Ist das
jetzt schon ein Zeichen von Altersdemenz, daß ich ständig an meine Kindheit
erinnere und den Drang verspüre uninteressante Jugendgeschichten auszuplaudern?
Ich
behaupte aber; ich kann nichts dafür, daß ich über Meldungen in den Medien
stolpere, die so heftige Assoziationen triggern.
Also
Zeitsprung gute drei Dekaden zurück.
Ich war
nie sportlich im klassischen Sinne. Es wäre nie in Frage gekommen einem
Sportverein beizutreten oder freiwillig in den Schulpausen Fußball zu spielen. Schulsport
empfand ich stets als außerordentlich lästig und entwickelte schon im
präpubertären Alter eine penetrant besserwisserische Aufmüpfigkeit gegen
Sportlehrer.
Für mich
galt es immer die Benotung von körperlicher Ertüchtigung möglichst auf ganzer
Linie zu sabotieren.
Ziemlich
früh entdeckte ich dabei die Macht des Wortes und nervte die Lehrkraft mit
Grundsatzdiskussionen.
In der
Mittestufe zum Beispiel wurden Sportnoten stets nach leichtathletischen
Leistungen vergeben. Für jede Klassenstufe war genau festgelegt wie weit man
für welche Note springen, wie schnell man laufen mußte und so weiter.
Das
ergab eine perfekte Angriffsfläche für mich, da Johann, der schnellste Läufer
unserer Klasse drei Jahre älter war als ich. Er war spät eingeschult und einmal
sitzengeblieben, während ich gesprungen war und damit in meiner Stufe stets der
Jüngste war.
Statt
also beim 100m-Lauf meine relative Langsamkeit zu akzeptieren, erklärte ich
kurzerhand das gesamte Notensystem für prinzipiell ungerecht, da ich Johann gegenüber
benachteiligt sei. Stattdessen wollte ich nach den Vorgaben von mindestens zwei
Klassenstufen tiefer benotet werden, da das meinem Alter entspräche.
Meine
Note wurde natürlich nie geändert, aber es war schon ein Erfolg, wenn der
Lehrer irgendwann so wütend wurde, daß er mich des Unterrichts verwies.
Ich fand
es nur gerecht den Mann zu ärgern, da er mich bei den berüchtigten
Mannschaftssportarten immer die demütigende Prozedur durchmachen ließ als letzter
in eine Mannschaft gewählt zu werden. Schön ist das ja wirklich nicht, wenn die
beiden besten Hand-, Fuß-, Volley- oder Basketballer der Klasse einem
gegenüberstehen und sich sichtlich Mühe geben ihre Gruppe so zusammen zu
wählen, daß möglichst ICH nicht zu ihnen kam.
Daß ich
dem Lehrer coram publico vorwarf offenbar die Grundlagen der Pädagogik in
seinem Studium nicht kapiert zu haben, da er die schwächsten Schüler noch
zusätzlich demotiviere, half nicht wirklich weiter.
Mein
Verhältnis zum Sportunterricht war zerrüttet. Und da ich nicht einsah für etwas
benotet zu werden, für das man nichts konnte, blieb mir nur die Obstruktion.
Glücklicherweise
wurde in der neunten Klasse Herr Wollmann, genannt „KingKong“ mein Sportlehrer.
Mädchen und Jungs waren inzwischen getrennt worden und während die armen Damen
der Schöpfung ein ganzes Jahr Schmerzen beim Geräteturnen zu erdulden hatten,
war KingKong davon besessen uns zu Windhund-schnellen Eine-Meile-Läufern zu
machen.
Eine
Meile war vier mal außen um den Sportplatz herum. Also echt lang.
Kettenraucher
Kingkong wollte aber unser Lauftraining möglichst gesund gestalten und so
joggten wir ca 100 m an der Straße entlang und rasten dann einen alten
Wanderweg in eine Schlucht hinunter zu einer großen Wasserschleuse. Es dauerte
etwa 20 Minuten dort hinzukommen, dann wurden ein paar Kraftübungen (Situps,
Liegestütze u.ä.) veranstaltet, bis sich Herr Wollmann wieder keuchend an die
Spitze der Läufer setzte, um aus der Schlucht nach oben zurück zu laufen.
Mein
Freund Steffen und ich liefen freilich nur die ersten Hundert Meter am Ende der
Gruppe mit, schlugen uns dann kurz in die Büsche und gingen dann in den
BOLLE-Laden, der praktischerweise schon um 8.00 Uhr aufmachte.
Wir
legten zusammen und kauften, was wir uns leisten konnten. In der Regel eins
dieser Billig-Bricks mit Rose-Wein, oder aber, wenn wir flüssiger waren auch
eine Flasche Faber-Sekt.
Dann
hockten wir auf einer Parkbank, rauchten ein paar Zigaretten, soffen die
Flasche aus bis wir den KingKong unter uns keuchen hörten. In dem Fall mußte
man schnell ins Gebüsch, um sich wieder hinten anzuschließen. Ich frage mich
bis heute, ob der Wollmann wirklich das ganze Jahr nicht gemerkt hat, daß ich
nie den Waldlauf mitgemacht habe, oder ob er womöglich sogar froh war mich
Nervensäge abgehängt zu haben.
