Die Amtsgerichte brechen zusammen.
[….] Das Hamburger Amtsgericht kommt bei der Bearbeitung der eingehenden Fälle nicht mehr hinterher. Es gibt zu wenig Personal. Betroffen sind sensible Bereiche wie Unterhalts-, Vormundschafts- oder Mietklagen. Kläger:innen müssen Monate auf einen Gerichtstermin warten. [….]
„Es ist schlicht und ergreifend eine Katastrophe“, erzählt Rechtsanwältin Waltraud Zink der taz. [….] Eingereichte Klagen würden nicht weitergegeben, Schriftsätze viel zu spät versandt. „Früher war eine einfache Mietsache in einem dreiviertel Jahr durch, inzwischen habe ich Sachen, die sich seit zwei Jahren ziehen.“ Dem Personal an den Gerichten möchte Zink keinen Vorwurf machen, die seien selbst an der Belastungsgrenze oder darüber hinaus. Gehe man durch die Flure eines Gerichtsgebäudes, werde die Situation deutlich: Oft sei nur ein Viertel der Arbeitsplätze besetzt. [….]Eine „Kapitulation der Justiz“ nennt Christian Lemke, Präsident der Rechtsanwaltskammer Hamburg, die Situation am Amtsgericht in einem Schreiben an die Hamburger Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne). Menschen, die unbedingt auf die Bearbeitung ihrer Fälle angewiesen seien, dürften nicht monatelang hingehalten werden.
Ausgangspunkt für das Schreiben an die Senatorin ist eine Stellungnahme von Julia Kaufmann, Direktorin des Zivilsegments am Amtsgerichts. In dieser geht es unter anderem um eine über Monate andauernde kritische Personalsituation, um Aktenberge und um die Priorisierung der Anfragen nach Dringlichkeit.
Eine schnelle Besserung der Personalprobleme stellt das Amtsgericht nicht in Aussicht. Die Bewerbungslage sei durchweg schlecht, es mangele sowohl an Quereinsteigenden als auch an Auszubildenden. [….]Die neuen Stellen und Ausbildungsplätze zu besetzen ist derweil die Hürde, an der die Justizbehörde scheitert. Dabei wurden die Bewerbungsverfahren bereits vereinfacht und die Ausbildungen lassen sich teils im Eiltempo innerhalb eines halben Jahres absolvieren.
Weil das alles nicht ausreicht, bemüht sich die Justizbehörde auch mit Hilfe von Werbekampagnen um neues Personal. Bereits im September 2022 hatte Amtsgerichtspräsident Hans-Dietrich Rzadtki die Lage als „desolat“ bezeichnet, trotz Ausbildungsoffensive gebe es weniger Fachpersonal. Die Folge: Aktenberge. [….]
Das für mich nächstgelegene Amtsgericht ist so unterbesetzt, daß man es de facto gar nicht mehr erreichen kann. Per Mail geht prinzipiell nicht, Faxe und Briefe werden nicht beantwortet, persönliches Erscheinen ohne Termin ist verboten und die ohnehin auf ein Minimum reduzierten telefonischen Sprechzeiten funktionieren nur im Idealfall. Oft werden die Telefone gar nicht mehr besetzt.
[…..] Grundbuchamt (telefonische und persönliche Erreichbarkeit): Dienstag und Donnerstag von 9 bis 12 Uhr. […..] Nachlassgericht (telefonische Erreichbarkeit): Montag, Dienstag und Donnerstag von 9 bis 11 Uhr. Es ist mit einer Bearbeitungszeit von bis zu sechs Monaten zu rechnen. Bitte vor persönlichem Erscheinen unbedingt einen Termin vereinbaren.
Betreuungsgericht (telefonische Erreichbarkeit): Montag, Dienstag und Donnerstag von 9 bis 12 Uhr
Familiengericht (telefonische Erreichbarkeit): Montag, Dienstag und Donnerstag von 9 bis 12 Uhr [….]
Eine Bekannte musste über ein Jahr auf die Eröffnung des Testaments ihres Vaters warten, weil das Amtsgericht Barmbek, wo es verwahrt wurde, so katastrophal unterbesetzt ist, daß die niemanden mehr haben, der Nachlass-Angelegenheiten betreut. Ihr Notar war selbst als Vertreter der Notarkammer bei der Justizbehörde und sprach mit Justizsenatorin Gallina. Antwort: Jaja, wir kennen das Problem, ganz doof, das Amtsgericht ist leider arbeitsunfähig. Aber sie haben alle Stellen ausgeschrieben und als Politik das Geld bereitgestellt. Problem: Es gibt NULL Bewerbungen. GAR keine. Natürlich, der Job ist unsexy.
(….) Bei der Abfassung meines letztes Testaments, klärte mich die Notarin auf, sie habe früher dem Testamentsvollstrecker eine Frist von einem Jahr nach dem Tod des Erblassers gegeben, um die Vermächtnisse zu erfüllen.
