Samstag, 21. Juni 2014

Vom hohen Ross


Vielen Mächtigen in Europa und Nordamerika kommt es sehr gelegen Russland zu dämonisieren. Thinktanks, Medienkonzerne und Regierungen wollen in dem irrigen Glauben den eigenen Geschäften und politischen Einflusszonen besser gegen Russland statt mit Russland zu dienen, den Urnenpöbel dazu bringen Putin zu verachten.

Diese eher konservativen und mächtigen Gruppen bilden dabei eine groteske Allianz mit eher linken Grassrootgruppen, die Putins semiautoritäres Regime wegen mangelnder Toleranz und insbesondere der neuen homophoben Gesetze ablehnen.

Heute soll es nicht noch mal um die Ukraine und die nützliche Erfindung des „Pro-Russen“ gehen, sondern um die pro-schwulen Impetus der Putin-Kritiker.

Ich bin immer noch der Ansicht, daß Putin persönlich gar kein Interesse am Homo-Thema hat; ich nehme sogar an, der er es lieber etwas liberaler handhaben würde, um sich nicht mit westeuropäischen Politikern drüber streiten zu müssen.
Der in den letzten Jahren verschärft homophobe Kurs Russland ist eine innenpolitisch-machttaktische motivierte Konsequenz aus Putins Bündnis mit der Kirche.

Kritik ist angebracht; man sollte immer die Stimme der Schwachen und Unterdrückten ergreifen.

Zu beachten ist dabei aber der Adressat. Es wundert schon sehr, daß Putin allein die ganze Schelte abbekommt und der perverse Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche von Deutschen Politikern ebenso mit Samthandschuhen angefasst wird wie von seinen Glaubensbrüdern der westeuropäischen Kirchen.

Zu beachten ist ebenfalls auf welches hohe Ross sich Westeuropäer und USAner schwingen, wenn sie die totale Homotoleranz Russlands verlangen.
(Eine Homotoleranz, welche die osteuropäische Nation Ukraine, hinter die wir uns im vermeidlichen Konflikt gegen Russland stellen, sicher auch nicht zu erbringen bereit ist.)

Deutschland brauchte 50 Jahre Demokratie bis am 11. Juni 1994 der berüchtigte § 175 des deutschen Strafgesetzbuches abgeschafft wurde.
Die von den Deutschen über alles geschätzte Bundeskanzlerin Angela Merkel wehrt sich bis heute standhaft Schwulen die vollen Rechte zuzugestehen.
Jahrzehnte der bundesrepublikanischen Demokratie verbrachten Polizisten damit Schwulen nachzustellen, indem sie sich an allen erdenklichen Stellen auf die Lauer legten – stets gierig zwei Menschen beim Liebemachen zu erwischen.

Mitten in der Nacht betritt der Mann mit einem Hammer die Herrentoilette unter dem Hamburger Spielbudenplatz. Er steuert auf einen Spiegel an den weißgekachelten Wänden zu und zertrümmert ihn. Was er dahinter entdeckt, wird nicht nur in der Hansestadt einen politischen Skandal auslösen: Von einer kleinen Kammer aus hatten Polizisten jahrzehntelang Klogänger bespitzelt, um zu beobachten, ob sich dort Männer zum Sex trafen. Wann immer die WC-Wächter Verdacht schöpften, griffen sie zu.

Noch heute ist es die hier von allen Politikern der Bundesregierung so hochverehrte Kirche, die sich für Diskriminierungen Homosexueller einsetzt.
Statt Russland zu verdammen, welches nach wenigen sehr schmerzvollen Jahren mit einer Versuchs-Demokratie noch nicht zufriedenstellend um Antidiskriminierungsmaßnahmen bemüht, sollten sich Westeuropäer an die eigene Nase fassen und sich eine Runde schämen.