Lustig war
jedenfalls, daß ich in der neunten Klasse eine vier in Sport hatte, während
mein Kumpel Steffen sogar eine zwei bekam, obwohl der genauso wenig wie ich
getan hatte.
Nach der
Neunten war leider die schöne Zeit vorbei und beim Sport wurde wieder meine
Anwesenheit verlangt. Allein drei Semester verbrachte ich mit Jazzgymnastik,
dem Folterkurs für Jungs.
Besonders
unangenehm ist mir die Notenvergabe in der SII (zweites Semester 12. Klasse) in
Erinnerung, als die semidebile Frau Fass, die sich zuvor keinerlei Mühe gegeben
hatte zu verheimlichen wie sie mich verachtete, mich auf einmal sehr mitleidig
ansah und verkündete sie wisse einfach nicht, ob sie verantworten könnte mir „über“
zu geben. Oder ob sie durchgreifen müsse und mir ein „unter“ verpassen müsse.
Über, unter, drüber, drunter? Wovon sprach das wirre Weib in den pinken
Nikki-Hosen? Frau Fass, die ihren irren Gesamteindruck mit winzigen
Korkenzieherlöckchen unterstrich und zudem auch nur halb so groß war wie ich,
schien mir gerade ernsthafte Schwierigkeiten zu bereiten. „Unter oder über“
interpretierte ich als entweder NULL PUNKTE (=6) oder EINEN PUNKT (=5-).
Null Punkte
waren eine sehr böse Sache, da das als Arbeitsverweigerung gewertet wurde und
ich somit den obligatorischen Sportkurs gar nicht belegt hätte.
Während
man Deutsch oder Mathe nur zwei Semesterkurse ins Abi einbringen mußte und
somit bei NULL PUNKTEN die Chance hatte in der 13. Klasse (SIII und SIV) noch
einmal zu punkten, waren bei Sport alle vier Semester obligatorisch. Einmal
Null Punkte hieß also, daß man ein ganzes Jahr wiederholen mußte. Ich war
ernsthaft geschockt und mir gefror das überhebliche Grinsen im Gesicht. Ich
begann zu diskutieren und hob hervor wann und wobei ich mir doch wirklich Mühe
gegeben hätte. Das wiederum mochte die pink-blonde Lockenexplosion vor mir gar
nicht und so verhärteten sich die Fronten. Ich rang noch nach Fassung und
suchte erbleicht nach einem argumentativen Ausweg, als mein Verstand plötzlich
das rettende Wort in dem Fass-Satz „das kann ich nicht als ausreichend bewerten“
entdeckte.
Ausreichend?
Das änderte alles. Offenbar hatte sie eine andere Regel im Kopf. Man durfte im
Abis insgesamt nur vier Kurse „nicht ausreichend“ haben. Ausreichend (= Note 4)
waren fünf Punkte. Darunter verlief die magische Grenze. Vier Punkte (Note 4-)
war nicht ausreichend. Die Fass extrapolierte meine grottigen Sportleistungen
auf die anderen Fächer und nahm scheinbar an, daß ich noch mehr Kurse mit vier
oder weniger Punkten bewertet bekam.
Haha,
ich fing an zu grinsen, hakte nach „Sie sprechen also über vier oder fünf
Punkte, Frau Fass?“ Die Jazzgymnastin mit der Notengewalt wurde nun ernsthaft
wütend und warf mir an den Kopf, daß wenigstens sie an meine Zukunft dächte,
wenn mir schon das Abitur egal sei.
Spannend
eigentlich. Die Frau verharrte soweit innerhalb ihres Tellerrandes, daß sie
sich nicht vorstellen konnte, daß eine demotivierte Nervensäge im Sport in
anderen Schulfächern ein sehr guter Schüler sein konnte – zumal ich so ziemlich
die höchst aufgetürmtes Haare der Schule trug und außer schwarz und schwarz nur
schwarz trug.
„Haha,
ach Sie möchten mir gerne nur vier Punkte geben? Bitte gerne, Sport ist mir
völlig egal!“
Im
Zeugnis standen dann übrigens nur zwei Punkte. Die Fass-Rache für mein
ungebührliches Verhalten.
In
meinem Abi waren am Ende wie geplant genau die vier Sportkurse alle „nicht
ausreichend.“ In keinem anderen Fach geriet ich aber jemals auch nur in die
leichteste Gefahr so schlecht abzuschneiden.
Die
meisten Lehrer, die ich zu meiner Schulzeit ablehnte, bedauere ich als
Erwachsener eher. Wann immer ich mal einen von ihnen später wiedergetroffen
habe, behandelte ich ihn mit großem Wohlwollen.
Mit Ausnahme
der Sportlehrer, deren Verhalten ich auch jetzt noch ziemlich erbärmlich finde.