Dies erweise sich in der Praxis zunehmend als unmöglich, da die Amtsgerichte derart überlastet wären, daß Testamentseröffnungen und Bestellung des Testamentsvollstreckers oft schon ein Jahr brauchten. Logisch, wer bereits tot ist, bekommt auf den zu bearbeitenden Aktenbergen keine hohe Priorität eingeräumt. Nun schreibt sie in ihre Testamente, der Testamentsvollstrecker habe die Vermächtnisse innerhalb eines Jahres nach der Testamentseröffnung zu erfüllen.
[…..] Immer mehr Strafverfahren, zu wenige Juristen: Bei den baden-württembergischen Staatsanwaltschaften wächst der Berg unerledigter Arbeit.
Der Deutsche Richterbund warnt angesichts der immer größer werdenden Masse an unerledigten Verfahren vor einer Überlastung der Justiz. Die Zahl neuer Fälle erreichte im vergangenen Jahr bundesweit mit mehr als 5,2 Millionen Verfahren ein Rekordhoch, wie Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn sagte. Der Aufwärtstrend setze sich fort. Ende Juni meldeten die Ermittlungsbehörden laut Richterbund fast 850.000 offene Verfahren. Die Zahl der unerledigten Fälle nahm im Vergleich zum Juni 2021 um 28 Prozent zu. In Baden-Württemberg stieg die Zahl der nicht abgeschlossenen Ermittlungsverfahren laut Richterbund um fast ein Drittel (31 Prozent). Insgesamt mehr als 75.800 Fälle sind nach Angaben der Richter und des Justizministeriums noch offen, vor zwei Jahren waren es knapp 58.000. […..]
Ich wollte mir eigentlich inzwischen selbst ein Bild vom Innenleben eines Amtsgerichtes gemacht haben, da ich seit dem 01.01.2024 hauptamtlicher Schöffenrichter bin. (….)
(Bürokratie kaputt, 26.03.2024)
Als minderer Passdeutscher und Doppelstaatler, wollte ich mich von meiner gemeinwohlorientierten Seite zeigen und ehrenamtlich aktiv werden, als ich kurz nach dem Erhalt meines deutschen Passes las, wie dringend für die neue 2023 notwendige Schöffenwahl (für die fünfjährige Amtsperiode 2024–2028) Freiwillige gesucht werden. Es gibt pro Jahr 12 Verhandlungstermine; einen pro Monat. Natürlich ist es durchaus möglich, daß bei längerer Prozessdauer zusätzliche Folgetermine notwendig werden.
Die Rolle der Schöffen ist stark! Unsere Stimmen haben genauso viel Gewicht, wie das des Berufsrichters.
Bei einem Amtsgerichtsverfahren mit drei Richtern, können die beiden Schöffen bar jedes juristischen Fachwissens den Profi überstimmen.
Unglücklicherweise wissen das gerade rechtsradikale Verschwörer und melden sich überdurchschnittlich häufig freiwillig als Schöffen. Sie urteilen oft härter als Berufsrichter und lassen ihre xenophoben Vorurteile einfließen.
Fast immer, wenn ich in der Öffentlichkeit erwähne, Schöffe zu sein, bekomme ich den Ratschlag, die Angeklagten ordentlich zu verknacken. Offenbar ist die überwältigende Mehrheit des Urnenpöbels davon überzeugt, daß Richter viel zu lasch urteilen und sympathisieren dadurch mit Politikern, die härterer Strafen fordern. Dadurch fordern immer mehr Politiker härtere Strafen, weil sie sich davon Wählerstimmen versprechen. Die Wähler hören deswegen immer mehr Rufe nach härteren Strafen, so daß sie automatisch annehmen, die Bisherigen wären nicht hart genug. Ein sich selbst verstärkender Gnadenlos-Kreislauf.
Mit solchen Ansichten konfrontiert, frage ich immer zurück „woher weißt Du denn, daß die Angeklagten alle mit einem Rüffel davon kommen?“ Natürlich bekomme ich dazu nie eine Antwort, die über ein „das weiß man doch“ hinausgehen.
Deutschland besteht also nicht nur aus 84 Millionen Virologen, 84 Millionen Militärstrategen und 84 Millionen Fußballtrainern, sondern auch aus 84 Millionen Justizexperten, die freilich bis eben gerade weder wußten, was Schöffen sind, noch wie man Schöffe wird.
Gern würde ich in diesem Blog aus dem Nähkästchen plaudern und berichten, wie es wirklich konkret zugeht, wenn im Richterzimmer das Urteil besprochen wird.
Aber das kann ich aus zwei Gründen nicht. Erstens unterliegt alles, das wir besprechen, strikter Geheimhaltung, so daß der Angeklagte noch nicht einmal erfährt, welcher Richter wie gestimmt hat.
Und zweitens sind von meinen bisherigen fünf Verhandlungsterminen im Jahr 2024 genau fünf ausgefallen.
