Dienstag, 27. Oktober 2020

Privates Update

Meine Mutter und ihre Cousine sind in den 1960ern in die USA, nach New York ausgewandert. Meine Tante wollte Englisch lernen und eine Ausbildung machen, um damit in Deutschland voran zu kommen. Aus dem Teil des Plans wurde nichts; sie lebt bis heute in den Staaten, hat seit Jahrzehnten einen US-Pass und spricht auch nur noch gebrochen deutsch.

Meine Mutter hingegen wollte vor allem weg aus Deutschland, das ihr zu beengt und spießig erschien. Die Sprache spielte keine Rolle, da sie ohnehin schon fließend englisch und französisch sprach, aber NY er schien ihr als der aufregendste Melting-Pot.

Die Vorfahren meines Vaters kamen Mitte des 19. Jahrhunderts aus Osteuropa nach Pennsylvania, einige schlugen sich bis nach Kalifornien durch. Bei ihnen  war es eindeutig die wirtschaftliche Not und die scheinbare Ausweglosigkeit, die sie dazu trieb für ein Ticket auf den Auswandererschiffen alles, das sie hatten zu verkaufen und die Reise ins Ungewisse auf sich zu nehmen.

Als ich in Hamburg studierte, gingen einige Kommilitonen in die USA. Freiheit und wirtschaftliches Wohl gab es inzwischen auch in Deutschland, aber wer sich für eine akademische Karriere entschied; insbesondere in naturwissenschaftlichen Fächern; musste zumindest ein paar Semester in die USA, weil die Universitäten dort um Lichtjahre voraus sind. Ich konnte es kaum glauben, was mir einige Freunde aus dem Uni-Betrieb in den Staaten erzählten. Hightech überall. Schon in Grundstudium standen Geräte zur Verfügung, von denen wir in Hamburg nur aus Fachzeitschriften wußten.

Die grotesk veraltete Ausrüstung der Labore war schon outdated als unsere Professoren studierten und nie erneuert worden.

Es gab zu allen Zeiten aus allen Himmelsrichtungen Migrationsbewegungen gen USA. Die individuellen Gründe könnten unterschiedlicher nicht sein. Juden, die vor Verfolgung flohen, hochgebildete Asiaten, die Karriere machen wollten, Latinos, die ihren Kindern ein von politischen Repressalien freies Leben bieten möchten, Bürgerkriegsflüchtlinge, Arbeitsmigranten, Business-Typen, Journalisten, Reiseveranstalter, Naturliebhaber: Alle zog es immer in die USA und Amerika profitierte von dieser kulturellen Mischung der Hoffnungsfrohen.

Es wurde das militärisch, finanziell und wirtschaftlich stärkste Land der Erde, das entscheidend die globale Kultur beeinflusste.

Ich bemerkte im Berlin der frühen 2000er das erste mal bewußt eine Umkehrung der migrantischen Vektoren.
Die Hauptstadt beeindruckte mit lächerlich geringen Mieten und künstlerischen Freiheiten.

Immer mehr Künstler alle Genres siedelten insbesondere aus NY nach Berlin.

Für die New Yorker Miete eines winzigen Zimmers einer schäbigen WG konnte man sich in Deutschland ein riesiges Loft oder Atelier mieten. Um die Krankenversicherung musste man sich nicht sorgen, konnte einfach zum Arzt gehen, wenn man sich schlecht fühlte. Es gab keine kriegslüsterne konservative Regierung, die unbedingt in allen möglichen Teilen der Welt einmarschieren wollte. Und das Beste: Man konnte sich im Sommer nackt ausziehen, Fotos und Collagen machen, auf denen sogar Brustwarzen zu sehen waren und sogar im öffentlichen Radio und Fernsehen war es möglich „shit“ oder „fuck“ zusagen, ohne daß man sofort weg-gepiept und mit Strafen zu rechnen hatte.

Es gab Typen wie „Evil“ Jared Hasselhoff, den Bassisten der aus Pennsylvania stammenden „Bloodhound Gang“ oder das Jackass-Mitglied Stephen Gilchrist Glover, aka „Steve-O“, die sich in den 1990ern bei Auftritten in deutschen TV-Shows die Hose öffneten, ihren Penis zeigten, nur weil sie es einfach nicht fassen konnten, daß so etwas in Deutschland möglich ist, ohne im Gefängnis zu landen.

Ein Freund aus Ohio besuchte mich während der George W. Bush-Jahre einmal und hatte von diesen ungeheuerlichen Freiheiten gehört. Er könne sich splitternackt ausziehen in einem öffentlichen Park?

In Ohio ist das streng verboten und so legte er sich tatsächlich ein paar Minuten im Adamskostüm auf eine Wiese an der Außenalster – im Zentrum Hamburgs.