BBC-Anchorman Jeremy Paxman […] sollte […] wissen, dass Homosexualität auch in seiner Heimat Großbritannien bis vor Kurzem ein „issue“ war. Unter Margaret Thatcher trat 1988 ein Gesetz in Kraft (Clause 28), das sich so liest, als könnte es den Duma-Abgeordneten im vergangenen Jahr als Vorlage gedient haben.
„Kommunalbehörden sollen nicht a) Homosexualität absichtlich propagieren oder Material mit der Absicht, Homosexualität zu fördern, veröffentlichen; b) das Lehren in einer betriebenen Schule über die Akzeptierbarkeit von Homosexualität als eine vorgebliche Familienbeziehung fördern.“ Dieses britische Gesetz blieb bis 2003 in Kraft. David Cameron, den Paxman schon mal öffentlich einen „Idioten“ nannte, unterstützte es in seinen Oppositionszeiten nach Kräften.
In Deutschland inspirierte Clause 28 einst den bayerischen Innenstaatssekretär Peter Gauweiler dazu, ein Programm zu fordern „gegen die nationale Dekadenz, wie es Margaret Thatcher formuliert hat“. Die Grünen im Bundestag stellten damals einen Antrag dagegen. Er hieß: „Beeinträchtigung der Menschen- und Bürgerrechte der britischen Urninge und Urninden (...) sowie vergleichbare Angriffe auf die Emanzipation der Urninge und Urninden in Bayern.“
Urninge und Urninden: So lautete die erste Selbstbezeichnung deutscher Schwulen und Lesben, eingeführt 1864 vom Juristen Karl Heinrich Ulrichs als Abwandlung des Götternamens Uranus. Die Grünen mussten im Jahr 1988 diesen Begriff verwenden, da der Präsident des Deutschen Bundestages die Bezeichnung Schwule und Lesben nicht zuließ.
[…] Fußball. Kirche. Ekel, Sünde. Es gibt Welten innerhalb der deutschen Gesellschaft, ganze Mikrokosmen, in denen Jeremy Paxman sofort ein „issue“ mit Homosexualität erkennen müsste. Es sind Welten, in denen Urängste nicht kaschiert werden, sondern gefeiert.
[…] Im Dunstkreis der EKD setzt sich aber eine Institution namens Deutsches Institut für Jugend und Gesellschaft ein für „das Recht jedes Menschen mit ungewünschten homosexuellen Empfindungen, konstruktive Wege zur Abnahme dieser Gefühle gehen und dafür auch therapeutische, seelsorgerliche und andere Unterstützung in Anspruch nehmen zu können“. […]
 (Tim Neshitov, SZ vom 06.05.2014)

Vor zwanzig Jahren durfte man das Wort „schwul“ im deutschen Bundestag noch nicht mal aussprechen und mußte stattdessen von „Urninge und Urninden“ faseln.
Natürlich, es wäre wünschenswert, wenn Russen und Osteuropäer von eben auf jetzt die totale Homoakzeptanz aufbrächten.
Es ist aber nicht sehr wahrscheinlich, daß es jetzt schon dazu kommen wird und bigott das ultimativ zu fordern.
Ich prognostiziere, daß Russland in 30 Jahren, nach einer ähnlichen langen Phase der Demokratie wie Deutschland am 11. Juni 1994, liberaler eingestellt sein wird, als wir jetzt.

Der sogenannte „Berliner Fahnenstreit“ zeigt wie peinlich verklemmt die prägende und überragend starke politische Kraft Deutschlands tickt.
Daß drei SPD-Ministerinnen zum CSD 2014 auf ihren Häusern die Regenbogenflagge hissen ließen, war zu viel für die christliche Kanzlerin. Merkel, ganz auf Putin-Linie ließ ihr „Njet“ verbreiten.

Merkels frommer und unheimlich heterosexueller Frontmann Altmeier schritt sofort zur Tat.

Vor dem Bundesumweltministerium am Potsdamer Platz in Berlin wird frühestens im nächsten Jahr um diese Zeit wieder die Regenbogenflagge wehen. Die SPD-Politikerin Barbara Hendricks rollt die Fahne vorerst ein. Das Kanzleramt, das von CDU-Politiker Peter Altmaier geleitet wird, habe „massiv interveniert“, so erfuhr die taz am Mittwoch aus gut informierten Kreisen.
Letzte Woche Freitag hatte die erste offen lesbische Bundesministerin das Symbol der Homosexuellen-Bewegung gehisst. [….]
Die Flagge, die als Zeichen für Vielfalt und Toleranz gilt, sieht nicht jeder gern vor einem Dienstgebäude des Bundes. [….]