[….] Bei den Staatsanwaltschaften in Deutschland gibt es nach Angaben des Deutschen Richterbundes immer mehr unerledigte Fälle. Im vergangenen Jahr seien 906.536 Verfahren offen gewesen. Innerhalb von zwei Jahren sei die Zahl unbearbeiteter Akten damit um ein Viertel gestiegen (2021: 727.021; 2022: 840.727). Die Zahlen gehen auf eine Umfrage bei den Justizverwaltungen der Länder zurück, die die vom Richterbund herausgegebene "Deutsche Richterzeitung" durchgeführt hat. Berücksichtigt wurden dabei nur die Verfahren gegen namentlich bekannte Beschuldigte, wie es hieß. […..]
Schöffen kann man ernennen. Juristen nicht. Der größte Mangel herrscht aber bei den Sachbearbeitern der Geschäftsstellen.
[….] Raimund Weyand, [….] arbeitete über 30 Jahre lang als Staatsanwalt in Saarbrücken. [….] Weyand berichtet von einem weiteren Krisenherd: dem fehlenden Personal in den Geschäftsstellen. Jenen Leute also, die Akten beschaffen, verschicken und archivieren, mit Gericht und Anwälten kommunizieren, Termine verwalten. »Diese Jobs sind nicht mehr attraktiv«, so Weyand. Er habe erlebt, wie Mitarbeiter nach und nach in andere Behörden wechselten, wo sie weniger Arbeit hätten und bessere Bedingungen. Das bestätigen andere Staatsanwälte. Auch aus der Polizei heißt es, man werbe aus purer Not der Justiz die Leute ab, weil man besser zahlen könne.
Rechtsstaat in Gefahr Für einen Rechtsstaat müssten diese Schilderungen Alarmsignale sein. Wenn jene, die im öffentlichen Auftrag anklagen, ihre Arbeit kaum bewältigen können, geht es an das Fundament der Verfassung. Jede Anklage sollte sauber, jedes Urteil wohlbegründet sein. Niemand darf leichtfertig angeschuldigt werden. Eigentlich. [….]
(Finn Starken, Der SPIEGEL, 21/2024)
Nicht nur der Personalmangel bringt die Justiz zum Erliegen, sondern auch die in Deutschland durch Jahrelange CSU-Zuständigkeit für Digitalisierung entstandene technische Rückständigkeit.
[….] Offenbar gibt es noch immer Behörden, die bis heute Videos über externe DVD-Laufwerke abspielen. Die Dateien dürfen allerdings nicht allzu groß sein. »Sonst ist das Laufwerk überfordert, und wir können das Video nicht verwenden«, sagt ein Staatsanwalt. Er erzählt von Anträgen, die er auf Papier erhält, in den Computer eintippt, bearbeitet, ausdruckt, unterschreibt und per Post zurück an die Polizei schickt. [….] Zurück ins Büro von Anton Gruev. Nach der digitalen Ausstattung gefragt, greift er zur Maus und öffnet das Standardprogramm der Staatsanwaltschaft. »Wenn ich jetzt mehrere Zeugen eintragen will, hängt sich das Programm wahrscheinlich auf«, sagt er und macht einen Doppelklick. Tatsächlich: »Keine Rückmeldung«, das Programm friert ein, Gruev wartet stumm. Nach einigen Sekunden gibt die Software nach. Glück gehabt. »Am Mittwoch«, sagt Gruev, »hat nichts mehr funktioniert. Da bin ich um 15 Uhr nach Hause gegangen.« [….]
(Finn Starken, Der SPIEGEL, 21/2024)
Justizminister Buschmann und Finanzminister Lindner kassierten den 2019 unter Merkel mit den Ländern geschlossenen »Pakt für den Rechtsstaat« wieder ein. Damals hatte der Bund mehr als 200 Millionen Euro dazugegeben, um 2500 neue Stellen für Richterinnen und Staatsanwälte zu schaffen. Davon will die hepatitisgelbe staatszersetzende Pest jetzt nichts mehr wissen. Selbst hochengagierte Staatsanwälte werden ausgebremst. Noch nicht einmal Homeoffice ist möglich, weil die Digitalisierung noch nicht stattgefunden hat und man kistenweise Akten in Papierform in seine Wohnung schleppen müsste.
[….] Berufseinsteigern in den Staatsanwaltschaften. Sie berichten davon, motiviert in den Staatsdienst gestartet zu sein. Und trafen auf einen Apparat, der ihnen Idealismus abverlangt. WLAN? Glückssache. Homeoffice? Viel Spaß mit den Aktenordnern auf dem Fahrrad. Und die Arbeitsbelastung? Enorm. Egal wen man fragt. Eine junge Staatsanwältin sagt, dass sie nach wenigen Wochen gebeten worden sei, auch samstags zu arbeiten. Sonst türmten sich die Vorgänge. Ein anderer Staatsanwalt, seit wenigen Monaten im Dienst, gibt zu, den Überblick verloren zu haben: »Ich sitze im Büro mit einer Akte in der Hand und habe keine Ahnung, was ich damit machen soll.« Zwölf Stunden verbringe er täglich am Schreibtisch. Eine Einführung habe er nie erhalten. Er sitze nach der Arbeit immer wieder weinend zu Hause. Sollte es so weitergehen, wolle er um seine Entlassung bitten. [….]
(Finn Starken, Der SPIEGEL, 21/2024)
Es ist Deutschland, hier.