Ein 42-Augengespräch mußte es also sein. Zur
ersten Sondierung mit der SPD traute sich die Union nur in extremer Überzahl.
14 Unions-Leute saßen
heute mit sieben Sozis zusammen. Man kann das als Albernheit abtun. Wozu
braucht ausgerechnet die Merkel-Partei, mit dem einzigen Programmpunkt „Merkel“,
vertreten durch Merkel noch 13 Statisten als Beisitzer?
Offensichtlich handelt es
sich, wieder einmal, um eine typisch Merkel‘sche Vernebelungstaktik.
Das Zustandekommen einer
K.O.alition hängt de facto nur von ihr ab. Welchen Preis wird sie zahlen? Wird
das Pfund Fleisch, das sie sich aus den CDU-Rippen schneiden muß, groß genug
sein, um die Sozen zu überzeugen?
Merkel kennt Steinbrück, Gabriel
und Scholz gut genug, um einschätzen zu können, wie teuer ihr Ja-Wort sein
wird.
Entschieden wird die
politische Zukunft Deutschlands also im Girlscamp.
(Eva Christiansen, 43, Volkswirtin,
leitet im Kanzleramt die Referate „Politische Planung, Grundsatzfragen, Sonderaufgaben“
und „Medienberatung“ und Beate Baumann, 49, Lehrerin, Merkels Büroleiterin)
Was die drei Frauen in die
Waagschale des Koalitionstisches werfen, wird entweder reichen für die SPD, oder
eben nicht – falls das Girlscamp einen anderen Partner favorisiert.
Um die möglichen
Koalitionen zu beurteilen muß man eine ethische Abwägung treffen.
Ich bin sicher, daß bei
ökonomischen, sozialen und finanziellen Themen Kompromisse möglich sind. Da
wird eben geschachert und jeder kriegt ein paar Zuckerstückchen, die er seiner
Basis präsentieren kann.
Setzt man voraus, daß die
SPD sozialer als die CDU tickt, kann ein Kompromiss aus meiner Sicht nur besser
als CDU-pur oder CDU-FDP sein.
Auch wenn die Sozis nur
ein Prozentpunkt mehr Reichensteuer, eine 10%-Reduzierung der Herdprämie und einen
7-Euro-Mindestlohn rausholten, wäre es besser als CDU-pur oder
CDU-FDP.
Das mag auf dem Papier
nach wenig aussehen, könnte aber für die Betroffenen einen großen Unterschied
machen.
Vor die Wahl gestellt, ob
man diese Verbesserungen will oder nicht, kann man eigentlich nur „ja“ sagen.
Dieses „ja“ bekommt sogar
noch ein Ausrufungszeichen, wenn man mit einkalkuliert, daß einige schwarze und
gelbe Ministerien an die SPD fallen würden.
Wenigstens da wäre also
schon mal Schluß mit der Versorgungsmentalität für FDP-Altkader. Wenigstens
dort könnte man die von der FDP eingeschleusten Pharma- und Industrielobbyisten
rauswerfen. Wenigstens dort könnte man peinliche xenophobe Sprüche à la
Friedrich verhindern.
Also ein grundsätzliches „ja!“
zur Großen Koalition, weil damit wenigstens die schwarze Umverteilungspolitik
von unten nach oben entschärft wäre?
Nein, so einfach ist es
leider nicht.
Denn es gibt einen großen
Pferdefuß bei der rein politischen Argumentation.
Der Preis wäre, daß mit
HILFE von SPD-Stimmen überhaupt erst einmal Merkel zur Bundeskanzlerin gewählt
werden müßte.
Will man das? Kann man das
grundsätzlich moralisch vertreten?
Hier gebe ich als
SPD-Mitglied als Antwort ein klares „nein“.
Ich will grundsätzlich
nicht, daß Merkel Kanzlerin ist und bekomme schon bei der Vorstellung, daß
meine Partei ihr erst die Kanzlerschaft ermöglicht ein Magengeschwür.
Ich will diese Lobbyisten-affine
Pofalla-Christiansen-Baumann-Merkel-Gang raus haben aus dem Kanzleramt.
Und zwar nicht (nur) wegen ihrer ökonomischen
oder steuerpolitischen Fehlentscheidungen, sondern weil ich diese Frau für
moralisch untragbar halte.
Sie fällt
Nach-mir-die-Sintflut-Entscheidungen, unter denen Minderheiten oder zukünftige
Generationen schwer zu leiden haben (werden).
Es ist moralisch untragbar
eine Kanzlerin zu unterstützen, die den Klimaschutz behindert, indem sie für KFZ-Abgasschleudern
in Brüssel eintritt.
Es ist moralisch untragbar
eine Kanzlerin zu unterstützen, die grundsätzlich Lesben und Schwule für
minderwertiger als Heteros hält.
