Durch den Trumpismus wurde das Koordinatensystem der politischen Scham zerstört. Ich weiß gar nicht mehr, was ich noch fühlen soll, wenn Erdoğan die EU-Kommissionspräsidentin demonstrativ abseits sitzend platziert, wenn Putin europäische Staatsoberhäupter, wie Minderwertige am Ende Kilometer langer Tische hocken lässt oder eine amtierende EU-Außenministerin Karin Kneissl im Peinlich-Dirndl vor Putin auf die Knie sinkt.
Man schüttelt den Kopf oder lacht die Figuren aus.
Ich wurde am Ende der Schmidt- und am Anfang der Kohl-Jahre politisch sozialisiert. Natürlich gab es damals enorm viele Konservative in Deutschland, die CDU wählten und den dicken korrupten Pfälzer als Kanzler wollten. Aber selbst die härtesten SPD-Hasser und Schmidt-Gegner hätten ihm nie abgesprochen, international bella figura zu machen. Egal, auf welchem Kontinent Schmidt auftrat und welchen Staatschef er traf, man konnte immer beruhigt sein, daß er wie sein Vorgänger Brandt, einen guten Eindruck machen würde. Charismatisch, hochgebildet, polylingual. SPDler aus der Zeit konnte man bedenkenlos Reden vor einer amerikanischen Elite-Uni oder einem britischen College halten lassen. Man wußte, sie würden in geschliffenem englisch, in gut sitzenden Anzügen, intelligente Dinge sagen und die Nation nicht blamieren.
Als 1982 Kohl durch den hinterlistigen FDP-Verrat an die Macht kam, verspürten wir alle echte Scham. Es war, lange bevor der Begriff „Fremdscham“ aufkam, stets ZUM MITSCHÄMEN, wenn er auf Auslandsreisen ging. Er sprach lediglich Pfälzisch. Kein Wort englisch, musste immer einen Dolmetscher dabei haben. Er war nicht witzig, nur minimal gebildet, hatte diese unglückliche Birnenfigur und trug schlecht sitzende Anzüge. Wir litten mit, wenn er unterwegs war. Es kursierten Fettnäpfen-Karikaturen und tatsächlich leistete er sich Peinlichkeit um Peinlichkeit, so daß selbst seine konservative Amtskollegin Thatcher den Abgang des Sozis Schmidt beklagte.
Kohl schleppte Reagan auf einen SS-Friedhof, ließ Staatsgäste Saumagen fressen, blamierte sich in Polen mit dem Gang auf den Anaberg, schlug dem japanischen Kaiser mit seinen Riesenpranken auf die Schulter, zelebrierte Saunagänge mit seinen Männerfreunden und traf sich in ausgebeulter Strickjacke mit Gorbatschow, den er zuvor mit Goebbels verglichen hatte.
Ausgerechnet der deutsche Historiker Kohl redete so. Die vollen 16 Amtsjahre gruselte ich mich; sehnte mich nach Schmidt zurück, dem niemals so etwas Peinliches passiert wäre.
Es war nicht nur Kohl. Gelegentlich blamierten sich auch andere Konservative im Ausland. Man könnte es durchaus neudeutsch als konservativen „signature move“ bezeichnen, Deutschland international in Verlegenheit zu bringen. Insbesondere, wenn es um deutsche Vergangenheit ging. So begrüßte der CDU-Bundespräsident Heinrich Lübke 1962 bei einem Besuch in Liberia die Anwesenden mit „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger“ und raunte der des Deutschen mächtigen Queen Elisabeth II. bei ihrem Staatsbesuch im Schloß Brühl vor einem Konzert „Equal goes it loose“ zu.
Kohls extrem eitler Außenminister Klaus Kinkel, manövrierte sich mit Brüllanfällen gegen Israel, ins Abseits.
