Sonntag, 26. Juni 2016

Die Totengräberin Europas.



Zum Thema „EU“ konnotiert jeder den Begriff „Bürokratie“.
Als nächstes fällt einem das Gurkenkrümmungsgesetz ein.
Irre EU-Bürokraten, die überbezahlt rumsitzen und sich Dinge ausdenken, um den Bürgern das Leben zu erschweren.

Daß es so ein Antigurkenkrümmungsgesetz gar nicht gibt, stört die Europafeinde nicht.
Schon vor sieben Jahren setzte die EU-Kommission eine entsprechende Handelsrichtlinie außer Kraft - gegen den erbitterten Widerstand einer Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten, die wiederum von Handelslobby und Bauernverbänden angetrieben wurden.
Es ist das typische Beispiel für eine Hoax-Geschichte, bei der Brüsseler Bürokraten für etwas Prügel beziehen, das nationale Regierung durchprügeln wollen. Das Richtige tat in diesem Fall die EU-Kommission.

Rechtsradikale, Nationalisten, AfDler, Berufsnörgler und Brexitianer sind offenbar sehr erfolgreich mit ihrer verlogenen Propaganda.

Es ist mir nach wie vor völlig unverständlich wieso EU-Institutionen und Europafreunde in den Mitgliedsstaaten diese zerstörerische PR klaglos hinnehmen.

Wieso gibt es keine großangelegten Werbekampagnen, die jedem EU-Bürger eine detaillierte Liste von durch EU-Mitgliedschaft bewirkten Verbrauchervorteilen vorlegt?

Brüssel befreite die EU-Bürger von Abzocke bei Roaming-Gebühren, sorgte für einheitliche Klugtelefonaufladekabel. Die Liste des nur durch die EU mögliche gewordenen Verbraucher- und Arbeitnehmerschutz ist lang.

Durch einen europaweiten Freihandel bekommen Europäer die Möglichkeit der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Neben der Niederlassungsfreiheit ist es so möglich, in einem anderen EU-Staat eine Arbeit unter denselben Bedingungen wie heimische Arbeitnehmer aufnehmen zu können.

    Bezahlter Mindesturlaub: Durch die EU kamen zusätzliche Neuerungen im Arbeitsrecht, wie etwa die Bestimmung, dass Arbeitnehmern eine gerechte Anzahl an bezahlten Urlaubstagen zusteht. Auch Arbeitnehmer, die im Urlaub erkranken, können sich krankschreiben lassen und ihren Resturlaub nachholen.
Mutterschutz: Auch der Mutterschutz ist heute eine Selbstverständlichkeit für EU-Bürger. Müttern stehen grundsätzlich 14 Wochen Mutterschutz zu, spätestens ab zwei Wochen vor der Geburt.
Elternzeit: Frischgebackenen Eltern steht Zeit zu, die sie ihrem Nachwuchs widmen können. In der Elternzeit darf der Arbeitnehmer ihnen nicht kündigen und Eltern erhalten Geld vom Staat, das die Gehaltseinbußen kompensieren soll.
Begrenzung der Arbeitszeit: Die Höchstarbeitszeit in der Staatengemeinschaft ist begrenzt auf durchschnittlich 48 Stunden pro Woche und maximal 13 Stunden am Tag.
Gleichstellung aller Menschen: Kein Arbeitnehmer in der Europäischen Union darf aufgrund von Geschlecht, Hautfarbe, Glauben oder Herkunft abgelehnt werden.
Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz: Allein in Großbritannien sank 1996 die Sterblichkeitsrate in gefährlichen Berufen um 50 Prozent durch Einführung von Arbeitsschutzrichtlinien. Durch zahlreiche Verordnungen wurden Berufe, die mit chemischen Stoffen oder gefährlichen Maschinen zu tun haben, sicherer gemacht.

Das Rückgaberecht bringt Verbrauchern in der EU die Möglichkeit, fehlerhafte Waren umzutauschen oder zurückzugeben. Im Online-Handel erleichterten die Richtlinien der EU die Rückgabe ohne Angabe von Gründen.

