Es
bleibt nicht nur bei dem Versuch, sondern er wird voll getroffen.
Der
heute berühmte „Eierwurf
von Halle“ wurde auf mehreren Ebenen symbolisch aufgeladen.
Wir
frustrierten Kohl-überdrüssigen Wessis nahmen es den Ossis übel, daß sie mit
ihrer Kohl-Begeisterung und dem naiven Kinderglauben an seine Versprechungen („Keine
Steuererhöhungen für die deutsche Einheit!“, „Blühende Landschaften“) diesen
unmöglichen Mann erneut zum Kanzler gemacht hatten, nachdem wir gerade dachten
Späth/Geißler/Süßmuth würden ihn endlich absägen. Aber die Ossis wollten ja
nicht die nüchternen Fakten des Kanzlerkandidaten Lafontaine hören, sondern das
Lügengeschwätz von Kohl.
Und dann
der Eierwurf? Damit wurde zum ersten mal klar, daß auch in Ostdeutschland die
totale CDU-Dominanz irgendwann enden könnte.
Es war
ein weiterer Wendepunkt des Wendekanzlers. Seine treuesten Wähler wandten sich
ab.
Bemerkenswert
war aber insbesondere auch Kohls Reaktion, der offenbar genauso überrascht wie
ich, ob der Ereignisse in rasende Wut geriet und seine dreieinhalb Zentner Lebendgewicht
erstaunlich bähend in Wallung brachte, auf die Eierwerfer zustürmte, ohne daß
er von einem Leibwächter gehalten werden konnte.
Wie eine
Kampfmaschine walzte er sich ohne die geringste Furcht in die Menge, fest
entschlossen den unverschämten Wurf-Ossi persönlich nieder zu boxen.
Der mutmaßliche
Werfer war der 21-jährige Jurastudent Matthias Schipke* von den Jusos, der zwar
später kurzzeitig verhaftet wurde, aber nicht belangt wurde, weil Kohl klugerweise
darauf verzichtete ihn anzuzeigen.
Ich
hatte große Schwierigkeiten die Causa emotional einzusortieren, diskutierte
lange darüber.
Zunächst
einmal hatte man nie einen Minister/Kanzler/Präsidenten in so einer
unrühmlichen Körperlichkeit erlebt. Das waren Politiker, die nicht rannten oder
um sich schlugen. Kohl ließ seine staatsmännische Aura in einer Sekunde
zerplatzen.
Ein
schockierendes Benehmen des Regierungschefs, den ich ohnehin extrem
unsympathisch fand. Andererseits wirkte er durch dieses Ausbrechen aus seiner
Rolle auch menschlich und ehrlich, so daß man gleichzeitig auch Empathie für
ihn aufbrachte.
Außerdem
war da die Frage der Gewalt.
Ich trete
zu 100% für ein staatliches Gewaltmonopol ein. Physische Gewalt hat in einer
politischen Auseinandersetzung nichts verloren. Und ein faules, zerplatzendes
Ei ist nicht nur Gewalt, sondern sogar besonders demütigend wegen der
Ekeligkeit und der Bilder, die es hinterläßt.
Ich
sollte also in dieser Hinsicht absolut auf Kohls Seite sein. Aber da war auch
diese klammheimliche Mescalero-Schadenfreude. Man gönnte es ihm ja doch, mal
voll was abzubekommen.
Aber war
Kohl jetzt nicht unwiderruflich beschädigt?
Ein
Bundeskanzler, der sich wie ein Schulhofprolet eine Rangelei liefert?
Für eine
Minute dachte ich, Kohl müsse nun zurücktreten, weil er nach den peinlichen Bildern
nie wieder international auftreten kann, ohne schal angeguckt zu werden.
(Man merkt,
diese Gedanken stammen aus einer Zeit lange vor Trump, als es noch politisches
Schamgefühl gab.)
Kohl
allerdings war schon damals ohne Schamgefühl** und machte einfach weiter.
Inzwischen
glaube ich, die damaligen Ereignisse haben Kohl sogar eher genützt, weil sich
viel Konservative mit ihm solidarisierten und er auf einmal so menschlich
wirkte.
So
archaisch es auch klingen mag: Es hilft Politikern, wenn sie physischen Mut
beweisen. Putins maskuline Oben-Ohne-Bilder sind kein Witz, sondern ernsthafte
PR.
Frank
Steffel zeigte diesen Zusammenhang auf umgekehrte Weise, als er sich 2001 vor Eierwürfen, ganz
anders als Kohl feige wegduckte, sich hinter Stoiber versteckte.
Die anschließende Wahl verlor er grausam.
Ich
dachte lange, ich wäre immun gegen solche Männlichkeits-Demonstrationen, aber auch
ich war schon beeindruckt von solcher politisch-physischen Stärke.
Im Mai
1999 starrte ich gebannt auf den hochemotionalen Bielefelder Parteitag der
Grünen. Es ging um alles, Fischers Amt als Außenminister, die Bundespolitik und
die Existenz der Bundesregierung. Joschka Fischer musste sich vor der Erfindung
des Wortes einem ungeheuerlichen Shitstorm stellen, wurde mit so einer Wucht
von einem Farbbeutel getroffen, daß sein Trommelfell riss.