Und es passierte… nichts!
Für einen US-Amerikaner eine ungeheuerliche Geschichte. Das Land war so derartig prüde geworden, daß es noch nicht mal denkbar war in normalen Badehosen (die wir heute Speedos) nennen am Strand zu liegen. Amerikaner ziehen sich nun wieder knielange Ungetüme aus mehreren Quadratmetern Stoff an, damit sich bloß nichts abzeichnet.

Ich streite nicht über Modefragen, aber es ist zweifellos lässig mit so voluminösen Hosen zu schwimmen. Außerdem entsteht das Problem, sich jedes Mal, wenn man aus dem Wasser kommt umziehen zu müssen, weil so viel Textil nicht trocknet am Körper.

Aber Männer können noch vom Glück reden. Der hysterische Umgang mit Nippeln ist weit schlimmer. Es darf in dem Land, das mit Abstand der weltgrößte Pornoproduzent ist, niemals öffentlich eine weibliche Brustwarze auch nur zu erahnen sein.

Wer ein Bild mit entblößter Frauenbrust auf Facebook postet wir sofort verbannt.

Internationale Modekonzerne müssen ihre Werbung, Onlineauftritte und Broschüren extra für den US-Markt umarbeiten, weil der prüden Öffentlichkeit nichts zugemutet werden kann.

Die Obama-Präsidentschaft schien diese Absurditäten (vollautomatische Waffen für Kinder, Bier ab 21. Todesstrafe ja, aber keine Überraschungseier) zu verdecken, weil es deutliche Lockerungen bei LGBTI und Cannabis gab.

Aber auch von 2009-2017 wurden Kinofilme zensiert, jede „Nudity“ finanziell bestraft und in den amerikanischen Newssendern selbst bei ausdrücklichen Zitaten immer nur schamvoll von „the f-word“ oder „f-ing“ gesprochen.

Fällt ein noch schlimmeres Wort wie „Scheiße“ bekommen alle einen roten Kopf und selbst bei amerikanischen Youtubern muss sorgsam jede Erwähnung von ganz schmutzigen Worten wie „Penis“ oder „Vagina“ weggebeept werden.

 

Und dann kam bekanntlich Trump, der es zum Ende seiner hoffentlich einzigen Amtszeit vermochte mit Amy Coney Barrett eine ultrakonservative ideologische 6:3-Mehrheit im US-Supremecourt für Jahrzehnte zu zementieren.

Das wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Ende der legalen gleichgeschlechtlichen Ehe, des Cannabiskonsums, der staatlichen Krankenversicherung führen. Insbesondere müssen sich die Amerikanerinnen auf ein Abtreibungsverbot einstellen.

Amerika ist kein Spaß mehr. In diesen letzten Tagen vor der US-Wahl überfluten und TV-Sender und Zeitungen mit teilweise ausgezeichneten Hintergrundberichten aus allen Teilen der heterogenen Nation USA. Es bieten sich unterschiedliche Bilder, ganz verschiedene Perspektiven. Nur in einem Punkt sind sich alle Journalisten völlig einig: Die USA sind zutiefst gespalten, politische Risse ziehen sich durch alle Familien. Es gibt keine Gespräche mehr zwischen GOP-Wählern und Demokraten. Es herrscht der blanke Hass, man hört sich nicht zu redet nicht. Wo immer größere Gruppen von Menschen zusammenkommen – seien es private Feiern, Sportvereine oder Büros – gilt die strenge Regel niemals über Politik und Religion zu sprechen, weil das unweigerlich zu nicht nur verbalem Krieg führt.

Aber während man vermeiden kann zu reden, ist es schon schwerer die Augen geschlossen zu halten. Das Tragen einer Maske reicht aber schon, um die fanatischen MAGAts handgreiflich werden zu lassen.

Political Correctness und die elende „Cancel culture“ einerseits fanatische Faktenferne andererseits machen den Alltag in den USA zunehmend unerträglich.

Seit Trump gibt es einen nie dagewesenen Anstieg der Hassverbrechen. Jeder offensichtliche Angehörige einer Minderheit muss damit rechnen von einem weißen schwer bewaffneten Fanatiker einer paramilitärischen Gang, oder auch schlicht der Polizei ermordet zu werden.

Im Klima von Massendemonstrationen und sozialen Unruhen, gepaart mit dritte-Welt-artigem Elend der Millionen Obdachlosen, Versicherungslosen und sogar Hungernden wird der Blick auf das kaputte Amerika immer klarer.

Jeffree Star, milliardenschwerer Make-Up-Guru im sonnigen Kalifornien verlor dieses Jahr zwei Millionen Follower, weil er angeblich vor 20 Jahren in einem Wutanfall einmal das „N-word“ benutzt hatte.

