Sonntag, 23. Oktober 2022

Atomioten

Klickt man sich durch die Civey-Umfragenflut – „Lassen Sie Ihre Meinung zählen“ – wird man hinsichtlich der Demokratie noch pessimistischer.

Man darf sich nichts vormachen: Die meisten Menschen sind Idioten. Es ist richtig, die Volksvertreter des Bundestags und der Landtage wählen zu lassen, weil noch niemanden eine bessere Staatsform eingefallen ist. Aber so elend auch viele Abgeordnete sind; immerhin beschäftigen sie sich mit der Materie, über die sie zu befinden haben. Sie haben als Berufsparlamentarier mit eigenen Büros und Mitarbeitern immerhin mehr Expertise als der Allgemein-Michl. Weitere plebiszitäre Elemente sind unterm Strich eine Diktatur der Inkompetenz.

Es sollte anders gewählt werden, so daß die Kompetenz des Wählers gewichtet wird.

Sofern man sich nicht auf so ein Konzept einigen kann, sollten wenigstens die Wahltermine gestrafft werden. Alle Wahlperioden könnten auf fünf Jahre vereinheitlicht werden und die einzelnen Wahlen finden geballt an einem Sonntag alle zweieinhalb Jahre statt, so daß die Bundestagsabgeordneten sich nicht im Dauerwahlkampf befinden und ohne paralysiert auf Landtagswahlumfragen zu starren, gute zwei Jahre am Stück arbeiten können.

Aber das sind Wunschträume.

In der Realität schielen Abgeordnete wegen des Dauerwahlkampfes kontinuierlich auf Umfragen. In einigen Fragen gehen die Meinungen des Volkes weit auseinander. Etwa genauso viele Deutsche sind unbedingt dafür, der Ukraine mehr schwere Waffen zu liefern, wie strikt dagegen sind. Verständlicherweise mögen viele Politiker also in dieser Angelegenheit nicht allzu klar Position beziehen, weil sie immer viele Wähler gegen sich aufbringen.

Es gibt aber auch erstaunlich einheitliche Ansichten des Homo Demens Teutonicus. Fragt man nach Kriterien, um Stromanbieter, Internetprovider oder Lebensmittelbezugsquellen auszuwählen, stehen Qualität und Nachhaltigkeit bei der überwiegenden Mehrheit ganz hinten. Der Deutsche will es vor allem billig. Nichts darf mehr kosten und so wird auch der 200-Milliarden-Doppelwumms grundsätzlich als zu wenig betrachtet. Der Staat soll alle Zusatzkosten abfedern.

Da fällt es schwer, politisch die Lenkungswirkung höherer Energiekosten zu vertreten.

Extrem populär sind alle Maßnahmen, die Migranten abwehren. Flüchtlingsobergrenzen, Asylrecht schleifen, Grenzen schließen – das mag zwar verfassungswidrig sein, aber Homo Demens Teutonicus steht drauf und genau deswegen plappern Unionspolitiker das auch wider besseres Wissens nach.

Selbst Merz und Söder sind vermutlich nicht ganz so verblödet, um nicht zu verstehen, daß Deutschland schon rein ökonomisch dringend sehr viel mehr Zuwanderung braucht. Aber sie sagen es nicht laut, weil gerade ihre Wählerschaft – Provinzler und Christen – am stärksten antihumanitär eingestellt ist.

Es sind nicht viele Themenblöcke, bei denen es so viel Einigkeit gibt. Ein Dritter kam erst kürzlich hinzu:

 Die Deutschen lieben Atomkraft. Alle Umfragen melden überwältigende Zustimmung für längere AKW-Laufzeiten.

Und so poltert Söder im aktuellen SPIEGEL:
[….] Die Grünen waren von Anfang an unehrlich: Erst hieß es, die Kernkraftwerke seien nicht sicher. Dann hieß es, wir hätten gar kein Stromproblem. Und schließlich, Atomstrom hätte gar keine Wirkung auf den Strompreis – alles widerlegt. Die ganze grüne Argumentation ist eine endlose Kette an Täuschungen und Unwahrheiten. [….] Das ganze Land hängt am Tropf vor allem der Altgrünen. Das ist keine neue moderne politische Kraft, sondern die alte linke Kampftruppe um Trittin und Co.“

Das bayerische Geschrei ist demoskopisch also zu verstehen, aber maximal unehrlich. Denn nicht nur, hat von allen Bundesländern Bayern die größte Stromlücke, weil Söder völlig verantwortungslos JEDE Energieform in Bayern blockierte – Trassen, Windräder – sondern der CSU-Chef lügt auch über den Atomausstieg wie gedruckt. Das schwarzgelbe Ausstiegsgesetz von 2011, nach dem Ende dieses Jahres die letzten drei Meiler vom Netz gehen, haben nicht etwa die Grünen ersonnen, sondern CDU, CSU und FDP. Markus Söder trommelte am lautesten dafür, schnell und konsequent aus der Kernenergiegewinnung auszusteigen. Söder drohte im bayerischen Kabinett mit Rücktritt, sollte, der Atomausstieg erst nach 2022 erfolgen. Zusammen mit seinen konservativen Freunden war er der größte Anti-AKW-Fanboy.

