel und Scholz gut genug, um einschätzen zu können, wie teuer ihr Ja-Wort sein wird.
Entschieden wird die politische Zukunft Deutschlands also im Girlscamp.
(Eva Christiansen, 43, Volkswirtin, leitet im Kanzleramt die Referate „Politische Planung, Grundsatzfragen, Sonderaufgaben“ und „Medienberatung“ und Beate Baumann, 49, Lehrerin, Merkels Büroleiterin)
Was die drei Frauen in die Waagschale des Koalitionstisches werfen, wird entweder reichen für die SPD, oder eben nicht – falls das Girlscamp einen anderen Partner favorisiert.

Um die möglichen Koalitionen zu beurteilen muß man eine ethische Abwägung treffen.
Ich bin sicher, daß bei ökonomischen, sozialen und finanziellen Themen Kompromisse möglich sind. Da wird eben geschachert und jeder kriegt ein paar Zuckerstückchen, die er seiner Basis präsentieren kann.
Setzt man voraus, daß die SPD sozialer als die CDU tickt, kann ein Kompromiss aus meiner Sicht nur besser als CDU-pur oder CDU-FDP sein.
Auch wenn die Sozis nur ein Prozentpunkt mehr Reichensteuer, eine 10%-Reduzierung der Herdprämie und einen 7-Euro-Mindestlohn rausholten, wäre es besser als CDU-pur oder CDU-FDP.
Das mag auf dem Papier nach wenig aussehen, könnte aber für die Betroffenen einen großen Unterschied machen.
Vor die Wahl gestellt, ob man diese Verbesserungen will oder nicht, kann man eigentlich nur „ja“ sagen.
Dieses „ja“ bekommt sogar noch ein Ausrufungszeichen, wenn man mit einkalkuliert, daß einige schwarze und gelbe Ministerien an die SPD fallen würden.
Wenigstens da wäre also schon mal Schluß mit der Versorgungsmentalität für FDP-Altkader. Wenigstens dort könnte man die von der FDP eingeschleusten Pharma- und Industrielobbyisten rauswerfen. Wenigstens dort könnte man peinliche xenophobe Sprüche à la Friedrich verhindern.
Also ein grundsätzliches „ja!“ zur Großen Koalition, weil damit wenigstens die schwarze Umverteilungspolitik von unten nach oben entschärft wäre?

Nein, so einfach ist es leider nicht.
Denn es gibt einen großen Pferdefuß bei der rein politischen Argumentation.
Der Preis wäre, daß mit HILFE von SPD-Stimmen überhaupt erst einmal Merkel zur Bundeskanzlerin gewählt werden müßte.
Will man das? Kann man das grundsätzlich moralisch vertreten?

Hier gebe ich als SPD-Mitglied als Antwort ein klares „nein“.
Ich will grundsätzlich nicht, daß Merkel Kanzlerin ist und bekomme schon bei der Vorstellung, daß meine Partei ihr erst die Kanzlerschaft ermöglicht ein Magengeschwür.
Ich will diese Lobbyisten-affine Pofalla-Christiansen-Baumann-Merkel-Gang raus haben aus dem Kanzleramt.
 Und zwar nicht (nur) wegen ihrer ökonomischen oder steuerpolitischen Fehlentscheidungen, sondern weil ich diese Frau für moralisch untragbar halte.
Sie fällt Nach-mir-die-Sintflut-Entscheidungen, unter denen Minderheiten oder zukünftige Generationen schwer zu leiden haben (werden).
Es ist moralisch untragbar eine Kanzlerin zu unterstützen, die den Klimaschutz behindert, indem sie für KFZ-Abgasschleudern in Brüssel eintritt.
Es ist moralisch untragbar eine Kanzlerin zu unterstützen, die grundsätzlich Lesben und Schwule für minderwertiger als Heteros hält.
Es ist moralisch untragbar eine Kanzlerin zu unterstützen, die in alle Krisen- und Kriegsgebiete dieser Welt Waffen schickt, damit noch mehr Menschen verletzt und getötet werden.
Es ist moralisch untragbar eine Kanzlerin zu unterstützen, die Ausländern die doppelte Staatsbürgerschaft verweigert, weil sie uralten germanischen Vorstellungen vom Blutrecht anhängt.
Es ist moralisch untragbar eine Kanzlerin zu unterstützen, die immer wieder verhindert hat, daß Abgeordnetenbestechung verboten wird.
Es ist moralisch untragbar eine Kanzlerin zu unterstützen, die xenophobe Stimmungen bedient, indem sie Lügen über angeblich „faule Griechen“ verbreitet, den Kampf gegen Rechtsradikalismus blockiert und ihren Innenminister gegen Roma und Sinti agitieren läßt.
Es ist moralisch untragbar eine Kanzlerin zu unterstützen, die den größten Angriff von außen auf das deutsche Rechtssystem und Abermillionen persönlicher Daten durch britische und amerikanische Dienste einfach achselzuckend hinnimmt, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, ihre Bürger davor zu beschützen.*
Es ist moralisch untragbar eine Kanzlerin zu unterstützen, die billigend den Tod von Abertausenden Flüchtlingen in Kauf nimmt**, indem sie Europas Grenzen schließt und sich weigert mehr Bürgerkriegsopfer aus Syrien und Nordafrika aufzunehmen.