Mutmaßlich wird er das finanziell verkraften. Er lebt in einer 15-Millionen-Dollar-Villa, die zu einer dreifach gesicherten Gated Community für Multimillionäre in Hidden Hills (LA) gehört. Seit er dort einzog, lässt er vergolden, upgraden und kauft McLarens, Rolls Royces und Lamborghinis wie unsereins Brötchen.

Gestern gab es einen kurzen Sturm, ein Baum in seiner Straße knickte um und riss sofort eine der völlig maroden 100 Jahre alten Überlandleitungen um.

 

Sofort gab es in Hidden Hills einen totalen Blackout und alle Milliardenvillen wurden dunkel – sofern sie nicht mit Notstromgeneratoren ausgerüstet sind. 

Alltag in Amerika, climate chance ist real , Brände, Stürme, Überflutungen. Hitzewellen, Dürren werden jedes Jahr dramatischer, empört sich auch Jeffree Star, teilt daher BLM- und Greta Thunberg-Videos auf Instagram – steigt aber alle zwei Tage in einen Privatjet, um in Miami oder Dallas oder Las Vegas shoppen zu gehen.

Es ist die perfekte Metapher für das heterogene Amerika: Unermesslicher Reichtum, Prassen als gäbe es kein Morgen und die Bewohner von Hidden Hills, deren Megavillen jeweils auf Tiefgaragen für mindestens 20 Supercars stehen, schaffen es im Jahr 2020 immer noch nicht Strom-Leitungen sturmsicher unterirdisch zu verlegen. Das Internet ist marode und die städtischen Siele sind so kaputt, daß die Leute schon wieder anfangen Sickergruben in ihren Gärten anzulegen, um ihre eigene Scheiße notfalls loszuwerden.

Aus meiner Kindheit kann ich noch das Mantra meiner Mutter „Amerika, du hast es besser“ hören. Was gab es nicht für Wunderdinge in den USA! Und das bei allgemeinem Optimismus, Humor, Tatendrang und Freundlichkeit, während in Deutschland Servicewüste herrscht und auf die Frage “Wie geht es dir?“ ganz ohne Ironie mit „Muss ja“ oder „Kann nicht klagen“ geantwortet wird.

Seinen Status als Sehnsuchtsort begannen die USA spätestens während des Vietnamkriegs zu ramponieren.

Die Golfkriege von Bush Sr. und Bush Jr. erinnerten die Welt noch einmal eindringlich als das hässliche Amerika.

Aber Trumpmerika setzt einen Schlusspunkt.

Da möchte man gar nicht mehr hin.

[….] Immer weniger Deutsche ziehen in die Vereinigten Staaten. Erstmals seit der Wiedervereinigung gaben 2019 weniger als 10 000 Deutsche ihren Wohnsitz auf, um in die USA zu ziehen, wie das Statistische Bundesamt am Montag mitteilte. Nur 9782 der 270 294 Abwanderer zogen im vergangenen Jahr in die USA - also 3,6 Prozent. 2016, dem letzten Jahr der US-Präsidentschaft von Barack Obama, hatten noch 12 781 von 281 411 deutschen Abwanderern die USA zu ihrem neuen Zuhause erkoren - das waren 4,5 Prozent. [….]

(SZ, 26.10.2020)

Die Zahlen werden es spannend, wenn man sie mit der umgekehrten Bewegung vergleicht.

Fast 20.000 Menschen aus den USA zogen 2019 nach Deutschland.

[….] Demgegenüber zogen 19 186 US-Amerikanerinnen und Amerikaner im Jahr 2019 nach Deutschland; das waren 1 087 Zuzüge weniger als im Vorjahr. Im Jahr 2016 verzeichnete die amtliche Statistik 20 736 Zuwanderinnen und Zuwanderer mit US-amerikanischer Staatsangehörigkeit.   Die Betrachtung der Wanderungssalden, sprich die Zuzüge aus den USA gegenüber den Fortzügen in die USA, offenbaren einen weiteren interessanten Aspekt: Seit 2017 zogen insgesamt mehr Personen von den Vereinigten Staaten nach Deutschland als umgekehrt. Daraus ergab sich 2017 für die USA, die hierzulande oft als typisches Einwanderungsland assoziiert werden, aus deutscher Perspektive ein positiver Wanderungssaldo von 4 771 Personen im Jahr 2017 (2018: +3 556 Personen; 2019: +3 334 Personen). […..]

(Destatis, 26.10.2020)

Mehr als ein halbes Jahrhundert lebte ich ausschließlich mit dem US-Pass.

Aber es reicht.

Im Mai 2019 beantragte ich ein Einbürgerungsverfahren in Deutschland, welches nach nur 15 Monaten im August 2020 beantwortet und eröffnet wurde.

Ich will kein Amerikaner mehr sein.

Aus Gründen.

Dazu morgen mehr.