Es ist moralisch untragbar
eine Kanzlerin zu unterstützen, die in alle Krisen- und Kriegsgebiete dieser
Welt Waffen schickt, damit noch mehr Menschen verletzt und getötet werden.
Es ist moralisch untragbar
eine Kanzlerin zu unterstützen, die Ausländern die doppelte Staatsbürgerschaft
verweigert, weil sie uralten germanischen Vorstellungen vom Blutrecht anhängt.
Es ist moralisch untragbar
eine Kanzlerin zu unterstützen, die immer wieder verhindert hat, daß
Abgeordnetenbestechung verboten wird.
Es ist moralisch untragbar
eine Kanzlerin zu unterstützen, die xenophobe Stimmungen bedient, indem sie Lügen
über angeblich „faule Griechen“ verbreitet, den Kampf gegen Rechtsradikalismus
blockiert und ihren Innenminister gegen Roma und Sinti agitieren läßt.
Es ist moralisch untragbar
eine Kanzlerin zu unterstützen, die den größten Angriff von außen auf das
deutsche Rechtssystem und Abermillionen persönlicher Daten durch britische und
amerikanische Dienste einfach achselzuckend hinnimmt, ohne auch nur den Versuch
zu unternehmen, ihre Bürger davor zu beschützen.*
Es ist moralisch untragbar
eine Kanzlerin zu unterstützen, die billigend den Tod von Abertausenden Flüchtlingen
in Kauf nimmt**, indem sie Europas Grenzen schließt und sich weigert mehr
Bürgerkriegsopfer aus Syrien und Nordafrika aufzunehmen.
Kann der politische Nutzen
durch den Eintritt der SPD in eine Merkel-Regierung den moralischen Bankrott aufwiegen?
Wenn diese Grundsatzfrage
geklärt ist, muß man als Parteimitglied auch noch ein bißchen strategisch
denken.
„Nützt“ so eine Koalition auch unserer Partei?
Wäre es nicht eleganter
sich einen schlanken Fuß zu machen, indem man Merkel aus der Opposition
zusieht, wie sie sich in einer Minderheitenregierung abmüht?
Oder kann man den
Schwarzen Peter gar den Grünen in die Schuhe schieben und dann in Ruhe die
Merkelzeit abwarten, sich in der Opposition konsolidieren, sich gegen die
Grünen profilieren und dann 2017 auf einen Wahlsiegt gegen einen blassen
Merkel-Nachfolger hoffen?
Es kommen weitere taktische Fragen (Was ist mit dem Bundesrat????) und demokratietheoretische Überlegungen dazu.
Es kommen weitere taktische Fragen (Was ist mit dem Bundesrat????) und demokratietheoretische Überlegungen dazu.
Hamburger
Abendblatt: Herr Kahrs, Sie haben sich
wiederholt gegen eine Große Koalition ausgesprochen: Wollen Sie, will die SPD
nicht regieren?
Johannes
Kahrs: Natürlich will die SPD regieren,
und ich will das auch. Aber die Frage ist, wenn jemand so deutlich wie die
Union gewinnt, ob man dann für die fehlenden fünf Stimmen eine Große Koalition
braucht oder ob es aus demokratietheoretischem Grund nicht schlauer wäre,
Schwarz-Grün auszuprobieren. Bei Schwarz-Grün gäbe es einen großen und einen
kleinen Partner. Bei der Großen Koalition gäbe es zwei Volksparteien, die auf
Augenhöhe miteinander verhandeln müssten. Das Kräfteverhältnis, auch um Themen
durchzusetzen, ist bei Schwarz-Grün also ein anderes als bei der Großen
Koalition. Die Grünen sind der preiswertere Partner.
[…]
Eine Große Koalition kann funktionieren,
das kann die SPD selbstbewusst angehen. Wir haben in der letzten Großen
Koalition einen Großteil der Arbeit geleistet. Nur muss sich die Union eben
vorher überlegen, ob sie mit dem kleinen Partner koalieren möchte oder mit
einer Volkspartei. Letzteres ergäbe zwar eine große Mehrheit und auch eine
große Verantwortung. Aber dann haben wir als SPD auch den Anspruch, als
Volkspartei behandelt zu werden. Wenn die Union den Kanzler stellt, dann
stellen wir den Finanzminister. Es geht nicht um Posten, sondern darum, dass
der Finanzminister eine besondere Funktion hat. Er hat ein Vetorecht gegenüber
der Kanzlerin. Er ist herausgehoben. Und wir haben alle erlebt, wie Wolfgang
Schäuble Guido Westerwelle hat abblitzen lassen nach der letzten
Bundestagswahl.
[….]
