Mittwoch, 4. November 2020

Amerika hat den Charaktertest nicht bestanden

 

Was seit meinem letzten Eintrag geschah:
Durch Corona und die extrem konfrontative Stimmung in den USA stieg die Wahlbeteiligung generell an, während gleichzeitig der Anteil der Briefwahlstimmen und vorzeitig abgegebenen Stimmen überproportional anstieg.

Da Trump und die Republikaner seit Monaten massiv „voter supression“ betreiben, wurde die Möglichkeit der vorzeitigen Stimmabgabe eher von Biden-Anhängern genutzt.

Die 50 Bundesstaaten zählen die Stimmen in unterschiedlicher Reihenfolge. Einige beginnen mit den Briefwahl- und early-voting-Stimmen, so daß sich am Beginn der Auszählung ein klarer Biden-Vorsprung zeigte. Das war in North-Carolina, Georgia, Ohio und zum Beispiel auch Texas der Fall. Alle vier Staaten hatte Trump 2016 gewonnen, aber nun sah anfangs es aus, als ob Biden sie holen könnte. North Carolina und Ohio hätten schon ausgereicht, um Biden ins Weiße Haus einziehen zu lassen.

Große Freude also bei den Demokraten; da fiel die Enttäuschung über das überraschend klar an Trump gehende Florida gar nicht mehr auf.

Sollte Biden etwa zu dem erwarteten und erhofften Durchmarsch kommen?

Bei fortschreitender Auszählung holte aber Trump auf und ging in allen vier genannten Staaten in Führung. Es wurde schlimmer.

Trump führte bald auch in den eigentlich sicher wieder demokratisch geltenden Rust-belt-Staaten Michigan, Wisconsin und Pennsylvania. In diesen drei Staaten hatte er 2016 wider Erwarten sehr knapp gewonnen. Vier Jahre später ging er dort sogar noch deutlicher in Führung. Trump schien der sichere Wahlsieger zu sein.

Aber dort wird in genau umgekehrter Reihenfolge gezählt: Erst die am Wahltag abgegebenen Stimmen und anschließend die mail-in-votes aus den demokratischen Hochburgen. Trumps Vorsprung in den nördlichen blue-collar-States schrumpfte also und der Diktator tat genau das was Bernie Sanders prophezeit hatte: Wüst lügend und betrügend erklärte er sich selbst zum Sieger und verlangte die Stimmauszählung in den Staaten, in denen er vor lag zu stoppen.

What president Trump just said was undemocratic and false and premature. It is not accurate to say that he won.”

-      Jake Tapper, CNN, 04.11.2020

“And I think our founding fathers are probably rolling in their graves right now, they did not in vision a president of the United States delegitimizing an American election and that is what the president just did a few moments ago. It is historic and it is historically awful.”

-      Jim Acosta, CNN, 04.11.2020

Im weiteren Verlauf der Wahlnacht kam es zum einzigen echten „Flip“: Joe Biden holte mutmaßlich knapp John McCains Bundesstaat Arizona und prompt schlug ausgerechnet FOX die 11 Wahlmänner des sun-belt-Staates Joe Biden zu.

Das Trump-Headquarter wurde fortlaufend wütender und aggressiver, als nämlich in Wisconsin und Michigan Trumps Vorsprung schließlich ganz aufgezehrt war und die Fernsehsender begannen die beiden Länder hellblau einzufärben. Das wären nämlich weitere 26 Wahlmänner für Biden. Sollte er auch Arizona und Nevada holen, wäre er, ganz ganz knapp, mit 271 (bei 270 notwendigen) Wahlmännern mutmaßlich nächster US-Präsident.

Trump tobt derzeit immer hysterischer, führt sich auch wie ein lobotomierter Erdoğan auf Speed. In Pennsylvania, aber auch North Carolina und Georgia – dort führt Trump  - müsse sofort aufgehört werden Stimmen auszuzählen.

Der Präsident lügt dabei bewußt, es würden noch nach der Schließung der Wahllokale neue Stimmen abgegeben werden und neu auftauchen.

