Heute fühle ich mich
schlecht.
Gleich zweimal mußte ich
von indiskutablen Widerlingen politische Aussagen anhören, die zwar sofort
scharf kritisiert wurden, die ich aber gar nicht falsch fand.
Erstens: Der gerade gestern erwähnte Walter Scheuerl zieht heute
über die doofen Armen her, weil gerade sie es waren, die für den Netzrückkauf
bei der Volksabstimmung am 22.09.13 stimmten. Nun fühlt sich der steinreiche
Promianwalt ungerecht behandelt, weil die „Leistungsträger“ der Gesellschaft
mit 49,3% der Stimmen gegen den Netzrückkauf unterlegen sind.
Walter Scheuerl geht auf
Hartz-IV-Empfänger los.
Der parteilose CDU-Abgeordnete Walter
Scheuerl unterstellt Empfängern von Sozialleistungen, ihr Kreuz beim
Energienetze-Volksentscheid "ungeprüft" gemacht zu haben. Unterm
Strich sei es eine "Abstimmung nach Portemonnaie" gewesen.
Um seine Behauptung zu untermauern,
benutzt Scheuerl die Wahlstatistik. Daraus geht hervor, dass dort, wo besonders
stark für den Kauf der Energienetze gestimmt wurde, der Anteil der
Sozialhilfeempfänger fünf Mal höher liegt als in den Stadtteilen, in denen am
stärksten gegen die Übernahme der Netze gestimmt wurde.
"Die Zahlen veranschaulichen, dass
es in den Stadtteilen mit hohem Ja-Stimmen-Anteil für manche Abstimmende nahe
gelegen haben mag, ungeprüft sein Kreuz bei Ja zu machen", heißt es in
einer Pressemitteilung von Scheuerl – der erklärter Gegner einer Übernahme der
Netze ist. Sein Tenor: Hartz-IV-Empfänger sind entweder zu uninformiert zum
Abstimmen oder zu gleichgültig. [….]
Es ist offenbar eine
menschliche Eigenart sich über knapp verlorene Spiele mehr als über haushohe
Niederlagen zu ärgern. Da ich ebenfalls ein Gegner des Rückkaufs der Hamburger
Energienetze war, kann ich Scheuerls Wut über eine 49,3:50,7-Niederlage
verstehen.
Die Grünen wiesen den Mann
aus der CDU-Fraktion empört daraufhin, daß eine Stimme eines promovierten Gutverdieners
genauso viel Gewicht wie die eines Hartz‘IV-Empfängers habe.
So sehr ich mich in den
letzten Wochen über Grünen-Fraktionschef Jens Kerstan geärgert habe (die
Hamburger Grünen sind zusammen mit den Saarländern sicher der unangenehmste
Landesverband der Ökos), so hat er doch zweifellos Recht damit, daß man in
einer Demokratie Wahlergebnisse akzeptieren muß und sie nicht mit Blick „auf
die falschen Wähler“ kritisieren darf.
Das hätte Scheuerl natürlich
gerne, daß nur noch in den CDU-Hochburgen abgestimmt werden dürfte und den
Armen das Wahlrecht entzogen würde.
Über die
Wahlbeteiligung halten sich schon jetzt viele Bürger an
Scheuerls Traumdemokratie, aber ein Dreiklassenwahlrecht haben wir noch nicht!
Dennoch ist es nicht von
der Hand zu weisen, daß ein Kern Wahrheit in Scheuerls Aussage steckt: Was
qualifiziert eigentlich den einfachen Bürger eine schwerwiegende ökonomische Entscheidung besser treffen zu können als
professionelle Parlamentarier? Nichts, wie ich meine.
Das zweite Beispiel ist
der extrem besserwisserische und sehr häufig irrende STERN-Zampano Hans-Ulrich
Jörges, der zu den Rücktritten Göring-Eckardts, Künasts und Roths bemerkte, daß
sie sich mit ihrem gleichzeitig geäußerten Anspruch auf ein üppiges
Versorgungspöstchen selbst disqualifiziert hätten.
In der Tat. Vor 20 Jahren
hätten die Grünen Mandatsträger, die sich so verhalten, sofort gelyncht. Daß
Özdemir, Roth, Trittin, Künast und Göring-Kirchentag nach dem vermurxten
Wahlkampf ihre Positionen zur Verfügung stellen, ist an sich ehrenhaft.
Aber was reitet eigentlich
Roth und Künast dafür nun das Amt des Bundestagsvizepräsidenten für sich zu
reklamieren, bzw die fromme Kathrin dafür Fraktionschefin werden zu wollen?
Ich hätte es nie für
möglich gehalten das einmal zu schreiben: Aber die Grünen sollten sich ein
Beispiel an der FDP nehmen. Brüderle und Rösler sind wenigstens konsequent
zurückgetreten und „beanspruchen“ nun gar nichts mehr.