Auch Haustürgeschäfte, die einstmals richtig teuer und lästig waren, wurden von der Europäischen Union unterbunden. Durch die Verbesserung von Kreditrichtlinien sollen die Rechte bei Verbraucherkrediten weiter gestärkt werden.

Allergiker in der EU können beim Einkaufen allergene Inhaltsstoffe auf dem Etikett erkennen. Durch die Kennzeichnungspflicht müssen Stoffe, wie beispielsweise Nüsse, sichtbar gemacht werden.

Die übergeordneten Vorteile – Frieden, Reisefreiheit, Niederlassungsfreiheit, Stabilität – scheinen ja ohnehin in Vergessenheit geraten zu sein.

Es existiert eine Art reziprokes Subsidiaritätsprinzip: Politiker neigen dazu alle Erfolge für sich zu reklamieren und Pleiten auf die nächsthöhere Ebene zu schieben. Der Kommunalpolitiker gibt dem Bundesland die Schuld, die Ministerpräsidenten schimpfen auf den Bund und Minister, insbesondere diejenigen der Unionsparteien schieben umgehend den Schwarzen Peter an Brüssel weiter.
Obwohl sie selber auch Brüssel sind.
Für den eigenen kurzfristigen demoskopischen Vorteil nimmt man den viel größeren langfristigen Schaden hin, indem man das europäische System schädigt.

Verantwortliches Regierungshandeln müßte sich gegen solche Methoden stemmen, Leidenschaft für Europa entwickeln, unermüdlich die großen Vorteile aufzählen und rechtspopulistische Eurofeindlichkeit scharf anprangern.

Merkel tut all das nicht. Sie ließ die Krise der EU elf Jahre stoisch geschehen.

Das zeigte sich überdeutlich am Morgen nach dem Brexit.
Während quer durch alle Parteien die deutschen Vertreter in Brüssel Energie und Verve aufbrachten, London scharf kritisierten und ein förmliches Austrittsgesuch bis Dienstag verlangten, kam von Merkel wieder nur laue Beschwichtigung. Man dürfe nichts übereilen, müsse abwägen.
Nach dem britischen Aus sind nun mehr denn je Deutschland und Frankreich die beiden Führungsmächte der EU, müßten nun an einem Strang ziehen.
Aber noch nicht mal das bekommt Merkel hin und legt mit ihrem Statement einen bizarren Widerpart zu Hollandes Statement hin.
Der französische Präsident hatte EU-Leidenschaft gezeigt.
Der Élysée wies auf den hohen Preis hin, der für ein Ausscheiden aus der EU zu zahlen sei, verlangte außerdem Großbritannien möge nun „so bald wie möglich“ das Austrittsverfahren einleiten.
Das Berliner Kanzleramt war also offensichtlich noch nicht mal in der Lage sich mit Paris abzusprechen. Erbärmlich.

Merkel entwickelt aber nicht nur keine Leidenschaft für Europa, blamiert sich durch elfjährige Untätigkeit (Beispiel Einwanderungsgesetz) und verschläft proeuropäische Kampagnen.

Die größte Schuld lud sie durch falsche und asoziale Politik auf sich, die den ärmeren und ungebildeten Menschen überall in Europa das Gefühl geben mußte, sie kämen zu kurz, nur Industrie und Banken profitierten von Europa.
Genau diese Befürchtungen in irgendeiner Weise abgehängt zu sein, brachten die älteren Engländer und Waliser dazu den rechten Einflüsterungen Farages und Johnsons zu folgen.