Das ist falsch! Die „neuen“ Stimmen, die noch gezählt werden, lagen alle rechtzeitig vor und wurden keineswegs erst nach dem Ende der Wahl abgegeben. Sie werden aber noch gezählt. Es wird gezählt und nicht mehr gewählt.

Besonders bizarr, sogar absolut grotesk sind die Forderungen der Trump-Kampagne allerdings unbedingt in den westlichen Staaten Nevada und Arizona weiter zu zählen. Denn dort liegt Trump sehr knapp hinten und hofft bei weiterer Auszählung Biden doch noch zu überholen.

„There is an intellectual inconsistency in the Trump argument!”

-      John King, CNN, 04.11.2020

Es ist absurd; das Kernelement der Demokratie, nämlich jede abgegebene Stimme zu zählen, wird vom Präsidenten selbst attackiert. Aber nur wenn es ihm nützt.

In den Staaten, in denen er führt, soll die Zählung abgebrochen werden. Wo er hinten liegt, muss weiter gezählt werden.

„Keep counting“ oder „Stop counting“ werden je nachdem wie es gerade am besten passt gleichzeitig gefordert.

Beide Kandidaten können also noch gewinnen, je nach dem Ausgang in den wenigen noch zählenden sehr knappen Bundesstaaten Georgia, North Carolina, Michigan, Wisconsin, Pennsylvania, Nevada und Arizona.

Es gibt derzeit ganz leichte Vorteile für Biden, da die bisher noch nicht ausgezählten Stimmen mehrheitlich aus demokratischen Gegenden stammen. Aber es ist extrem knapp.

Bis hierher handelt es sich um eine rein an den Fakten orientierte Zahlenanalyse. Niemand außer rechten Verschwörungstheoretikern zweifelt die offiziellen Daten an.

Nun aber zu dem verschwörungstheoretischen Teil:
2016 war der Trump-Sieg überraschend, weil vorher viel zu sehr auf die „popular votes“ geguckt wurde. Landesweit lag Hillary Clinton immer zwei bis zwei Prozentpunkte vor Trump.

Tatsächlich gewann Clinton auch mit 2,2% Vorsprung; beinahe drei Millionen Stimmen; landesweit vor Trump. Nur wegen des extrem die Republikaner bevorzugenden Wahlsystems wurde der orange Pöbler Präsident.

Die Umfragen vor vier Jahren waren also durchaus zutreffend; man hatte allerdings falsch interpretiert, indem man aus der Stimmenmehrheit auch auf den Wahlausgang schloss.

Das sollte dieses Jahr anders werden. Es wurde eine Fülle von Umfragen in den einzelnen Bundesstaaten gemacht. Insbesondere in den entscheidenden blue-collar-battlegrounds, die Trump vor vier Jahren überraschend gewonnen hatte.

In fast allen Rennen lag Biden deutlich vorn.

Außerdem war sein bundesweiter Vorsprung in allen Umfragen mit rund zehn Prozent gemessen worden und damit so erheblich größer als die zwei bis drei Prozent-Führung Clintons, daß selbst das absurde US-Wahlsystem nicht so eine enorme Verzerrung bewirken könnte, um Trump vorbei ziehen zu lassen.

Im Gegensatz zu 2016 lagen dieses Jahr aber alle Umfragen DRASTISCH falsch.

Auf nationaler Ebene lag Biden in der letzten Woche in den Umfragen zwischen sieben und elf Prozent vorn. Tatsächlich sind es bisher aber „nur“ zwei Prozentpunkte.

Biden 50.3% = 69.470.630  Stimmen und Trump 48.2% = 66.591.121 Stimmen.

Das entspräche genau dem Clinton-Ergebnis von 2016: Gute zwei Prozentpunkte und drei Millionen Stimmen Vorsprung für Biden. Damit könnte Trump dennoch Präsident werden, weil es eben nicht der erwartete Zehn-Prozent-Abstand ist.

In einigen Bundesstaaten ist das Missverhältnis sogar noch extremer.

Alle Umfragen in Florida sahen Biden klar vorn, teilweise bis zu acht Prozentpunkte.