Kann der politische Nutzen durch den Eintritt der SPD in eine Merkel-Regierung den moralischen Bankrott aufwiegen?

Wenn diese Grundsatzfrage geklärt ist, muß man als Parteimitglied auch noch ein bißchen strategisch denken.
„Nützt“ so eine Koalition auch unserer Partei?
Wäre es nicht eleganter sich einen schlanken Fuß zu machen, indem man Merkel aus der Opposition zusieht, wie sie sich in einer Minderheitenregierung abmüht?
Oder kann man den Schwarzen Peter gar den Grünen in die Schuhe schieben und dann in Ruhe die Merkelzeit abwarten, sich in der Opposition konsolidieren, sich gegen die Grünen profilieren und dann 2017 auf einen Wahlsiegt gegen einen blassen Merkel-Nachfolger hoffen?
Es kommen weitere taktische Fragen (Was ist mit dem Bundesrat????) und demokratietheoretische Überlegungen dazu.

Hamburger Abendblatt: Herr Kahrs, Sie haben sich wiederholt gegen eine Große Koalition ausgesprochen: Wollen Sie, will die SPD nicht regieren?
Johannes Kahrs: Natürlich will die SPD regieren, und ich will das auch. Aber die Frage ist, wenn jemand so deutlich wie die Union gewinnt, ob man dann für die fehlenden fünf Stimmen eine Große Koalition braucht oder ob es aus demokratietheoretischem Grund nicht schlauer wäre, Schwarz-Grün auszuprobieren. Bei Schwarz-Grün gäbe es einen großen und einen kleinen Partner. Bei der Großen Koalition gäbe es zwei Volksparteien, die auf Augenhöhe miteinander verhandeln müssten. Das Kräfteverhältnis, auch um Themen durchzusetzen, ist bei Schwarz-Grün also ein anderes als bei der Großen Koalition. Die Grünen sind der preiswertere Partner.
[…] Eine Große Koalition kann funktionieren, das kann die SPD selbstbewusst angehen. Wir haben in der letzten Großen Koalition einen Großteil der Arbeit geleistet. Nur muss sich die Union eben vorher überlegen, ob sie mit dem kleinen Partner koalieren möchte oder mit einer Volkspartei. Letzteres ergäbe zwar eine große Mehrheit und auch eine große Verantwortung. Aber dann haben wir als SPD auch den Anspruch, als Volkspartei behandelt zu werden. Wenn die Union den Kanzler stellt, dann stellen wir den Finanzminister. Es geht nicht um Posten, sondern darum, dass der Finanzminister eine besondere Funktion hat. Er hat ein Vetorecht gegenüber der Kanzlerin. Er ist herausgehoben. Und wir haben alle erlebt, wie Wolfgang Schäuble Guido Westerwelle hat abblitzen lassen nach der letzten Bundestagswahl.
[….] Wir haben wesentliche Punkte, denn wir müssen unsere Mitglieder überzeugen. Wir wollen einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro, die Abschaffung von Leiharbeit und die Gleichstellung der Lebenspartnerschaften. Auch sind uns die doppelte Staatsbürgerschaft und die Mietpreisbremse wichtig, das Betreuungsgeld hingegen muss weg. Wir müssen aber akzeptieren, dass es auch für die Union wesentliche Punkte gibt, die sie durchsetzen möchte. Wir müssen uns also entscheiden, ob wir jeden dieser Punkte so aufdröseln, das er kaum wiederzuerkennen ist. Oder wir akzeptieren die Punkte des jeweils anderen ganz. Dafür müsste die SPD in anderen Bereichen Zugeständnisse machen.