"Der Atomausstieg wird bis 2022 vollzogen und ist unumkehrbar."

(CSU MP Seehofer, 30.5.2011 über den Fahrplan der schwarz-gelben Koalition zur Energiewende)

"Das Ergebnis ist konsistent und konsequent."

(Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU), 30.5.2011 zu den Ausstiegsplänen der Koalition)

"Das größte Modernisierungs-, Innovations-, und Investitionsprojekt für Deutschland seit langem".

(Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU), 30.6.2011 im Sender hr-Info zum Atomausstieg und dem Erneuerbare-Energien-Gesetz)

"da gibt es keinerlei sogenannte Hintertüren, sondern das ist ein ganz transparenter klarer Fahrplan. Ich halte den auch für richtig, insbesondere auch, dass die sieben alten Meiler vom Netz gehen. Hier hat es ja auch schon zu einem frühen Zeitpunkt Stimmen aus der FDP gegeben, die das nahegelegt haben."

(Christian Lindner, 30.5.2011 über den von Schwarz-Gelb beschlossenen Atomausstieg)

"Wenn wir den Aufbau der erneuerbaren Energien maximal beschleunigen und Widerstände gegen Pumpspeicherkraftwerke und Ähnliches überwinden können, dann ist ein Umstieg auch in einem Jahrzehnt denkbar." 

(CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt, 6.4.2011)

"Vernunft und der Verantwortung".

(CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt, 6.6.2011: Er bezeichnet das beschlossene Ausstiegsdatum 2022 als eine Zahl der..)

"Ich freue mich deswegen, weil es gerade auch mein Vorschlag, der Vorschlag von Horst Seehofer und der Vorschlag der CSU war."

(Bayerns Umweltminister Markus Söder (CSU), 30.5.2011 über den von Schwarz-Gelb beschlossenen Atomausstieg)

So ist Söder, der Mann lügt völlig ungeniert, behauptet alles – und das Gegenteil dessen.

[…] Der bayerische Umweltminister Markus Söder (CSU) verknüpft offenbar den Zeitplan für den Atomausstieg in Bayern mit seinem Amt. In der Ministerratssitzung am Dienstag habe Söder mit Rücktritt gedroht, sollte sich der Freistaat auf einen späteren Zeitpunkt für den Atomausstieg als 2022 festlegen, berichtet die "Süddeutsche Zeitung" unter Berufung auf Kabinettsmitglieder. Söder hatte demnach gesagt, wenn das Datum überschritten werde, habe "dies tiefgreifende Konsequenzen" für das Kabinett wie auch für ihn "ganz persönlich“. Trotz zähen Ringens hatte sich die CSU/FDP-Regierung am Dienstag nicht auf ein Datum einigen können, wann der letzte bayerische Meiler vom Netz gehen soll. Nach dem Willen der CSU soll das Kernkraftwerk Isar 2 spätestens 2022 abgeschaltet werden, die Liberalen plädieren hingegen für 2025.  [….]

(Die Welt, 26.05.2011)

Jetzt sind aber alle Deutschen für den Ausstieg aus dem Ausstieg und da es in der veröffentlichten Meinung kaum andere Stimmen gibt, springt auch Söder in das Boot, pöbelt die Grünen für den Beschluss an, mit dem er sich selbst so brüstete.

Konservative eben. Die Partei, die nach allen Umfragen in der Gunst des deutschen Urnenpöbels extrem weit vorn liegt.

Dabei ist und bleibt die Kernenergiegewinnung unverantwortlich und gehört abgeschaltet.

[….] Atomkraft ist nicht nur riskant, sondern auch keine Lösung für die Energiekrise: Den deutschen AKW gehen die Brennstäbe aus, neue zu beschaffen würde anderthalb Jahre dauern. Das Uran dafür kommt eigentlich aus Russland. Und: die deutschen AKW sind nicht mehr sicher, da nicht mehr nachgerüstet. Das sind Fakten. Deswegen fordert Greenpeace, die AKW am 31.Dezember abzuschalten. Und keinen Tag später. [….]

