Samstag, 17. September 2022

Danke, Olaf Scholz - Teil II

Wieso man in dieser Multi-Megakrisen-Zeit überhaupt deutscher Regierungschef sein will - bei einer vergleichsweise läppischen Bezahlung, für die kein DAX-Manager überhaupt morgens aufstehen würde - ist mir rätselhaft. Der Job ist extrem gefährlich und undankbar. Man steht permanent dem Social-Media-Shitstorm-Mob entgegen und wird für jede noch so absurde Petitesse in Haftung genommen.

Das Amt verlangt extrem kluge langfristige Entscheidungen, für die man aber immer unter extremen Zeitdruck steht. Oft kann man nur zwischen vielen schlechten Alternativen wählen, muss sich unvernünftigen Wünschen der Mehrheit widersetzen, oder kann, wie es Robert Habeck formulierte, bestenfalls eine aktuell „richtige Entscheidung“ treffen, von der aber noch niemand sagen kann, ob es eine „gute Entscheidung“ sein wird. Helmut Schmidt schätze einst, der Bundeskanzler konnte in den 1960er Jahren die Hälfte der Entscheidungen souverän treffen. In seiner Regierungszeit waren es aufgrund der vielen internationalen Abkommen, nur noch 20%. Und heute? In seiner Dreier-Koalition, in der die Kanzlerpartei weniger Sitze als die beiden Koalitionspartner zusammen hat, der zeitraffende Effekt des Internets voll durchschlägt, mehr Abhängigkeiten bestehen (China!) und noch viel mehr Rücksichten (Klima-Politik) zu nehmen sind? Was kann Olaf Scholz denn überhaupt noch allein  entscheiden?

Willy Brandt und Helmut Schmidt beschrieben eindrücklich „die Schwere des Amts“, die sie geradezu erdrückend spürten, als sie mit der Vereidigung zum Bundeskanzler Verantwortung übernahmen. Nur wenn man wirklich sehr dumm und unvorbereitet ist, freut man sich uneingeschränkt wie Trump oder Westerwelle über die Macht, die man fortan genießen wird.

Die hochkomplexe Russland-Krieg-Energie-Rezession-Waffen-Thematik zeigt sich als besonders undankbar für den Regierungschef. Die veröffentlichte Meinung ist erstaunlich einheitlich und unterkomplex: Deutschland müsse nur Waffen liefern, dann siege die Ukraine und alles wird gut. So ähnlich äußern sich gut 90% der Journalisten. Wenn Scholz das nicht tut, ist er eine „Lusche“, feige und doof. Die öffentliche Meinung scheint gespaltener zu sein, aber derzeit lehnen offenbar mehr als die Hälfte der Deutschen mehr Waffenlieferungen ab.

[…] Zwei Drittel der Befragten gehen angesichts der aktuellen Teuerungen zudem davon aus, dass die Solidarität mit der Ukraine abnehmen wird. Nur noch 27 Prozent glauben, dass Deutschland derzeit mehr für die Ukraine tun könnte. Unter ihnen dominieren vor allem die Anhänger der Grünen. 63 Prozent glauben, dass Deutschland genug für die Ukraine getan hat. Die deutsche Industrie soll deshalb auch keine Kampfpanzer direkt an die Vereinigten Staaten liefern können, sagt über die Hälfte der Befragten. Ein Drittel fordert das Gegenteil.  […]

(STERN, 20.08.2022)

Weder die Einheitlichkeit der veröffentlichten Meinungen, noch die Skepsis der meisten Bürger, sind ein Beleg für die Richtigkeit der jeweiligen Argumentation. Habeck, Lambrecht, Baerbock und Scholz werden zwar dadurch unter Druck gesetzt, es bietet ihnen aber keine Entscheidungshilfe.

Umfragen sind volatil, aber ein Trend ist klar absehbar: Je mehr sich die Bürger über enormen zusätzlichen finanziellen Belastungen und die Inflation bewußt werden, desto weniger ausgeprägt ist ihre Bereitschaft, den Ukrainern zu helfen. Die ersten Kriegsflüchtlinge im Februar wurden mit offenen Armen empfangen. Inzwischen schlägt aber der Sozialneid der Deutschen voll durch, die Ukrainern zur Verfügung gestellte Wohnungen missgönnen und die hohen Kosten kritisieren.

[….]  Hamburg am Limit: Immer mehr Geflüchtete – immer weniger Platz. Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) fand klare Worte: „Die Lage ist sehr viel angespannter, als sie sich über den Sommer anfühlte“. Die Stadt sucht händeringend nach Unterkünften für Geflüchtete aus der Ukraine. Denn wenn die Zahlen sich weiter so entwickeln, müssten im Herbst vielleicht schon 50.000 Menschen in öffentlichen Einrichtungen untergebracht werden.   [….]

