Mittwoch, 7. Oktober 2020

Umfragespaß

Ein Tennisprofi kann mit etwas Pech im Finale eines Grandslam-Turniers über weite Strecken das Match dominieren, mehr Punkte als der Gegner machen und dennoch als Verlierer vom Platz gehen.

Das Tennis-Wertungssystem hat nämlich einige Ähnlichkeiten mit dem amerikanischen Mehrheitswahrecht.

Man muss nur die Mehrheit von fünf Sätzen gewinnen; dabei ist es unerheblich wie deutlich die Sätze gewonnen wurden.

Wer mit 0:6, 7:6, 7:6, 0:6, 7:6 vom Platz geht, gewinnt mit 21 Spielen; der Gegner verliert mit 30 Spielen.

Bricht man es auf die Punkte herunter, kann das Ergebnis sogar noch extremer verzerrt sein, wenn der Verlierer alles seine 30 Spiele mit 40:0 gewann und die 21 Spiele des Siegers hochumkämpft waren.

Für den Turnierverlierer mit mehr Punkten mag das tragisch sein, aber wenigstens geht er nicht in totaler Schande vom Platz. Er bekommt einen kleinen Pokal, ein paar Hundert Weltranglistenpunkte und immerhin die Hälfte des Siegerpreisgeldes; also auch eine siebenstellige Dollar-Summe.

Der Verlierer oder die Verliererin einer US-Präsidentenwahl bekommt nichts.

Hillary Clinton machte 2016 fast drei Millionen „Punkte“ mehr und erntete dafür nur Schimpf und Schande.

Sie wäre die falsche Kandidatin gewesen, hätte auf falsche Themen gesetzt und Trump unterschätzt. Es gibt keinen Trostpreis, keinen Vize-Titel und keine finanzielle Entschädigung.

Das ist doppelt bitter für die Kandidatin, die 2,1 Prozentpunkte und fast drei Millionen Stimmen mehr als ihr Gegner bekam.

  

Das US-Wahlsystem wird sogar noch mehr als ein Tennismatch verzerrt, weil nicht alle Wahlmänner des „electoral college“ (Wahlmännergremiums) gleich viele Wähler repräsentieren.

Kalifornien als bevölkerungsreichster Bundesstaat bekommt zwar mit 55 Wahlmännern die meisten Mitglieder des electoral colleges, aber weit weniger als ihm proportional zur Bevölkerungszahl zustünde.

In Wyoming gibt es rechnerisch eine Stimme im Wahlmännergremium für 195.000 Bürger. In Kalifornien braucht es 712.000 Bürger für eine solche Stimme.

Wer also im blue state California seine Stimme für Biden abgibt ist ein eher unwichtiger Wähler. Der Amerikaner, der in Wyoming wählt hat ein dreieinhalbfaches Stimmengewicht. 

Da in den dünn besiedelten „roten Staaten“ konservativere und weniger gebildete Menschen leben, deren Stimmen aber mehr zählen, haben die US-Republikaner einen grundsätzlichen Vorteil im US-Wahlsystem.

Konservative Staatsregierungen verzerren zudem durch voter supression und Gerrymandering die Wahlergebnisse weiter zu ihren Gunsten.

Würde man wenigstens die Verzerrungen bei der Umrechnung von Bevölkerungszahl auf Stimmen im Wahlmännergremium beseitigen, wäre Clinton vielleicht Präsidentin geworden.

Die blauen Staaten gewännen deutlich mehr Stimmengewicht.

Kalifornien erhielte 13 Stimmen mehr, also 68 statt 55.

Illinois: +5

Maryland: +2

New Jersey: +4

New York: +7

Washington: +2

Aber selbst mit so einer gerechteren Verteilung wäre nur das Tennis-System erreicht.

Es bliebe ein Mehrheitswahlrecht, bei dem grundsätzlich der Stimmenverlierer wie George W. Bush 2000 und Trump 2016 US-Präsident werden kann.

Diese grundsätzlichen Regeln gilt es im Auge zu behalten, wenn die Umfragen der Präsidentschaftswahl von 2016 herangezogen werden, um sie grundsätzlich als falsch und irreführend zu brandmarken.

Nein, die Zahlen für die ganze Nation wurden weitgehend sehr korrekt prognostiziert. Hillary Clinton würde Trump mit zwei bis drei Punkten hinter sich lassen und ein paar Millionen Stimmen mehr bekommen.

Genauso kam es auch. Sie wurde aber nicht Präsidentin, weil es in dem absurden US-System nicht aussagekräftig und auch nicht entscheidend ist, wer die meisten Stimmen bekommt.

Die Demokraten und Hillary Clinton haben sich aber genau wie die wenig von Trump begeisterten Europäer im Jahr 2016 blenden lassen und dabei vor allem zwei Fehler gemacht:

Erstens zu sehr auf die nationwide polls gesehen und zweitens die Möglichkeiten unterschätzt, daß Trump die „blue colar sates“ im Norden, also insbesondere Wisconsin, Pennsylvania, Michigan und mit Abstrichen Ohio gewinnen könnte.

Der Orange hatte aber Glück, gewann alle vier mit jeweils einem sehr knappen Vorsprung von wenigen Tausend Stimmen.

Das Mehrheitswahlrecht bescherte ihm dadurch WI10+MI16+OH18+PA20 = 64 Wahlmännerstimmen. Hillary Clinton holte in den vier Staaten fast ebenso viele Stimmen, bekam aber NULL Stimmen in Wahlmännergremium.

64:0 Präsidentenwahlstimmen im electoral college bei für die vier Staaten addierten 9,1 Millionen Clinton-Wählern und 9,5 Millionen Trump-Wählern.

Was ist 2020 anders?

Wieso sieht es für Joe Biden rosiger aus?

1.) Biden schreckt nicht ab, es gibt viel weniger eingefleischte Biden-Hasser als Clinton-Hasser.

2.) Trump ist nicht mehr neu, in ihn kann man nicht mehr hineinprojizieren. Nach vier Jahren im Amt sind seine Fakten klar: Millionen Jobs gingen verloren, die Wirtschaft stürzte ab, 210.000 Corona-Tote.

3.) Nationwide führt Biden nicht wie Clinton mit zwei bis vier Prozentpunkten, sondern in vielen Umfragen sogar zweistellig.

CNN sieht Biden 16 Punkte vorn, das konservative Rasmussen-Institut 12 Punkte und sogar FOX meldet einen Vorsprung im hohen einstelligen Bereich.

4.) In vielen Staaten, die Trump 2016 gewann, liegt Biden laut der Umfragen deutlich vorn, wie auch der Trumpsche Fan-Sender FOX zerknirscht einräumt.

[…..] Democratic presidential candidate Joe Biden leads President Donald Trump in the battleground states of Nevada, Ohio, and Pennsylvania, according to Fox News statewide likely voter surveys.  In each of the three states, majorities disapprove of the job Trump is doing as president, pluralities say coronavirus is “not at all” under control, and Biden is the preferred choice when it comes to handling the virus. Plus, he’s favored over Trump to nominate the next U.S. Supreme Court justice.    [….]

(FOX, 29.09.2020)

Gut möglich, daß Biden auch Florida gewinnt. Dann hat Trump keine Chance mehr.


Nein, damit ist die Wahl noch nicht gelaufen. Trump ist für jede Überraschung gut, in vier Wochen kann viel passieren, es kann manipuliert werden.

Aber die Zahlen sehen gegenwärtig viel besser für Biden aus, als Anfang Oktober 2016 für Hillary Clinton.