(Greenpeace)

Das Emsland-Atomkraftwerk weiter laufen zu lassen, ist besonders sinnlos, da es im Norden ohnehin schon einen Energieproduktionsüberschuss gibt. Da man AKWs nicht einfach an- und abschalten kann, muss man dann Windkraftanlagen stilllegen. Oder aber, soweit das technisch möglich ist, den Strom nach Frankreich verkaufen.

Gebraucht würde er in Bayern, aber die verantwortungslose CSU (aktuelle Umfrage CSU 40%, SPD 9%) verhinderte zur Freude des Urnenpöbels den Bau von Stromtrassen. Das AKW Lingen, für das Merz, Lindner, Söder und der Urnenpöbel nun so begeistert plädieren, ist unnütz.

[….] „Kanzler Scholz hat, entgegen der durch den Stresstest belegten Faktenlage, entschieden, auch das AKW Emsland am Netz zu lassen“, sagte die BUND-Landesvorsitzende Susanne Gerstner am Dienstag in einer Mitteilung. „Was auf den ersten Blick als beherzte Aktion zur Rettung in der Energiekrise wirkt, ist bei genauerem Hinsehen ein unverantwortliches Risikospiel mit offenem Ausgang und verschwindend geringem Einfluss auf den Strommarkt.“  Der BUND kritisiert, dass die längere Laufzeit des AKW in Lingen kaum zu einer besseren Stromversorgung führe. Zuvor hatte bereits das Umweltministerium in Hannover darauf hingewiesen, dass die Brennelemente in dem AKW so weit abgebrannt sind, dass der Meiler ab November in den sogenannten Streckbetrieb gehen muss und dann nur noch eine reduzierte Leistung erbringt. „Im besten Fall kann das AKW 0,03 Prozent des Jahresenergieverbrauchs erzeugen“, sagte Gerstner. Der BUND sieht zudem Sicherheitsrisiken und bemängelt, dass die Sicherheitsüberprüfung, bei der die AKW in der Regel alle zehn Jahre über viele Monate intensiv untersucht werden, überfällig ist. Die eigentlich für 2019 anstehende Prüfung wurde mit Blick auf den zunächst vorgesehenen Abschalttermin am 31. Dezember 2022 ausgesetzt.  [….]

(Kreiszeitung, 21.10.2022)

Die Hälfte der 56 französischen Atomkraftwerke ist abgeschaltet. Nicht mehr funktionstüchtig. Daher exportiert Deutschland derzeit sehr viel Windenergiestrom nach Westen.

[….] Betroffen ist die neueste, leistungsstärkste Kraftwerksflotte

Trotz stetigem Rückgang in den vergangenen Jahren lag der Anteil der Atomkraft am produzierten Strom in Frankreich 2021 noch bei 69 Prozent. In diesem Jahr dürfte er auf ein historisch niedriges Level fallen. Frankreich kauft so viel Strom aus dem Ausland wie lange nicht. Laut statistischem Bundesamt importierte es aus Deutschland zwischen Januar und August dieses Jahres 5000 Gigawattstunden (GWh). Zum Vergleich: Zwischen 2016 und 2020 lag der Wert bei durchschnittlich 2400 GWh - über ein gesamtes Jahr. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) beklagte, das Fehlen der französischen Strommengen müsse Deutschland nun teilweise mit teuren Gaskraftwerken ausgleichen. Die Probleme im Nachbarland sind ein Hauptgrund, warum die Bundesregierung den eigenen Atomausstieg um drei Monate verschiebt.  […]

(SZ, 22.10.22)

Wer wie Frankreich auf Atomkraft setzt, ist verloren. Aber der Urnenpöbel ist leider intellektuell nicht in der Lage, diese Informationen zu verarbeiten und rennt lieber Lindners und Söders Atomjubel nach.

[….] „Es ist und bleibt energiepolitischer Unsinn, den gesetzlich festgelegten Atomausstieg zum 31. Dezember 2022 auszuhebeln. Die heute veröffentlichten Eckpunkte zum Reservebetrieb zeigen einmal mehr, was für einen winzigen Beitrag zur Netzsicherheit die beiden Atomkraftwerke beim Weiterbetrieb noch leisten können. Die Strommangellage in Frankreich durch Abschaltung zahlreicher AKWs zeigt, wie unzuverlässig Atomenergie ist. Daneben besteht das Risiko katastrophaler Atomunfälle. Für die wenigen Stunden, in denen die Netzstabilität im kommenden Winter möglicherweise unsicher werden könnte, wäre stundenweises gezieltes und vereinbartes Abschalten von großen industriellen Verbrauchern und intelligentes Lastmanagement viel zielführender.“ [….]

(Heinz Smital, Greenpeace-Experte für Atomenergie)