Tatsächlich gewann Trump mit 3,4% Vorsprung. Eine Abweichung von zehn Prozent zu den Umfragen zu Ungunsten Bidens.

In den Umfragen aus Georgia lag Biden zuletzt zwei bis neun Prozentpunkte vorn.


Tatsächlich liegt Trump zwei Prozent vorn. Zehn Prozent Abweichung zu Ungunsten Bidens.

In Michigan waren 7% bis 13% Biden-Vorsprung prognostiziert. Tatsächlich liegt Biden nur wenige Zehntel vor Trump. Eine Abweichung von zehn Prozent zu den Umfragen zu Ungunsten Bidens.

North-Carolina: zwei bis acht Prozentpunkte Biden-Vorsprung.

Tatsächlich liegt Trump 1,5% vorn. Eine Abweichung von zehn Prozent zu den Umfragen zu Ungunsten Bidens.

Pennsylvania: Fünf Prozentpunkte Biden-Führung in den Umfragen, tatsächlich steht es gerade 53% zu 45% für Trump. Eine Abweichung von 13 Prozent zu den Umfragen zu Ungunsten Bidens.

Wisconsin: 8% bis 13% Biden-Führung in allen Umfragen.

Tatsächlich liegt Biden nur wenige Zehntel vor Trump. Eine Abweichung von zehn Prozent zu den Umfragen zu Ungunsten Bidens.

Dabei hatten alle Pollster versichert die sich nicht ehrlich zu Trump bekennenden Wähler durch einen empirischen Faktor zu berücksichtigen. Die Umfragen sollten präziser denn je sein.

Und nun haben sich alle Institute in allen Staaten so grob verschätzt?

Sicher ist nur, daß die Bürger der USA moralisch versagt haben.

Tumb grinsend erklären die Trumpisten ihr Idol deswegen zu verehren, weil er immer so ehrlich sei. Der Mann mit den über 20.000 Lügen, den ständigen Angriffen auf die Verfassung und dem Berg aus 225.000 Covid19-Toten.

Ein anständiges Volk hätte Trump und die Republikaner mit einer Blue Wave weggefegt, so daß die GOP-Nebelkerzen, um das Ergebnis anzuzweifeln gar nicht.

Erschreckenderweise gelang auch der hoch erwartete demokratische Durchmarsch im Senat nicht.

In Georgia I liegt der brillante junge Demokrat Jon Ossoff mit 47% zu 51% hinter dem offen rassistischen David Perdue.

Mitch McConnell, der Trump-Enabler, der seit Monaten dafür sorgt den hungernden und darbenden Corona-Opfern jede staatliche Hilfe zu versagen, gewinnt seine US-Senatswahl in Kentucky mit 58% zu 37%.

Susanne Collins, hochumstrittene Umfallerin und ständiges Ziel von Lincoln-Project-Attack-Videos holte ihren Senatorensitz in Maine mit 50% zu 42%.

Sogar die extrem verlogene und heuchlerische Lindsey Graham, die neben Moscow-Mitch erbärmlichste Figur im US-Senat gewinnt mit 56% zu 42% in South Carolina gegen Jamie Harrison.

Unglaublich, auch wenn Biden noch knapp gewinnen sollte, haben die Amerikaner ihm wieder einen „Deadlocked Congress“ beschert, also ein arbeitswilliges demokratisches House, dessen Gesetzentwürfe allesamt von den ultrarechten Steinzeit-Senatoren der GOP abgeblockt werden.

Die Amerikaner haben moralisch und charakterlich versagt, indem sie diese Wahl überhaupt knapp werden ließen.

Und sie haben ihre ganze Dummheit bewiesen, indem sie wieder die republikanischen Blockade-Senatoren ermächtigten, die genau zu der Untätigkeit des Kongresses führen, die das Volk so verabscheut.

Waffen, Bibel, Abtreibung, Rassismus, Einwanderer raus, keine Krankenversicherung, scheiß auf Umweltschutz – das sind die entscheidenden Faktoren für die amerikanische Wählerschaft.
Zeit, meinen US-Pass loszuwerden.