(Mopo, 16.09.2022)

Vor sechs Monaten wurden noch gut die Hälfte der Geflüchteten privat untergebracht. Heute sind es weniger als 30%.

[….]  Innensenator Grote sagte, allein im Juni, Juli und August seien jeweils 2.000 Menschen aus der Ukraine gekommen, von denen jeweils 1.500 untergebracht werden mussten. Darüber hinaus seien im August 875 Flüchtlinge aus anderen Ländern nach Hamburg gekommen, von denen 700 eine Unterkunft benötigt hätten.

Die Stadt hat in diesem Jahr nach Angaben von Leonhard schon 13.000 neue Plätze geschaffen. Allerdings reicht das noch immer nicht, denn fast jeder Platz ist schon belegt. Zudem gibt es nicht ausreichend Wohnungen in Hamburg. Das heißt: Die Menschen bleiben in öffentlichen Unterkünften, weil sie keinen normalen Wohnraum finden.

Vor Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hatte Hamburg etwa 27.000 Menschen in den öffentlichen Unterkünften untergebracht. Inzwischen sind es laut Grote mehr als 43.000 Menschen. Dazu kommen noch die Menschen in Notunterkünften. Alles in allem seien es so viele Menschen wie in den drei Stadtteilen St. Georg, St. Pauli und Hamburg-Neustadt zusammen gemeldet sind. [….]

(NDR, 16.09.2022)

Insgesamt  wurden in Deutschland zwischen Ende Februar und dem 09. September 2022 wurden dem Bundesinnenministerium zufolge 1.008.635 Geflüchtete aus der Ukraine im Ausländerzentralregister (AZR) registriert.

In dieser Frage ist meine Haltung eindeutig: Es ist absolut richtig, diese gut eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland aufzunehmen und zu versorgen, auch wenn es die Behörden mitten in der Krise und bei drastischen Wohnungsmangel vor enorme logistische Probleme stellt.

Aber, auch wenn es schwer fällt, das ohne populistische Töne auszudrücken: Wenn aggressive Rechtsextreme, wie der scheidenden Ukrainische Botschafter Andrij Melnyk, Deutschland für seine „Verweigerungspolitik“ und „Blockadehaltung“ attackieren, fällt es mir schwer, nicht besserwisserisch aus der warmen Stube,  etwas Dankbarkeit dafür anzumahnen, daß Deutschland mehr als einer Millionen seiner Landsleute Sicherheit, Kost und Logis bietet.

Nazi-Freund Andrij Melnyk mit seiner Begeisterung für Hitler-Kollaborateure und antisemitische Kriegsverbrecher wie Stepan Bandera und die rechtsradikale Asow-Brigade, entwickelte seine Hitler-Affinität nicht erst in diesem Krieg, sondern pilgerte schon 2015 zum Bandera-Grab. Wer es wagt, Bandera auch nur anzusprechen, wird vom Pöbel-Botschafter sofort in einem Schwall öffentlicher Verfluchungen begraben.

Als Bundespräsident Steinmeiner zu einem Versöhnungskonzert zu Gunsten der Ukraine lud, verfiel Melnyk ebenfalls in Koprolalie und zeigte dem deutschen Staatsoberhaupt den Stinkefinger.

Das zeigt klar, Melnyk stört sich nicht nur nicht an Nazi-Symbolik, sondern befürwortet sie. Da gibt es einen Dissens zu mir und offenbar auch zu Olaf Scholz.

Nachdem die Deutschen am 22.06.1941 die Sowjetunion im Zuge des maximal verbrecherischen Unternehmens Barbarossa einen Vernichtungskrieg und das größte Kriegsverbrechen der Menschheitsgeschichte mit 53 Divisionen mit knapp über drei Millionen Soldaten, 3.600 Panzern und 600.000 Motorfahrzeugen anzettelten und bis 1945 mindestens 25 Millionen Sowjetbürger bestialisch töteten, habe ich durchaus ein Problem damit, dort erneut deutsche Panzer auffahren zu lassen. Strack-Zimmermann, Hofreiter und Löffelmann spotten darüber, aber ich bewahre gern einen Rest Moral.

 „Die Optik dieser Panzer an der Front berührt wohl eher deutsche Ängste vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte als dass sie für Russland eine rote Linie wären.“

(Militärexperte Georg Löfflmann, Assistant Professor für War Studies und US-Außenpolitik an der University of Warwick)

Die Verengung des Problems auf die Lieferung deutscher Leopard-Panzer, erscheint mir zudem immer mehr als Scheinargument, um sich gegen den Bundeskanzler zu positionieren. Der Leopard ist kein Allheilmittel. Der Leopard wird im Zweifelsfall, den Einsatz russischer ABC-Waffen wahrscheinlicher machen. Das ist nicht einfach nur meine persönliche Furcht, sondern wird offensichtlich auch im Weißen Haus von den Militärexperten erwartet.

