Der inhaltliche Konservatismus ist vorbei. Es gibt keine konstruktiven Elemente mehr bei den klassischen rechten Parteien Europas und Nordamerikas. Entweder, sie lösen sich vollständig auf – wie in Italien, Frankreich oder Belgien – und zerfallen in rechtsradikale und neoliberale Parteien.
Oder sie kommen der Lyse zuvor, indem sie selbst von Konstruktion auf Destruktion umstellen. Sie werden zu reinen „Dagegen“-Apologeten, die ihrer Lust an Diskriminierung frönen. Die englischen Tories, amerikanischen GOPer, ungarische Fidesz, die ÖVP haben die Transformation abgeschlossen. Die Merz-CDU befindet sich auf dem Weg dahin. Sie gibt es noch nicht zu, kann aber schon lange keine programmatischen Alternativen mehr aufzeigen und erschöpft sich darin, gegen Grüne, Ausländer, Flüchtlinge, Sozialpolitik zu polemisieren. Gegen Stromtrassen, gegen Photovoltaik, gegen Windenergie, gegen Homoehe, gegen Trans-Rechte, gegen Cannabis-Legalisierung, gegen Sterbehilfe, gegen Patientenverfügungen.
[….] Der CDU-Politiker Uwe Schummer, der bis vergangenen Herbst der Arbeitnehmergruppe in der Unionsfraktion vorsaß, warnt davor, immer wieder in dieselben Fallen zu tappen: »Mit Ressentiments macht man als christliche Partei keinen Wahlkampf. Wir haben doch schmerzlich erfahren müssen, dass man damit nur den rechten Rand stark macht.« [….] Merz schafft es offenbar nicht, seine Partei als Alternative zur Ampel zu positionieren. [….] In der jüngsten Mitarbeiterversammlung des Konrad-Adenauer-Hauses verkündete Merz, künftig wolle er aus der Parteizentrale – anders als aus der Fraktion – nicht mehr hören, wogegen die CDU sei, sondern nur noch, wofür man stehe. Doch weiß der Vorsitzende das selbst? [….] Es fehlt der Partei an langfristigen Visionen: zur Klimapolitik, zur Sozialpolitik. [….] Vorschläge, wie diese Herausforderung zu meistern sei, blieb er schuldig. [….](DER SPIEGEL 42/2022, 14.10.2022)
So läuft das. Der Parteichef pöbelt gegen Ausländer, erregt so viel Aufmerksamkeit, daß ein kleines Detail ganz untergeht: Merz lügt. Seine Behauptungen („Sozialtourismus“, „Pull-Effekt“) sind nicht belegbar, schüren aber wie erhofft Empörung im rechten Milieu.
Noch gibt es rationale Rudimente; CDUler, die anmahnen, bei der Wahrheit zu bleiben und eigene Konzepte erarbeiten wollen. Aber es bröckelt.
Die US-amerikanischen und britischen Konservativen haben bewiesen, wie man mit reinen Lügenkampagnen und einem erklecklichen Portfolio der Dinge, die man gemeinsam hasst (Schwule, Dunkelhäutige, Juden, Migranten, Wokeness, Ökos, EU, Umweltschutz, Menschenrechte) Wahlen gewinnen kann. Hauptsache dagegen und dann die superreichen Finanziers belohnen.
[….] Klar ist, dass Liz Truss – die in Westminister nicht ohne Grund den Spitznamen »menschliche Handgranate« trägt – seit 23. September nur noch Getriebene der Ereignisse ist. Seinerzeit ließ sie ihren Schatzkanzler Kwasi Kwarteng, mitten in der galoppierenden Inflation und gegen jede ökonomische Vernunft, Steuerkürzungen im Gesamtwert von rund 45 Milliarden Pfund verkünden. Wie sie das im Einzelnen zu finanzieren gedenke, ließ Truss offen, aber durch »Wachstum, Wachstum, Wachstum«, mindestens 2,5 Prozent im Jahr, werde ihre Rechnung schon aufgehen. An den Finanzmärkten sah man das anders, das Pfund rauschte in den Keller, britische Staatsanleihen wurden verramscht, die gesamte fiskalische Glaubwürdigkeit Großbritanniens stand plötzlich auf dem Spiel.
Weil Truss zudem eine Art spiegelverkehrten Robin Hood mimte – den Armen nehmen, um den Reichen zu geben – versetzte sie auch ihre eigenen Landsleute und ihre eigene Partei in Aufruhr. [….] Da Truss weder über das Charisma noch das rhetorische Geschick ihres Vorgängers Boris Johnson verfügt, verschlimmerte sie ihre Lage seither mit jeder Rechtfertigungsrede weiter. [….]
Wie schon Geistesgenosse Trump, verschleißt Truss in atemberaubenden Tempo Personal. Minister werden im Wochentakt gefeuert.
Das totale finanzielle, ökologische und ökonomische Scheitern solcher Regierungen., ist nicht unbedingt ein Nachteil, wenn man die Murdoch/Springer/FOX-Presse an seiner Seite hat und ultrareiche ultrarechte Strippenzieher die rechtspopulistischen Parteien finanzieren.
Der Urnenpöbel ist durch social Media, russische Bots und gezielte Fehlinformationen manipulierbar.
[….] Furchteinflößende Amerikaner wie die Koch-Brüder und der in Deutschland geborene Peter Thiel konnten Großbritanniens Seele online und offline kontaminieren. Lobby-Organisationen mit überzeugenden Namen verführten die britische Regierung erst und infiltrierten sie dann. Diese Regierung verfolgte seitdem anarcho-kapitalistische Ziele, mit tätiger Mithilfe von Interessenvertretern petrochemischer Unternehmen, kommerzieller Pharmafirmen und einer schrecklichen Melange aus Spionage, Geld, Extremismus, Gewalt und Kriminalität.
Spätestens seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert verschwammen die Grenzen zwischen Gangstern, Oligarchen, Plutokraten, Medienbaronen und Politikern. Im Jahre 2016 war die Demokratie im Vereinigten Königreich so weit geschwächt, dass ein Drittel der Wählerschaft ausreichte, um eine Entscheidung für den Brexit und die anschließende Übernahme der Staatsgewalt durch die Referendumsgewinner herbeizuführen. Westminster verlor rapide alle vernünftigen, reifen und rational denkenden Menschen, wir fielen in die Hände des in den USA geborenen, die amerikanischen Republikaner fetischisierenden Premierministers Boris Johnson. [….] Mittlerweile infizieren Großbritannien und die Vereinigten Staaten sich gegenseitig mit solchem politischen Denken. Wenn die Tories Sozialleistungen einäschern können, warum sollten das nicht auch die amerikanischen Republikaner können? Sie setzen auch die Transphobie als politisches Mittel ein, nachdem sie erfolgreich gegen die schottische Erste Ministerin Nicola Sturgeon in Stellung gebracht wurde, während unsere Abtreibungsgegner sich ihre Taktiken von den amerikanischen abschauen. Wir werden von politischen und wirtschaftlichen Kräften kontrolliert, die Demokratie aus Prinzip hassen und darauf aus sind, möglichst bald die Leiche des öffentlichen Gesundheitsdienstes NHS zu fleddern. Zugleich verurteilen unsere Abgeordneten und Kabinettsminister die "urbanen Eliten" und namentlich George Soros - und wir alle wissen, was sie eigentlich damit meinen. [….]
(A. L. Kennedy, SZ, 18.10.2022)
Ich sehe schwarz, und zwar dunkelschwarz.