Als echter Trittin-Fan
bedauere ich seinen Abgang außerordentlich. Aber was soll man machen, wenn man
eine Partei, die noch vor zwei Jahren in Umfragen bei 27% stand kontinuierlich
auf 8% runtergewirtschaftet hat und Opposition machen soll?
Natürlich MUSS es tabula
rasa in der Parteiführung geben und das stünde auch der SPD gut an.
Nahles‘ bekloppte „Das WIR
entscheidet“-Kampagne, Steinmeiers frömmelnde Langweiler-Fraktionsführung, Gabriels
ewige Standpunktwechsel und dazu noch der idiotische Ausschließeritis-Wahn, der
dem Wähler signalisieren mußte „die einzige Machtoption spülen wir gleich mal
durchs Klo“ sind allemal Grund genug sein das Führungspersonal in die Wüste zu
schicken.
Es ist legitim sich wie
zum Beispiel Cem Özdemir wieder für den Parteivorsitz zu bewerben. Ich wüßte
auch Argumente Sigmar Gabriel wieder in das Amt zu setzen, aber business as
usual macht den Eindruck man habe gar nichts verstanden.
Hinzu kommt ein weiterer
kapitaler Fehler, den Sozis, Grüne und fast alle Politanalysten gerade machen.
Alle betonen, Merkel habe jetzt viel Zeit, könne in Ruhe sondieren und vor nächster
Woche wären die Spezialdemokraten noch nicht einmal zu ersten Gesprächsaufnahmen
in der Lage.
„In den nächsten Wochen“ gedenkt die SPD mal ein paar Entscheidungen zu treffen:
„In den nächsten Wochen“ gedenkt die SPD mal ein paar Entscheidungen zu treffen:
Am Freitag findet in Berlin ein SPD-Parteikonvent zur Bundestagswahl statt. "Ihr habt in den letzten Monaten und Wochen deutlich gemacht, dass die SPD auch in schwierigen Situationen engagiert und leidenschaftlich kämpfen kann", betont Parteichef Sigmar Gabriel in einem Mailing an alle SPD-Mitglieder. Ein erster Schritt zur Beteiligung der Partei an der Entscheidungsfindung "Wie weiter nach der Bundestagswahl?" ist dieses mitgliederinterne Forum. Also: bis Freitag 14 Uhr mitmachen und über Ideen, Vorschläge und Anregungen mitdiskutieren!
[….] Für
die Entscheidungsprozesse, Zwischenschritte und Entscheidungen in den nächsten
Wochen verspricht Sigmar Gabriel größtmögliche Transparenz und eine breite
Beteiligung der Partei und ihrer Mitglieder.
(SPD.de
25.09.13)
Schließlich liege der Ball
im Spielfeld Merkel. Sie habe die Aufgabe sich eine Regierung zusammen zu suchen,
betonen Gabriel, Steinbrück und Nahles in großer Gemeinsamkeit.
Offenbar versuchen sie es
jetzt mit der Merkel-Methode: Nichts entscheiden, Mund halten und abwarten auf
welchen Zug man sich am Ende am bequemsten setzen kann.
Die Lage ist mit ein
bißchen Abstand betrachtet recht klar. Es gibt nur zwei wahrscheinliche
Optionen: Schwarzgrün und Schwarzrot. Alles andere (Neuwahlen, RotGrünLinks,
CDU-SPD ohne Seehofer, CDU-Links, etc) Optionen sind Kuriosa, die eher nicht
eintreten werden. Grüne UND Sozis haben aber erhebliche Bauchschmerzen Fipsis
Platz an Muttis Tafel zu übernehmen und warten gruselnd was Merkel wohl
anbieten könnte.
Grüne und SPD tauchen also
ab und sind bereiten sich auf das REagieren
vor.
Warum eigentlich? Das
fragt sich auch die Linke, die das Pferd von der anderen Seite aufzäumt: Da es so schwer für Merkel ist, eine neue Regierung zu bilden,
sollte man diese einmalige parlamentarische Situation, in der Merkel zwar
Kanzlerin ist, aber keine Kanzlermehrheit hat, ausnutzen und im Sinne der eigenen
Wahlversprechen so viele Gesetze durchdrücken, wie man schafft!
Das würde zudem Merkel
ganz erheblich unter Druck setzen.
Mindestlohn, Homoadoption,
Strafbarkeit von Abgeordnetenbestechung, Abschaffen der Herdprämie, Millionärssteuer,
doppelte Staatsbürgerschaft und viele Projekte mehr, sind zwischen Rot, Rot und
Grün unumstritten. Im Bundesrat haben sie ohnehin eine Mehrheit.