[….] Deutschland debattiert hitzig über weitere Waffenlieferungen an Kiew. Dabei übersehen die Diskutanten aber einige handfeste Realitäten - und auch bessere Lösungen. [….] Auf Facebook waren Liebhaber schweren Militärgeräts beinahe aus dem Häuschen: "Was für ein schönes Kätzchen!", schreibt ein User. Das Heer lobte 2021 seine 30 neuen Leopard 2 A7 V für das Panzerbataillon 393 in Bad Frankenhausen lakonischer, aber doch stolz: "Das V steht für verbessert - oder wie es in der Bundeswehr heißt: kampfwertgesteigert." Der Leopard 2 A7 gilt als einer der besten Kampfpanzer der Welt. [….] Vor diesem Hintergrund tobt eine symbolisch stark aufgeladene Debatte darum, warum die Bundesregierung nicht so viele Leopard 2 an die Ukraine liefert wie nur möglich; die Regierung in Kiew fordert dies lautstark, um die Deutschen unter Druck zu setzen. [….] Die Union, viele Kommentatoren und sogar etliche Stimmen aus FDP und Grünen erwecken den Eindruck, als verweigere vor allem das Kanzleramt aus ideologischen Dogmen und Russlandversteherei den ukrainischen Verteidigern eine kriegsentscheidende Waffe. [….] Beides ist falsch, die Debatte geht an der Realität vorbei. Die Union, die jetzt so große Töne spuckt, hat bis 2021 all die Verteidigungsminister und -ministerinnen gestellt, welche die Panzertruppe auf klägliche 225 Stück geschrumpft haben. [….] Die Bundeswehr kann der Ukraine die benötigte Stückzahl gar nicht liefern. Sie verfügt derzeit nur über wenig mehr als 130 einsatzbereite Leopard 2. Von diesen gehören nur etwa die Hälfte zum modernsten Typ A7 V. Es blieben also nur einige Dutzend übrig, die man der Ukraine zum sofortigen Einsatz überlassen könnte, von der nötigen Ausbildung der Besatzungen einmal ganz abgesehen. [….]

(Joachim Käppner, SZ, 17.09.2022)

Glücklicherweise ist Olaf Scholz kein Leopard-Fanboy-Simpel, der das große Ganze aus dem Blick verliert oder ermüdet dem Druck der konservativen Großsprecher nach einfachen Panzer-Lösungen nachgibt.

[….] Die Außenministerin will eine rasche Entscheidung, und Toni Hofreiter von den Grünen wirkt, als würde er am liebsten einen Leo persönlich in die Ukraine fahren. Hurra, hurra, wir ziehen in den Krieg. [….] Von einem historischen Versagen sprechen seine Kritiker, von Totalausfall und Ignoranz. »Diese Verhinderungstaktik kostet Blut«, heißt es in der CDU. »Deutschland muss sich davon verabschieden, Ausreden für seine Untätigkeit zu finden«, kommentiert die »Financial Times«. [….]  Es geht um den Kern von Scholz' Argumentation. Da liegt er richtig. Erst einmal die Folgen zu bedenken, die eine mögliche Lieferung westlicher Kampfpanzer hätte, ist nicht unverantwortlich, sondern das Mindeste, was man von jemandem erwarten muss, der den Eid geschworen hat, Schaden von seinem Land abzuwenden. So irrational, wie Putin seit Monaten agiert, so wenig ist auszuschließen, dass er völlig durchdreht, wenn die Rohre westlicher Kampfpanzer Richtung Russland zeigen. Dass plötzlich Raketen nicht nur in die Ukraine fliegen, sondern auch ein paar Kilometer weiter. Dieser Krieg ist keine entfernte Auseinandersetzung im Indopazifik. Er tobt bei uns um die Ecke. Wünscht man sich in einer solchen Lage einen Politiker an der Macht, der agiert, als befände er sich in einem Videospiel?  Scholz führt nicht in Europa, heißt es, er komme seinem eigenen Anspruch nicht nach. Der Kanzler hat da sicher Schwächen. Aber es kann schon auch Führung sein, den Westen vor einem großen Fehler zu bewahren, anstatt einfach das zu machen, was gerade opportun erscheint. [….] Eine Niederlage würde Putin nicht überleben, also dürfte er alles dafür tun, sie abzuwenden, eine Eskalation in der Ukraine, aber womöglich auch neue Kriege an den Nato-Grenzen, mit Angriffen aufs Nato-Gebiet. Man muss nicht die Gefahr eines Atomschlags an die Wand malen, um zu erkennen, dass uns mit einer weiteren Verwicklung in den Krieg noch eine ganz andere Lage ereilen kann als heute. Wahrscheinlich ist das einer der Gründe, warum bislang auch kein anderer westlicher Partner Kampfpanzer liefern will, auch nicht die USA. [….]

(Veit Medick, SPON, 17.09.2022)