Dienstag, 3. Juni 2014

Ich bin alt und konservativ.



Es kommt immer wieder vor, daß ich mit Gleichaltrigen über unsere Schulzeit sinniere.
Damals lief die Zeit bekanntlich viel langsamer. Man war beispielsweise sein halbes Leben lang 15 und wartete ewig darauf 16 zu werden.
Zwischen 25 und 26 verrinnt die Zeit deutlich schneller. Das Jahr von 35 auf 36 ist in einem Fingerschnippen erledigt und 45 oder 46 kann man gar nicht mehr als Unterschied wahrnehmen, weil da die Jahre wie Sekunden wegtickern.

Da die Teenagerzeit also subjektiv extrem lang war und sehr intensiv mit vielen Veränderungen gelebt wurde, erinnert man sich in der Regel sehr gut daran.
Der Schulunterricht ist mir noch extrem präsent; ich erinnere mich an alle Lehrer und weiß teilweise sogar noch die Stundenpläne. Der grausige Donnerstag in der SIII/SIV beispielsweise, als man in der Nullten Stunde English hatte, dann zwei Freistunden, gefolgt von vierstündigen Naturwissenschaftsblock und erneut zwei Freistunden bis schließlich am Nachmittag die unerträgliche Doppelstunde Psychologie bei der ständig verwirrten Frau Kirchbuddler kam.
Eine dieser abwesenden Lehrerinnen, die einem nach einer ausführlichen Stellungnahme anlächelte und sagte „Entschuldigen Sie, ich habe gar nicht zugehört, könnten Sie noch mal wiederholen was Sie gesagt haben?“.
In den legendären 80er Jahren gab es zwar poppige Frisuren und spacige Mode, aber dafür bei Weitem nicht den Komfort, den heutige Schüler genießen.
Klar, wir kannten weder Computer noch Handy. Aber es gab auch keine Aufenthaltsräume, keine Cafeteria, nichts.
Man mußte einfach draußen vor den Oberstufenräumen warten. Und im Winter ist das nicht so lustig – außer man wohnte zufällig so nah an der Schule, daß es sich lohnte nach Hause zu gehen.
Ich fuhr immer mit dem Bus ins nächste Einkaufzentrum. 12 Minuten Fahrt und  dort ab ins Kaufhofcafé.
70er Jahre Schick mit braunen abgewetzten Cord-Bänken und Plastikgeschirr.
Selbstbedienung, extra trostlose Deko und der Becher Automatencafé für eine Mark.
Bei einer Freistunde hatte man genau 20 Minuten Zeit bis man wieder zum Bus mußte, um zurück zur Schule zu fahren.
Ich könnte heute noch genau die Anordnung der Tische aufzeichnen.
An manchen Tagen hockte man länger im Kaufhof-Café als in der Schule. Natürlich mußte immer einer auf den Eingang gucken – für den Fall, daß ein Lehrer reinkam, dessen Unterricht man zuvor geschwänzt hatte.
Die lähmende Ödnis der Kaufhof-Gastronomie wirkte erstaunlicherweise immer noch attraktiver, als wieder aufzubrechen, um zurück zu Schule zu fahren.
Oft blieb man also einfach sitzen und beobachtete die anderen Gäste, welche diese geilen Kümmelstangen mit Käse für Zweimarkfuffzich aßen.
Oder Nudelsalat; Portion für zwei achtzig.
Als Schüler waren die finanziellen Mittel allerdings begrenzt. Das gesamte Taschengeld ging natürlich für Kaffee und Zigaretten drauf. Aber das stillte ja ohnehin den Hunger. Man sparte sich das Geld für Sinnvolleres. Und ein Gramm Dope kostete auch immerhin mindestens acht Mark.
Ich kann mich sowieso nicht erinnern in meiner Schulzeit gegessen zu haben.
In der Schule gab es nichts, im Einkaufszentrum war es zu teuer, VOR der Schule war es zu früh und schon gar nicht hätte ich mir was zu essen in die Schule mitgenommen – das war nur was für die echten Deppen.
Eigenartigerweise erinnere ich mich nicht daran mich jemals gelangweilt zu haben.
Irgendetwas heckte man immer aus, plante man.
Neben den Schulbüchern befand sich in der Schultasche eigentlich immer nur eins dieser dicken Din-A4-Ringbücher mit kariertem bräunlichem Umweltschutzpapier. Daran klemmten ein oder zwei schwarze GeHa-Inkys, mit denen man quasi ununterbrochen irgendetwas kritzelte, schrieb, zeichnete, ausmalte.
Darauf verfasste man Aufsätze, rechnete Matheaufgaben, konstruierte neue Schimpfworte, malte Karikaturen und notierte alles Wissenswerte.