[….] Bundesaußenminister Klaus Kinkel (FDP) hat Israel vor einer Belastung der Beziehungen zur Europäischen Union gewarnt. »Wenn Sie es nicht lernen, mit uns zu arbeiten«, drohte Kinkel vorvergangenen Freitag Avraham Primor, dem israelischen Botschafter in Bonn, dann werde es »zu einer echten Krise« kommen. Kinkel ist verstimmt, weil er bei der Unterzeichnung des Friedensabkommens Israels mit Jordanien am 26. Oktober als Vorsitzender des EU-Ministerrates keine Rede halten durfte. Deutschland und die anderen europäischen Länder, so der deutsche Außenminister zu dem Diplomaten, würden auf Bitten Israels ständig »die Kastanien aus dem Feuer holen«. Die Europäer finanzierten den Friedensprozeß im Nahen Osten »mehr als jeder andere«, ernteten dafür jedoch nur »Verachtung und Geringschätzung. So kann es nicht weitergehen«, empörte sich der Kanzler-Stellvertreter bei dem Botschafter. Besonders aufgebracht war Kinkel, weil sein russischer Kollege Andrej Kosyrew bei der Friedensfeier sprechen durfte. Rußlands Beitrag zum Friedensprozeß sei jedoch vergleichsweise dürftig gewesen. »Sogar die paar Rubel, die er hat, bekommt er von uns«, beschwerte sich Kinkel bei Primor, »und ihn ziehen Sie uns vor!« Die israelische Tageszeitung Maariv fragte vergangene Woche, ob Kinkel tatsächlich so »naiv und unsensibel« sei, sich nicht vorstellen zu können, »welches Schauern es in jedem Israeli hervorgerufen hätte«, wenn auf der Unterzeichnungszeremonie ausgerechnet »ein Vertreter Deutschlands eine Begrüßungsrede« gehalten hätte. [….]
(SPIEGEL 1994)
Das war wirklich zum Mitschämen; ich bekomme heute noch eine Gänsehaut vor Grusel, wenn ich mich an die Episode erinnere.
Übertroffen wurde das allerdings 1994 noch vom CSU-Bundespräsidenten Roman Herzog, der ausgerechnet in Polen mit peinlichster Unkenntnis über die deutsche Schreckensherrschaft – die Deutschen hatten 1939-1944 jeden fünften Polen getötet – auffiel.
[….] Eigentlich wollte Roman Herzog auch gar nicht über das Ausland sprechen, sondern über das Inland, über die Notwendigkeit, der jungen Generation in Deutschland jene Erfahrungen mit der Nazizeit zu vermitteln, die die Zeitgenossen so häufig „aus Schuld- und Schamgefühl“ verdrängt haben. Um diesem begrüßenswerten Ziel näherzukommen, bedarf es nach Herzog „neuer Sprachregelungen“. Hoffen wir, daß Herzog diesen der Praxis bürokratischer Normierung entlehnten Ausdruck weder wörtlich noch übertragen meinte, sondern einfach sagen wollte, daß wir die Schreckensgeschichte des Nazismus unsern Kindern auf lebendige und bewegende Weise näher bringen sollten. Hierzu also will Roman Herzog einen Beitrag leisten, durch einen Besuch in Warschau am 1. August, anläßlich des 50. Jahrestages des Aufstands.
Welches Aufstands? Daß unser Präsident bei Gelegenheit seines Besuchs „im Warschauer Ghetto sein will“, legt die Vermutung nahe, daß er den Warschauer Aufstand 1944 mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 verwechselt. In diesem Falle käme er ein Jahr zu spät. Ein solcher Besuch wäre auch nicht durchführbar, denn das Ghetto existiert nicht mehr. Was die Nazis von ihm übrigließen, fiel nach 1945 vollständig der Stadterneuerung zum Opfer. Falls der Präsident aber den Warschauer Aufstand von 1944 meint, so wäre der Besuch einer der nationalen Gedenkstätten naheliegend, die diesem Aufstand gewidmet sind.
Oder will der Präsident anläßlich des Gedenkens für den Warschauer Aufstand in besonderer Weise des jüdischen Widerstands gedenken? Tatsache ist, daß eine Reihe überlebender jüdischer Bürger Polens sich dem Aufstand von 1944 anschlossen — sie konnten das aber in der Regel nur tun, indem sie ihre Glaubenszugehörigkeit verleugneten. Der ganze Komplex des Verhältnisses von polnischem und jüdischem Widerstand ist im heutigen Polen zu kontrovers, so emotionsbeladen, daß die Stellungnahme eines deutschen Staatsgasts ungefähr das letzte ist, was dem deutsch- polnischen Verhältnis nottäte. […..]
Ich habe mich so geschämt für Deutschland. Das war auch einer der Hauptgründe über meine Freude der rotgrünen Regierungsübernahme 1998. Endlich konnte man wieder entspannt mitverfolgen, wie Schröder und Fischer im Ausland auftraten und Deutschlands Ansehen in der Welt enorm verbesserten. Insbesondere die intensiven Bemühungen, um den illegalen Angriffskrieg auf den Irak 2003 zu verhindern, sowie die Zwangsarbeiterentschädigung, wurden Deutschland nicht nur im Nahen Osten hoch angerechnet.