Also worauf warten? Die
Opposition hatte schon in der vergangenen Legislaturperiode solche
Gesetzesentwürfe eingebracht und war jedes Mal von der schwarzgelben Mehrheit
abgeblockt worden. So eine Mehrheit hat Merkel aber nicht mehr, wenn sich das
nächste Mal der Bundestag konstituiert und noch keine Koalition steht.
Also liebe Sozen und
Grünen: Auch wenn bei Euch gerade keiner richtig Prokura hat; jetzt ist nicht
die Zeit, um schmollend abzuwarten, sondern ganz im Gegenteil dringend geboten
zu Agieren.
Es soll das erste gemeinsame Vorhaben
von Linken, SPD und Grünen werden: Linkspartei-Chefin Kipping will die linke
Mehrheit im Bundestag nutzen, um rasch Fakten zu schaffen und einen Mindestlohn
zu beschließen. […] "Ich
prognostiziere, dass es lange bis zur Bildung einer Regierung dauern
wird", sagte Kipping der "Mitteldeutschen Zeitung". Es gehe nun
darum, dieses Zeitfenster zu nutzen. Die Linken-Chefin kündigte eine baldige
Initiative für einen flächendeckenden Mindestlohn an. Denkbar wäre ein Modell
wie in Großbritannien, wo der Mindestlohn von einer Kommission der
Sozialpartner festgesetzt werde. "Diesen Vorschlag werden wir noch vor dem
22. Oktober vorlegen. Ich bin gespannt auf die Änderungsvorschläge von SPD und
Grünen", sagte Kipping.
Das Durchdrücken des
Mindestlohns wäre zudem eine schöne Gelegenheit für die SPD sich für die
unsägliche Bemerkung Merkels über die „totale europapolitische
Unzuverlässigkeit der SPD zu rächen.
Die Reichen-Bereicherungspolitik
der schwarzgelben Bundesregierung bietet zudem die ideale Vorlage, um endlich
etwas dagegen zu tun.
Die Deutschen haben ihr Vermögen im
vergangenen Jahr deutlich gemehrt. Jeder Bundesbürger verfügte Ende 2012 im
Durchschnitt über ein Nettovermögen von 41950 Euro. Das entspricht einem
Zuwachs von 6,8 Prozent. Damit sind die Deutschen so reich wie noch nie.
'Hauptgrund dafür war der Boom an den Börsen', sagte Michael Heise,
Chefvolkswirt der Allianz, am Dienstag in Frankfurt. Er stellte den 'Global
Wealth Report' vor, in dem sein Unternehmen die Vermögenssituation von
Privathaushalten in 50 Ländern vergleicht.
Die Studie könnte auch die
bevorstehenden Koalitionsverhandlungen in Berlin befeuern, liefert sie doch SPD
und Grünen für deren Gespräche mit der Union ordentlich Munition. Beide
Parteien wollen 'Reiche' stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heranziehen
und planen dazu die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Die Grünen wollen
zudem eine einmalige Vermögensabgabe erheben. Mit den Einnahmen von bis zu 100
Milliarden Euro soll die Staatsverschuldung verringert werden, die nach dem Ausbruch
der Weltfinanzkrise 2008 aufgrund der Kosten für die Bankenstützung und die
Belebung der Konjunktur massiv gestiegen ist.
(Harald Freiberger und Claus Hulverscheidt, SZ
vom 25.09.2013)
Es läßt tief blicken, daß
die „clevere Mindestlohninitiative“ niemanden in der phlegmatischen SPD
eingefallen ist und nur durch die Linke lanciert wird.
Der Mindestlohn ist nur Symbol für das,
was die ungenutzte rot-rot-grüne Mehrheit im Bundestag so alles beschließen
könnte. Eine clever platzierte Aktion.
Wahlverlierer müssen wenigstens
versuchen zu zeigen, dass sie lernbereit sind. FDP, Grüne und Piraten haben
deshalb ihre kompletten Führungsriegen ausgewechselt. Damit wollen sie sagen:
Wir haben verstanden, dass wir uns verändern müssen.
Die SPD dagegen tut so, als sei sie gar
kein Verlierer – und präsentiert als erstes Signal die Wiederwahl von
Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier, vormaliger Wahlverlierer und Inkarnation
des Stillstands. Ein Mann, dessen bisheriges politisches Wirken mit keinem
einzigen Satz, geschweige denn mit einer inhaltlichen Initiative in Erinnerung
geblieben ist.
Der Weg zur Koalitionsfähigkeit ist
lang, aber die clever platzierte Aktion der Linkspartei für einen realistischen
und mehrheitsfähigen Mindestlohn ist zumindest ein Anfang, der die Fantasie
anregt.