Wenn man sich so in seine eigene Schulzeit zurückfallen läßt, ist es nahezu unvermeidbar sich mit den Möglichkeiten der heutigen Jugendlichen auseinanderzusetzen.
Durch iPhones und Internet muß ihr Leben ungeheuerlich vereinfacht sein. Ein einziges Zuckerschlecken. Aber diese technischen Möglichkeiten bringen auch eine unermessliche Menge von Ablenkungen und zusätzlichen Stressfaktoren mit sich.
Man vergleicht sich wohl nicht mehr nur mit den anderen Gören, die man im Bus oder dem Kaufhofcafé sieht, sondern buchstäblich mit der ganzen Welt.
Wenn ich mir die Homepage meines alten Gymnasiums ansehe, erkenne ich kaum etwas wieder. Unglaublich, was die Schüler dort inzwischen alles haben. Eine Aula. (Zu meiner Zeit fanden alle Versammlungen, Theateraufführungen, Treffen in der sogenannten „Pausenhalle“ statt. Ein einfacher Pavillon mit 2m Deckenhöhe ohne die geringste Einrichtung, ca 10 mal 20 m groß und chronisch überfüllt). Ein Computerraum. Ein Oberstufenraum, eine Cafeteria, ein Hausarbeitsraum. Ein kleiner Kaufladen. Vermutlich gibt es auch ein Dutzend tamilische WC-Butler, die den Schülern die Hintern mit Watte abtupfen.
Was für Waschlappen! Über die heutige Jugend und ihre Luxusansprüche kann ich nur staunen – wohlwissend, daß ich nun genauso klinge wie die Omen und Open, über die ich damals verächtlich den Kopf schüttelte, wenn sie einem darlegten wie einfach man es im Vergleich zu den Kriegszeiten hatte.
Haben Sie überhaupt gedient?
Die stark zunehmende Zahl seelischer Erkrankungen Jugendlicher, das Komasaufen, Millionen verschriebenen Ritalindosen, der Markenterror, die große Zahl der Schulabbrecher weist aber daraufhin, daß trotz der offensichtlichen enormen Vereinfachungen des Schülerlebens von 2014 die Stressfaktoren nicht ausgestorben sind. Sie haben sich nur verlagert.
Wie die alten Säcke, die ich zu meiner Jugendzeit verachtete, weil sie immer meinten wir hätten es viel zu einfach und es täte uns gut mehr zu arbeiten, neige ich jetzt auch dazu mehr Druck auf Schüler zu verlangen.
Es kann doch nicht richtig sein, daß Jugendliche aus den Schulen in ein Arbeitsleben entlassen werden, die laut der Arbeitgeber zu über 50% gar nicht ausbildungsfähig sind.
In den MINT-Fächern der Universitäten müssen erst einmal Mathematikgrundlagen vermittelt werden, weil heutige Abiturienten keine Zinsen und Prozente kalkulieren können.
Sie benehmen sich schlecht, können kein englisch, haben nicht zu entziffernde Handschriften und Rechtschreibung scheint langsam als spinnertes Hobby der deutschen Geronten angesehen zu werden.
Wir wurden noch angehalten falsches Deutsch sofort zu verbessern. Wies man jemand auf den Unterschied zwischen Genitiv und Dativ, die korrekte Verwendung von „trotzdem“ und „obwohl“ oder die Bedeutung von „das und daß“ hin, bedankte sich der Korrigierte.
Das gemeinsame Ziel richtiges Deutsch zu sprechen und zu schreiben, wurde nie in Frage gestellt.
Die heutigen Schüler scheinen den Unterschied von „das“ und „dass“ nicht mehr zu kennen. Sofern ich einen in den sozialen Netzwerken treffe und das Thema anspreche, werde ich bloß ausgelacht.
Kopfrechnen und Rechtschreibung sind heute doch überflüssig heißt es dann. Das macht die Autokorrektur im Schreibprogramm und bei Facebook verstehen doch auch alle so was gemeint ist.
Das Argument ist zwar nicht von der Hand zu weisen, aber ich glaube trotzdem, daß es falsch ist.
Die Grundfertigkeiten Lesen, Rechnen, Schreiben sind nämlich ein Ausweis der Kultur und führen zu analytischem Denken.
Wer in formalen Dingen schlampt muß auch inhaltlich nicht so gründlich nachdenken. Meinungen werden nicht mehr entwickelt, sondern reproduziert.
Argumente werden nicht mehr überlegt, sondern gegoogelt.
Glaubwürdigkeit wird extern eingeholt.
Man muß nur fertige Meinungen „liken“.
Kampagnen anklicken und Onlinepetitionen virtuell abzeichnen für ein gutes Gewissen.
Die Auswirkungen scheinen mir in einer zunehmenden Denkfaulheit offensichtlich zu sein.