Schwelgt
man heute in den alten Schulzeiten, könnte man annehmen, daß ich, bzw „wir
Schüler generell“ unfitte Weichlinge gewesen wären, weil wir uns solche Mühe
gaben uns um den lästigen Sportunterricht herauszuwinden.
Dabei
darf man aber nicht vergessen, daß wir noch die Generation ohne Internet und
Videospiele waren. Ich wuchs als „Draußen-Kind“ auf. Den ganzen Tag tobte man
draußen rum, raste umher, kletterte auf Bäume, fuhr Schlitten, radelte endlose
Kilometer täglich, schwamm und war überhaupt immer auf den Beinen.
Ich war
(damals) schlank und ob meiner Länge war ich auch später noch beispielsweise
bei Umzügen sehr gern gesehen, weil ich eigentlich alles heben konnte und
problemlos in jede Etage wuchten konnte.
Die
heute gängigen zivilisatorischen Jugendkrankheiten waren „zu meiner Zeit“
entweder noch gar nicht bekannt (Migräne, ADHS, Depressionen), oder aber
zumindest sehr selten (Allergien, Brille, Asthma). Und in der gesamten Schule
gab es circa drei wirklich dicke Kinder.
Ich
erinnere mich nicht, daß einer meiner Mitschüler je Tabletten genommen hätte
und die drei, die eine Brille tragen mußten, fielen damit sehr auf.
So sehr
ich als Schüler den Sportunterricht bekämpfte, weil ich ihn unfair, unnötig und
unattraktiv fand, so sehr sehe ich heute die Notwendigkeit eines körperlichen
Trainings bei Kindern ein.
Da müßte
sogar erheblich früher angesetzt werden.
Bei den
Wal-förmigen ADHS-Blagen, die Philipp Möller („Isch geh Schulhof“) in seinen Grundschulklassen
beschreibt, ist das dicke Kind schon im Brunnen.
Wer sich
im Alter von Null bis sechs Jahren noch nie bewegt hat und sich ausschließlich
von fettigem Fastfood ernährt hat, wird auch mit 2 mal 45 Minuten Schulsport
nicht mehr aus seinem physischen Phlegma gerissen.
Im
Übrigen wird Sport unter solchen Umständen nur als lästig und anstrengend
empfunden.
Seit
meiner Schulzeit hat sich offenbar einiges fundamental verändert. Körperliche Trägheit
hat exorbitant zugenommen und im Oberstübchen ist auch längst nicht mehr alles
richtig verdrahtet bei den Kindern von heute.
Keine
Kondition, keine Geschicklichkeit, keine
Motivation nirgends.
Heute
stellte das Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin die Ergebnisse der sogenannten
Kinder- und Jugendgesundheitsstudie (KiGGS) vor.
Es sieht
nicht gut aus.
Chronische Erkrankungen: Etwa jeder sechste
unter 18-Jährige leidet in Deutschland unter einer chronischen Erkrankung.
Dennoch können viele ein normales Leben führen und toben wie ihre
Gleichaltrigen. Nur jeder fünfte Betroffene sei durch seine Krankheit
eingeschränkt, heißt es in der Studie mit mehr als 12.000 befragten Eltern. Bei
den 7- bis 17-Jährigen ist die Migräne die am häufigsten verbreitete Krankheit,
fünf Prozent der Kinder klagen über die Kopfschmerzattacken. Bei den Null- bis
Sechsjährigen sind Herzkrankheiten mit zwei Prozent Betroffenen am häufigsten,
bei den Null- bis Zweijährigen sorgen sich die Eltern vor allem um
Fieberkrämpfe.
Alkohol und Zigaretten: Die Zahlen zum
Alkoholkonsum klingen alarmierend. 11,5 Prozent der 11- bis 17-Jährigen trinken
sich mindestens einmal im Monat in den Rausch - mit sechs oder mehr
alkoholischen Getränken.
[…]
Psychische Auffälligkeiten: Forscher sehen
bei vielen Kindern die Gefahr, dass sie irgendwann eine psychische Störung
entwickeln könnten. Rund ein Fünftel der 3- bis 17-Jährigen bewerteten sie als
psychisch grenzwertig auffällig oder auffällig. Die anhaltend hohe Verbreitung
psychischer Auffälligkeiten solle einerseits Anlass sein, sich stärker um die
Vorbeugung zu kümmern, schreiben die Autoren der Studie . "Andererseits
sollten die Ergebnisse auch Anlass dazu geben, die Versorgungsstrukturen zu
überprüfen, da psychische Auffälligkeiten und Störungen bei Kindern und
Jugendlichen häufig unbehandelt bleiben."
[….] ADHS
(Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung) [….] Fünf
Prozent aller Heranwachsenden haben nach Auskunft der Eltern der ersten
Erhebung zufolge die Diagnose ADHS von einem Arzt oder Psychologen bekommen.
Jungen waren mehr als viereinhalbmal häufiger betroffen als Mädchen, Kinder mit
niedrigem Sozialstatus mehr als zweieinhalbmal so häufig wie jene aus Familien
mit hohem Sozialstatus. Die Folgeuntersuchung ergab im Vergleich zur
Ersterhebung keine Veränderung.