Wir haben wesentliche Punkte, denn wir
müssen unsere Mitglieder überzeugen. Wir wollen einen gesetzlichen Mindestlohn
von 8,50 Euro, die Abschaffung von Leiharbeit und die Gleichstellung der
Lebenspartnerschaften. Auch sind uns die doppelte Staatsbürgerschaft und die
Mietpreisbremse wichtig, das Betreuungsgeld hingegen muss weg. Wir müssen aber
akzeptieren, dass es auch für die Union wesentliche Punkte gibt, die sie
durchsetzen möchte. Wir müssen uns also entscheiden, ob wir jeden dieser Punkte
so aufdröseln, das er kaum wiederzuerkennen ist. Oder wir akzeptieren die
Punkte des jeweils anderen ganz. Dafür müsste die SPD in anderen Bereichen
Zugeständnisse machen.
Zu Merkels Unglück hat
sich die SPD-Führung bereits auf einen Mitgliederentscheid festlegen lassen.
Aus der Nummer kommt sie nicht mehr raus.
Und die SPD-Basis ist kein Fan der Kanzlerin. Da
bin ich mir mit meiner Partei ausnahmsweise ganz einig.
*
Zur Verweigerung der Einreise für Ilja
Trojanow in die USA erklären die
stellvertretende Vorsitzende der
SPD-Bundestagsfraktion Christine Lambrecht
und der Sprecher der Arbeitsgruppe Kultur
und Medien Siegmund Ehrmann:
Die Verweigerung der Einreise für Ilja
Trojanow, ohne Angabe von Gründen,
ist nicht akzeptabel. Die
Bundesregierung muss diesen Vorgang umgehend
aufklären. Die Vermutung liegt nahe,
dass dieses Einreiseverbot mit seiner
kritischen Haltung zur NSA-Affäre
zusammenhängt.
Ilja Trojanow hatte im Juli dieses
Jahres gemeinsam mit der Schriftstellerin
Juli Zeh und vielen anderen prominenten
Autoren in einem Offenen Brief an
Bundeskanzlerin Angela Merkel die
Aufklärung der Abhör-Affäre um den
amerikanischen Nachrichtendienst NSA
gefordert. Mittlerweile haben sich mehr
als 70.000 Menschen der Petition
angeschlossen. Darin wird die
Bundeskanzlerin insbesondere aufgefordert,
das Vorgehen der amerikanischen
und britischen Behörden aufzuklären und
dafür Sorge zu tragen, dass
deutsche Bundesbürger nicht überwacht
werden.
Das Einreiseverbot für Ilja Trojanow
zeigt, wie aktuell diese Vorgänge noch
immer sind. In der NSA-Affäre sind noch
längst nicht alle offenen Fragen
geklärt, vielmehr kommen immer neue
dazu. Die Bundesregierung steht noch
immer in der Pflicht, den Verdacht, es
habe eine flächendeckende
Kommunikationsüberwachung durch amerikanische
und britische Geheimdienste
gegeben, restlos aufzuklären und die
Grundrechte deutscher Staatsbürger zu
schützen.
**
Ulla Jelpke: Deutschland trägt Mitschuld an Flüchtlingsdrama vor Lampedusa
Ulla Jelpke: Deutschland trägt Mitschuld an Flüchtlingsdrama vor Lampedusa
„Statt sich in Betroffenheit zu ergehen,
müssen die EU-Staaten endlich die tödliche Abschottungspolitik beenden und
einen sicheren Zugang für Schutzsuchende nach Europa schaffen“, so Ulla Jelpke,
innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, zu den Meldungen über
hunderte ertrunkene Flüchtlinge vor der italienischen Insel Lampedusa. Jelpke
weiter:
Die Bundesrepublik spielt und spielte
bei der rigiden Abschottungspolitik der Europäischen Union eine zentrale Rolle.
Sie hat den Aufbau der europäischen Abschottungsagentur Frontex vorangetrieben.
Sie hat die Verantwortung für einen effektiven Flüchtlingsschutz den Staaten an
den Außengrenzen der EU aufgebürdet. Die aktuelle Bundesregierung wie ihre
Vorgängerinnen haben sich geweigert, das europäische Asylsystem für alle
Mitgliedsstaaten und für die Schutzsuchenden selbst fair und solidarisch zu
gestalten. Den Preis zahlen jährlich tausende Flüchtlinge, die vor den Grenzen
Europas ertrinken.
Und auch der EU-Kommission fällt zu dem
tödlichen Drama vor Lampedusa nur die alte Leier ein. Die Priorität liegt
weiterhin bei einer noch effektiveren Abschottung und einer verschärften
Strafverfolgung für die Fluchthelfer. Dass es die nun beklagten kriminellen
Netzwerke gibt, die die Not der Flüchtlinge für ihre eigenen Profite ausnutzen,
ist allein Ergebnis der rigiden Abschottungspolitik. DIE LINKE fordert, sichere
Fluchtwege in die EU zu schaffen und alle Anstrengungen zu verstärken, Leben
auf See zu retten.