Man wählt Merkel wegen ihres legendären Satzes „Sie kennen mich!“
Das muß reichen. Gläubig zu sein ist „in“, weil Franziskus so bescheiden ist. Und gegen Putin ist man, weil er ein homophobes Gesetz unterstützt. Und TTIP ist schlecht wegen des Lobbyeinflusses. Und Gerd Schröder ist böse wegen HartzIV.

An allen diesen Statements ist ein bißchen Richtiges.
Aber deswegen Urteile zu fällen ist extrem unterkomplex.
Die jeweilige Umstände, die möglichen Alternativen und die eingeengten Handlungsspielräume werden gar nicht mehr bedacht.
Man urteilt, ohne sich ein Urteil bilden zu können.
Weil das Denken outgesourced ist.
Man hat ja auch ein Rechtschreibprogramm.

In diesem Zusammenhang wende ich mich auch entschieden gegen Projekte, die Schüler von Anfang an nur auf dem Laptop lernen lassen.
Ich befürchte, daß viele Fertigkeiten, die nur mit gewisser Mühe zu erlernen sind, dadurch verkümmern und letztendlich das ganze Denken simplifiziert wird.
Sich gegen Computer in der Schule zu positionieren ist ein aussichtsloser Kampf, aber das entsprechende Hamburger Pilotprojekt widerstrebt mir in extremer Weise.

 […]  Der Einsatz von digitalen Medien könnte den Unterricht in der Hansestadt schon bald revolutionieren: Laptops sollen Tafeln, Hefte und Schulbücher vom Sommer an zunächst in sechs Hamburger Schulen weitgehend ersetzen. Der Pilotversuch "Start in die nächste Generation", den Schulsenator Ties Rabe (SPD) am Dienstag vorstellte, sieht vor, dass insgesamt rund 1300 Schüler künftig vor allem anhand digitaler Lernmaterialien unterrichtet werden und dafür im Klassenraum ihre eigenen Laptops, Tablet-Computer und Smartphones nutzen. Wer kein eigenes Gerät besitzt, wird von der Schule ausgestattet. Die Lehrer sollen ihren Unterricht stark auf digitale Medien abstellen und interaktive Lernsoftware einsetzen wie beispielsweise Programme zur Simulation von naturwissenschaftlichen Experimenten. Ziel ist es, die Schüler auch im sinnvollen Umgang mit Medien zu schulen.
Für den Schulversuch erhalten alle Klassenräume der Gymnasien Ohmoor, Altona und Osterbek sowie der Stadtteilschulen Humboldtstraße, Oldenfelde und Maretstraße drahtlose Internetverbindungen. […]  Das Interesse der Schulen hat selbst Senator Rabe überrascht: 21 hatten sich für das Pilotmodell beworben, die Finanzmittel – insgesamt 892.000 Euro – reichen aber nur für sechs Schulen, deren Schulkonferenzen dem Pilotversuch unter Einbindung der Elternvertreter zustimmen mussten. […]

Es tut mir Leid, aber ich bin zu alt und zu konservativ, um mich mit dem Gedanken anzufreunden, daß nun Handschrift, Rechtschreibung und Kopfrechnung ganz aussterben werden.
Ich bin dagegen!