Montag, 27. Februar 2023

Der mühsame Fortschritt aus der christlichen Umklammerung

Deutschland ist, wie fast alle anderen Europäischen Länder, natürlich eine christliche Nation. In dem Sinne, daß die christliche Kirche rund 1.500 Jahre allein ihre Wertvorstellungen durchdrücken konnte und damit auch ihre intoleranten anti-humanistischen Vorstellungen einer primitiven Hirtenkultur in das weltliche Recht einpflegte. 

Sklaverei, insbesondere in der deutschen Form der Leibeigenschaft, mit dem netten christlichen „Ius prima Noctis“, also dem Recht des Lehensherrn, bei jeder Eheschließung zuerst mit der Frau zu kopulieren, wurde erst im Zuge der Aufklärung im frühen 19. Jahrhundert abgeschafft. Im Königreich Bayern 1808, im Königreich Hannover 1833, im Großherzogtum Hessen 1813, Fürstentum Lippe 1809, Herzogtum Oldenburg 1814, Preußen 1811, Sachsen 1832, usw.

Das Frauenwahlrecht konnten die Kirchen bis 1918 verhindern.

Die Nürnberger Rassegesetze endeten erst 1945 mit dem Sieg der Alliierten über Deutschland. Volle Bürgerrechte bekamen deutsche Juden mit dem Grundgesetz 1949.

Und mit unserer wunderbaren deutschen Verfassung durften Frauen weder ohne Zustimmung des Mannes eine Arbeitsstelle annehmen, noch ein Konto eröffnen. Sie durften sogar in der Ehe straflos vergewaltigt werden.

Wussten Sie, [….] dass eine Ehefrau bis in die 50er Jahre hinein nicht ohne Zustimmung ihres Mannes arbeiten durfte? Unglaublich, aus heutiger Sicht, dass wir diese Rechte erst seit ein oder zwei Generationen besitzen. Denn für uns sind das Recht auf Arbeit sowie das Wahlrecht mittlerweile selbstverständlich.  [….] Die Möglichkeit zu arbeiten und selbst über das eigene Leben zu entscheiden war in der Jugend unserer Eltern und Großeltern noch alles anderes als selbstverständlich. Großmutters Satz "Das hätte es früher nicht gegeben!" ist in vielen Fällen leider traurige Wahrheit.

So galt bis Ende der 50er Jahre das "Letztentscheidungsrecht" des Ehemannes in allen Eheangelegenheiten. Und dieses Recht hatte es in sich: Beruf, Führerschein, Kindererziehung, eigenes Geld und Konto - all das wurde per Gesetz zu Gunsten des Mannes geregelt. So hatte der Ehemann das Recht, über das Geld seiner Ehefrau frei zu verfügen. Und das betraf nicht nur ihr Einkommen, sondern auch das Geld, das sie mit in die Ehe gebracht hatte. Frauen konnten noch nicht einmal ein eigenes Konto eröffnen. Der Mann konnte sogar den Job seiner Frau ohne deren Zustimmung kündigen.

Diesen Missständen wurde erstmals am 1. Juli 1958 begegnet, als das Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf Grundlage des bürgerlichen Rechts in Kraft trat. Mit dem neuen Gesetz wurden unter anderem die Vorrechte des Vaters bei der Kindererziehung eingeschränkt. Es sollte jedoch noch bis zum Jahr 1977 dauern, bis Frauen ohne Einverständnis ihres Mannes erwerbstätig sein durften und es keine gesetzlich vorgeschrieben Aufgabenteilung in der Ehe mehr gab.

[….] Frauen durften  [….]  bis 1958 nur dann ihren Führerschein machen, wenn ihr Mann oder ihr Vater die Erlaubnis dazu erteilte.

(Go feminin)

(Ungleichzeitige Entwicklungen, 21.06.2016)

Der Paragraph 175, mit dem Myriaden Männer ins Gefängnis geschickt wurden, weil sie sich verliebt hatten, wurde 1969 gelockert und erst am  11. Juni 1994 gestrichen. Erbärmlich!

Die Prügelstrafe verschwand in den 1970ern; als letztes Bundesland setzte Bayern das Verbot, Kinder grün und blau zu schlagen, im Jahr 1983 um. Schweren Herzens, denn die Bibel fordert ausdrücklich, seine Kinder zu prügeln.

Das Recht, seine Ehefrau straffrei zu vergewaltigen, wurde sogar erst 1997 gegen die Stimmen der meisten CDUCSU-Abgeordneten, zB Friedrich Merz, verändert.