[…] Die Europäische Union hat seit langem mit zahlreichen Fehlern das historische Projekt eines gemeinsamen und friedlichen Europas beschädigt und damit indirekt die anti-europäische Stimmung angeheizt oder EU-Gegnern sogar geholfen.
Die Liste der Verfehlungen ist lang. Seit viel zu vielen Jahren verspricht die neoliberale Wirtschaftspolitik allen eine Lebensperspektive, wenn sie sich anstrengen. Die hohe Arbeitslosigkeit vor allem in den südlichen EU-Staaten wie Spanien widerlegt dieses angeblich allein selig machende Konzept. In der Bankenkrise haben Vertreter der EU viel Geld ausgegeben, um die angeschlagenen und systemrelevanten Geldhäuser zu retten. Dieselben Politiker – allen voran Kanzlerin Angela Merkel – knauserten dann, als Griechenland strauchelte. Statt mit einem Art Marshallplan die kriselnde Ökonomie auf Trab zu bringen, zwangen sie Athen zum Sparen. Die Austeritätspolitik hat die Krise aber nicht beendet, sondern verschärft.
All das nährte den Unmut gegen die EU, die in den Augen vieler lediglich den Konzernen und nicht den Menschen nutzt. Von diesem Stimmungswandel profitieren fast ausschließlich die EU-Skeptiker und -Gegner mit ihren rückwärtsgewandten und nationalistischen Vorstellungen.
[Um das zu ändern:] dürfen künftig beispielsweise so wichtige Gespräche wie über das Freihandelsabkommen TTIP nicht mehr hinter verschlossenen Türen stattfinden. Wenn das auch noch mit dem Hinweis gerechtfertigt wird, die Verantwortlichen wollten doch nur die Regeln in Ruhe aushandeln, dann dürfen sich die Politiker nicht wundern, wenn viele es so verstehen wie es gemeint ist: Das geht euch nichts an. Brüssel und die Mächtigen in den anderen Hauptstädten müssen vielmehr über Mittel und Wege nachdenken, um die Bürger mehr zu beteiligen.
[…] Deutschland vergibt diesbezüglich derzeit eine große Chance: […][…] (Andreas Schwarzkopf, FR, 24.06.2016)

Wie eigentlich immer, wenn sich einer der alten FDP-Kämpen zu Wort meldet, kam großer Unsinn aus Kubickis Mund, als er Merkel wegen des Brexits angriff.

Hat auch Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Teilschuld am Brexit? Dieser Meinung ist zumindest der Kieler FDP-Fraktionschef Wolfgang Kubicki. "Es ist ein Tag des europapolitischen Scheiterns der Bundeskanzlerin. Hätte Angela Merkel nur halb so viel Energie dafür verwandt, in Großbritannien für den Verbleib in der EU zu werben, als sie für die Besänftigung Erdogans in Ankara gebraucht hat, wäre zumindest die Chance größer gewesen, Großbritannien in der EU zu halten.“
(MoPo 24.06.16)

Nein, Merkel ist zu Recht unbeliebt in England und hätte eher das Gegenteil erreicht, wenn sie sich Kubicki folgend direkt in das britische Referendum eingemischt hätte.

Aber sie ist elf Jahre Kanzlerin und hätte den Austeritätswahnsinn, den damit verbundenen Verlust des Solidaritätsgedankens und das katastrophale Versagen der EU in der Asylpolitik nicht zulassen dürfen.

Nun, endlich, müssen sich die nationalen EU-Regierungen in Wallung begeben und handeln. Allen voran Deutschland als größter Staat.
Kanzlerin Angela Merkel.

CDU und CSU gerieren sich gerne als Parteien der staatspolitischen Vernunft. Doch was sie an diesem Wochenende gezeigt haben, muss sogar treue Anhänger der Union an diesem Selbstbild zweifeln lassen. Da kommt am Freitag die Nachricht, dass die Briten für den Brexit gestimmt haben - mit enormen Folgen für die EU und Deutschland. Und was macht die Spitze der Union? Sie fährt, als ob nichts gewesen wäre, zu einer zweitägigen Familientherapie nach Brandenburg. Hat die Kanzlerin in so einer Krise nichts Besseres zu tun? Doch Angela Merkel und die anderen Unionsgranden ließen den Brexit-Tag lieber bei einem Grillabend am Seeufer ausklingen. [….]