Warum kehren wir nicht erst einmal vor der eigenen Tür und wählen solche Parteien wie CSU und CDU nicht mehr, bevor wir mit dem nackten Finger tausende Kilometer ostwärts zeigen?

Nach einem Telefonat mit de Maizière bekam Schwesig zunächst eine Ausnahmegenehmigung, auch die offen lesbische Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) und Justizstaatssekretär Christian Lange (SPD) hissten Ende letzter Woche die Flaggen. Am Dienstag wurden sie wegen des Gedenktags für die Opfer des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 abgenommen, hätten am Mittwoch aber eigentlich wieder bis zum CSD wehen sollen. Doch bis dahin war in der Union offenbar der Unmut gewachsen.
[….] Auch in Mecklemburg-Vorpommern hatte es diese Woche politischen Streit um die Regenbogenflagge gegeben. Innenminister Lorenz Caffier (CDU) ließ das Hissen von Regenbogen- und anderen "Flaggen privater Organisationen" per Erlass verbieten, auch an Rathäusern und anderen kommunalen Gebäuden. Zum CSD in Schwerin will die Bürgermeisterin die Vorschrift ignorieren, während man in Rostock die Flaggen einfach an andere Mäste vor dem Rathaus anbringen will.

Ähnlich peinlich verhielt sich, wieder einmal, Bayern. Jenes Bundesland, welches die hinterwäldlerische CSU just wieder mit absoluter Mehrheit in die Regierung schickte.

Zum bevorstehenden Treffen lesbischer und schwuler Polizisten in Berlin, versuchte der Bayerische Innenminister tatsächlich zu verbieten, daß Bayerische Homo-Polizisten in Uniform auftreten.
Posse um eine Konferenz schwuler und lesbischer Polizisten: Während Beamte aus anderen Bundesländern selbstverständlich Uniform tragen, hat den bayerischen Polizisten ihr oberster Dienstherr das verboten. […]
Die schwulen und lesbischen Polizisten in Bayern, die in der Vereinigung Velspol organisiert sind, haben eigentlich ein ganz gutes Verhältnis zum Bayerischen Innenministerium. Die Mitglieder von Velspol dürfen sogar bald bei der Ausbildung für den Mittleren Dienst mitarbeiten und Seminare halten - über Homosexualität bei der Polizei. Seit ein paar Tagen ist klar, dass sie den Teilnehmern dort dann aber auch erzählen können, dass bei der Behandlung der schwulen und lesbischen Beamten doch nicht alles so perfekt läuft, wie es die bayerische Polizei gerne darstellt.
Grund ist eine Posse um eine Konferenz der "European Gay Police Association", die von Mittwoch an in Berlin stattfindet. 300 schwule und lesbische Polizisten aus zahlreichen europäischen Ländern sowie aus Israel und den USA reisen an. Sie alle werden dort in Uniform auftreten. Nur das bayerische Innenministerium hat dies seinen Beamten zunächst verboten - bis es am Montag zurückruderte.
Die European Gay Police Association ist ein Netzwerk für schwule und lesbische Polizisten. In den vergangenen Jahren veranstaltete der Verband Konferenzen unter anderem in Barcelona, Wien und Dublin. Jedes Mal waren hochrangige politische Gäste wie der irische Präsident oder die österreichische Innenministerin dabei. Auch in Berlin ist Bürgermeister Klaus Wowereit der Schirmherr, der Innenminister von Brandenburg sowie verschiedene Polizeipräsidenten unterstützen die Veranstaltung ausdrücklich, sogar Innenminister Thomas de Maizière hat in Aussicht gestellt, kurz vorbeizuschauen. […]

Wir befinden uns jetzt im siebten Jahrzehnt der bundesdeutschen Demokratie.