Es dauerte bis 2017, als endlich die in der Bibel verdammten Homosexuellen heiraten durften.

Es ist noch Luft nach oben. Immer noch blockieren Wahnvorstellungen von der männlichen Superiorität und der apokalyptischen „macht euch die Erde unteran“-Haltung den Humanismus.

So wie wir uns heute dafür schämen, erst so spät begriffen zu haben, daß man Menschen nicht dafür, wen sie lieben, ins Gefängnis steckt, oder aufgrund ihrer Genitalien Rechte vorenthält, werden uns in 100 Jahren unsere Nachfahren (sofern wir uns bis dahin nicht ausgerottet haben) dafür verachten, was wir im Jahr 2023 immer noch nicht erkannten.

Es stehen noch viele Trans- und Queerenrechte aus, der Ehebegriff muss erweitert werden, selbstverständlich darf ein Menschen nicht mehr gegen seinen Willen gezwungen werden, unter grauenvollen Schmerzen am Leben zu bleiben. Das Recht auf Suizid muss genau verankert werden, wie die Genitalverstümmelung an Babys illegal werden wird. Man wird sich fassungslos fragen, wie es legal und kostenlos sein konnte, die Umwelt zu zerstören und Tiere in gigantischen Zuchtbetrieben und erbärmlichen Bedingen turbomäßig zu mästen und zu schlachten.

Das deutsche Recht hat noch viel Nachhilfebedarf.

Zum Beispiel dürfen Brüder in Deutschland Sex miteinander haben. Es dürfen Schwestern miteinander Sex haben. Verboten ist aber Sex zwischen Bruder und Schwester. Hier ist tatsächlich heterosexueller Verkehr juristisch schlechter als Homosexueller gestellt. Absurd. Das Inzest-Tabu gehört abgeschafft.

Alle Regelungen, die das Sexualleben erwachsener Menschen von einer vorgeblich höheren moralischen Position aus reglementieren, gehören abgeschafft. Auch der individuelle Drogenkonsum gehört liberalisiert.

Eine höchst abstruse Regelung, der Paragraph 2018, betrifft ebenfalls das Selbstbestimmungsrecht der Frauen. Es ist aber ein Kernanliegen der Kirchen und der Konservativen, Frauen, das Recht über ihren eigenen Körper, vorzuenthalten.

Das ist schon deswegen absurd, weil es die Kirche nichts angeht und keine Christin gezwungen wird, abzutreiben. So wie auch kein Christ durch die „Homoehe“ 2017 gezwungen wurde, seine heterosexuelle Ehe in eine Homosexuelle umzuwandeln.

If you don't believe in gay marriage, you're a dickhead. Because its got nothing to do with you...If you hate gay marriage you know what you should do? Don't marry a gay person.“

(JJ, 2014)

Bei der Frage der Schwangerschaftsunterbrechung wird es aber doppelt absurd, weil die Frauenfeinde aus Kirche und C-Parteien, das Argument vorschieben, sie wollten das Leben an sich schützen, also weniger Abtreibungen erreichen.

Dabei geht bei Liberalisierung der Abtreibungsrechte, die Zahl der Abtreibungen zurück, weil die Frauen nicht mehr unter Druck gesetzt werden.

Der §218 gehört genau wie der §219a ersatzlos gestrichen.

[…] Sind Abtreibungen bald nicht mehr strafbar?

Die Ampel überlegt, den Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Eine Kommission soll in Kürze die Entkriminalisierung durchspielen[…] Die Ampelkoalition hat sich vorgenommen, »Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuchs« zu prüfen. So steht es im Koalitionsvertrag. […] Unter den Mitgliedern ist etwa die Vorsitzende des deutschen Juristinnenbundes, Maria Wersig. Ihr Verein hatte bereits ein Gutachten erstellt, in dem die Juristinnen feststellen, wie der Paragraf 218 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden könnte und anmerken, wie rückschrittlich das deutsche Recht in diesem Punkt ist.  [….]

(SPON, 27.02.2023)

Gegen eine Streichung des §218 gibt es erheblichen Widerstand aus den misogynen Kreisen – Kirche, AfD, CDU, CSU und Marco Buschmann.

Es wird aber wie beim Frauenwahlrecht oder der Leibeigenschaft doch irgendwann passieren. Mögen sich die Christen auch noch so sehr gegen Menschenrechte sperren.