Ab Januar 2001 waren es die USA, die in Person von George W. Bush und Rumsfeld dieses schreckliche Mitschämen auslösten. Ich habe meine Mutter, die Amerika so sehr liebte und Bill Clinton verehrte, sogar einmal weinen gesehen, als GWB nach Europa reiste, um für den Krieg zu trommeln und dem spanischen KÖNIG Juan Carlos, der ihm am Flughafen begrüßte, entgegnete, er freue sich, in der REPUBLIK Spanien zu sein. GWB brachte es nach Lübke und Kohl wieder zur meisterhaften Fettnapf-Treffsicherheit und produzierte, wo er hinkam, Peinlichkeits-Skandale. So hielt er die in Mexiko gesprochene Sprache für „mexikanisch“ und fragte seinen Amtskollegen in Brasilien, ob sie eigentlich auch Schwarze hätten.
Die Regel war eigentlich, daß Außenminister, Präsidenten und Regierungschefs gebildet und so diplomatisch versiert waren, daß sie eben nicht peinlich auffielen, wenn sie außerhalb ihrer Landesgrenzen ihr Volk repräsentierten. Deswegen waren "I know the human being and fish can coexist peacefully"-GWB und Saumagen-Kohl so ungeheuer peinlich und auffällig.
Aber eine Generation weiter, nachdem uns Internet und Social Media so verblödet haben, daß überall auf der Welt die groteskesten Clowns in die Regierung gewählt werden, wäre ein tobender Kinkel kaum noch eine Meldung wert.
Das Mitschämen ist zum Dauerzustand nivelliert. Erdoğan, Berlusconi, Duterte, Bolsonaro, Trump, Johnson sind permanente Realität. Als professionelle Tabubrecher, unterbieten sie sich täglich selbst. Zudem lauern überall noch schlimmere rechtsextrem debilisierte Lautsprecher, die ebenfalls vom Urnenpöbel umjubelt werden.
Die ungeheuerlichen Entgleisungen Sahra Sarrazins und Höckes, sind so alltäglich, daß man sich an die NS-Anleihen gewöhnt und gar nicht mehr nachfragt, ob sie aus Bösartigkeit oder Dummheit ihren Unsinn von sich geben. Wagenknecht liebt Putin und hasst Israel. So viel ist klar. Aber lügt sie bewußt über Gaza und die Ukraine, um ihre rechtspopulistischen Wähler aufzuhetzen, oder weiß sie als Deutsche wirklich nicht besser, was ein „Vernichtungskrieg“ ist?
Schämt sie sich denn gar nicht, ausgerechnet wenige Tage vor den Wahlen in zwei Bundesländern, die erstmals eine relative faschistische Mehrheit in zwei Landtage bringen könnten, einen Krieg mit dem Zentralrat der Juden anzuzetteln?
Was ist das nur für ein moralisch völlig verkommenes Weib?
[….] Das Grauen, das Hitlerdeutschland 1941 gegen die Sowjetunion entfesselte, nennen die Historiker heute Vernichtungskrieg. Er war nicht, nach dem preußischen Militärtheoretiker Clausewitz, die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Er war das Ende jeder Politik, ein Wahnsinn mit Methode; sein Ziel war eine rassistisch motivierte, völlige Zerstörung von Staat und Gesellschaft durch Massenmord und Versklavung, er begleitete den Holocaust, die Ermordung von sechs Millionen jüdischer Menschen.
Dennoch wird der historisch so schrecklich klar belegte Begriff inflationär in Debatten über heutige bewaffnete Konflikte gebraucht. Putins Russland führt in der Ukraine einen verbrecherischen Angriffskrieg, seine Armee begeht entsetzliche Kriegsverbrechen. Netanjahus Israel hat auf das antisemitische Pogrom der Hamas mit einem Feldzug geantwortet, der jenseits legitimer Selbstverteidigung Tausende ziviler Todesopfer forderte und weiterhin fordert. Aber keiner von beiden Kriegen ist ein Vernichtungskrieg im Sinne des Zivilisationsbruches durch die Nazis. Es ist nicht anzunehmen, dass Sahra Wagenknecht das nicht weiß, wenn sie Israel einen „Vernichtungsfeldzug“ gegen die Palästinenser vorwirft.
Die Frontfrau des nach ihr benannten Bündnisses BSW würde dergleichen selbstredend niemals über Putins Krieg sagen, für den sie gern so viele Entschuldigungen vorbringt. Den Begriff gegenüber dem jüdischen Staat zu verwenden, ist eine kalkulierte Geschmacklosigkeit, für die sie der Zentralrat der Juden in Deutschland völlig zu Recht kritisiert, [….]