Zu Merkels Unglück hat sich die SPD-Führung bereits auf einen Mitgliederentscheid festlegen lassen. Aus der Nummer kommt sie nicht mehr raus.
Und die SPD-Basis ist kein Fan der Kanzlerin. Da bin ich mir mit meiner Partei ausnahmsweise ganz einig.


*
Zur Verweigerung der Einreise für Ilja Trojanow in die USA erklären die 
stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Christine Lambrecht 
und der Sprecher der Arbeitsgruppe Kultur und Medien Siegmund Ehrmann:
Die Verweigerung der Einreise für Ilja Trojanow, ohne Angabe von Gründen, 
ist nicht akzeptabel. Die Bundesregierung muss diesen Vorgang umgehend 
aufklären. Die Vermutung liegt nahe, dass dieses Einreiseverbot mit seiner 
kritischen Haltung zur NSA-Affäre zusammenhängt.
Ilja Trojanow hatte im Juli dieses Jahres gemeinsam mit der Schriftstellerin 
Juli Zeh und vielen anderen prominenten Autoren in einem Offenen Brief an 
Bundeskanzlerin Angela Merkel die Aufklärung der Abhör-Affäre um den 
amerikanischen Nachrichtendienst NSA gefordert. Mittlerweile haben sich mehr 
als 70.000 Menschen der Petition angeschlossen. Darin wird die 
Bundeskanzlerin insbesondere aufgefordert, das Vorgehen der amerikanischen 
und britischen Behörden aufzuklären und dafür Sorge zu tragen, dass 
deutsche Bundesbürger nicht überwacht werden.
Das Einreiseverbot für Ilja Trojanow zeigt, wie aktuell diese Vorgänge noch 
immer sind. In der NSA-Affäre sind noch längst nicht alle offenen Fragen 
geklärt, vielmehr kommen immer neue dazu. Die Bundesregierung steht noch 
immer in der Pflicht, den Verdacht, es habe eine flächendeckende 
Kommunikationsüberwachung durch amerikanische und britische Geheimdienste 
gegeben, restlos aufzuklären und die Grundrechte deutscher Staatsbürger zu 
schützen.

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Ulla Jelpke: Deutschland trägt Mitschuld an Flüchtlingsdrama vor Lampedusa
„Statt sich in Betroffenheit zu ergehen, müssen die EU-Staaten endlich die tödliche Abschottungspolitik beenden und einen sicheren Zugang für Schutzsuchende nach Europa schaffen“, so Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, zu den Meldungen über hunderte ertrunkene Flüchtlinge vor der italienischen Insel Lampedusa. Jelpke weiter:
Die Bundesrepublik spielt und spielte bei der rigiden Abschottungspolitik der Europäischen Union eine zentrale Rolle. Sie hat den Aufbau der europäischen Abschottungsagentur Frontex vorangetrieben. Sie hat die Verantwortung für einen effektiven Flüchtlingsschutz den Staaten an den Außengrenzen der EU aufgebürdet. Die aktuelle Bundesregierung wie ihre Vorgängerinnen haben sich geweigert, das europäische Asylsystem für alle Mitgliedsstaaten und für die Schutzsuchenden selbst fair und solidarisch zu gestalten. Den Preis zahlen jährlich tausende Flüchtlinge, die vor den Grenzen Europas ertrinken.
Und auch der EU-Kommission fällt zu dem tödlichen Drama vor Lampedusa nur die alte Leier ein. Die Priorität liegt weiterhin bei einer noch effektiveren Abschottung und einer verschärften Strafverfolgung für die Fluchthelfer. Dass es die nun beklagten kriminellen Netzwerke gibt, die die Not der Flüchtlinge für ihre eigenen Profite ausnutzen, ist allein Ergebnis der rigiden Abschottungspolitik. DIE LINKE fordert, sichere Fluchtwege in die EU zu schaffen und alle Anstrengungen zu verstärken, Leben auf See zu retten.