Seit dem
Tag waren meine ganze Familie und ich Jürgen-Trittin-Fans. Der scharfe innerparteiliche
Gegner Fischers stand sofort auf und stellte sich in dieser unklaren Situation
mit seinem Körper vor den verletzten Fischer.
Es war
das Jahr, in dem auch die Attentate auf Oskar Lafontaine und Wolfgang Schäuble
stattfanden. Ich rechnete durchaus damit, daß Schlimmeres passieren könnte, als
Trittin Mut und Größe bewies.
Ein
anderer Fall war der Bauerntag von Cottbus im Jahr 1999.
Zum
allerersten Mal wagte es ein sozialdemokratischer Bundeskanzler zum harten Kern
der CDU/CSU-Wähler zu kommen. Alle hassten ihn und fürchteten seine ökologische
Steuerreform.
Gerd
Schröder bewies aber unglaubliches Rückgrat, indem er trotz des gellenden
Pfeifkonzerts von 3000 Konservativen in die Halle marschierte und den pöbelnden
Farmern Klartext lieferte.
[….]
Schon beim Eintreffen in der Messehalle
wurde der Kanzler mit einem ohrenbetäubenden Pfeifkonzert, Sirenengeheul und
unzähligen Protestplakaten begrüßt. "Ich heiße Gerhard und fresse am
liebsten bayerische Bauern", "Schröder der Macher, ein
Niedermacher", "Die große Wende, Bauerns Ende", hatten sich die
Agrarier als Protestparolen aufgeschrieben. Das geplante Auslaufen der
Subventionen für Diesel wurden auch genannt sowie Kürzungen bei der
Altersversorgung für Bäuerinnen.
Mit versteinertem
Gesicht verfolgte Schröder die Rede von Bauernverbands-Präsident Gerd
Sonnleitner, der beklagte, keine andere Gruppe werde so sehr von der Politik
geschröpft wie das Landvolk. Langsam werde Bäuerinnen und Bauern die Last zu
viel. Auf ganze 40.000 Mark Einkommen je Arbeitskraft bringe es ein Hof im
Jahr, das werde nun durch die Sparpolitik um ein Drittel gekürzt. "Wir
werden direkt in den Boden gedrückt", klagte Sonnleitner und forderte den
"Automann" Schröder auf: "Hören Sie auch auf die Bauern und
nicht nur auf die Autoindustrie."
Doch die Forderung
Sonnleitners beeindruckte den Kanzler offenbar nicht. "Die Leute in der
Autoindustrie sollen die Nahrungsmittel kaufen, die Sie produzieren
wollen", ruft er in die "Zurücktreten"- und
"Aufhören"-Rufe hinein. In den vergangenen 16 Jahren seien die
Staatsschulden von 300 Milliarden auf 1,5 Billionen Mark angestiegen, im
Haushalt fehlten 30 Milliarden Mark. Da müßten alle Gruppen sparen, "sonst
geht die Gesellschaft vor die Hunde". Als Kanzler sei er dem Allgemeinwohl
verpflichtet und nicht Einzelinteressen. An den Sparvorschlägen werde nichts
zurückgenommen. [….]
Die
Presse dankte es dem Kanzler nicht und zu gerne montierte man die Bilder von
der tobenden Menge an seine Reden.
Ich bin
aber immer noch beeindruckt davon, wie dieser Mann Haltung zeigte und auch dann
für das was er für richtig hielt einstand, wenn es sehr ungemütlich wurde.
Diese
Art des politischen Mutes ist Vergangenheit.
Auch der
Superpolterer Trump ist ein absoluter Feigling, der nur sein Maul aufreißt, wenn
er von Fans umgeben ist. Er traut sich nicht es den Menschen ins Gesicht zu
sehen, die er feuert, kündigt das lieber aus seinem sicheren Schlafzimmer per
Twitter an. So auch beim letzten G7-Gipfer in Kanada, als er nicht die Eier
hatte den anderen Regierungschefs klaren Wein einzuschenken, allem zustimmte
und erst auf dem Rückflug aus der sicheren Air Force One per Tweet alle
anpinkelte.
Richtig feige ist auch Andrea Nahles, die es scheut Gesicht zu zeigen, wenn es auf Werte und Anstand
ankommt. Sie springt Parteifreund Maas nicht bei, wenn dieser im Nazi-Shitstorm
steht.
Der größte
politische Feigling ist selbstverständlich Angela Merkel, die schon seit 2005
völlig auf ein Rückgrat verzichtet und jeder Auseinandersetzung ausweicht.
Niemals
würde sie mit geradem Rücken für eine Sache einstehen.
Sie tut
lieber nichts, wartet ab und schlägt sich am Ende auf die Seite, die am meisten
Zuspruch verspricht.
Dabei
versündigt sie sich an der Nation, indem sie beispielsweise aus Angst vor den
Konservativen nicht Macron unter die Arme greift.
[….]
Wie Merkel Macron verprellt
Berlin hat endlich
einen handlungsfähigen Partner in Paris. Doch sein Stern sinkt weiter, wenn
niemand ihm hilft. Dann wäre die Chance zur Reform Europas vertan. [….]
Merkel duckt sich natürlich auch vor Sachsen und Chemnitz weg, schweigt zum Rassismus, macht
einen großen Bogen um die Brennpunkte.
In
erbärmlicher Weise drückt sie sich vor ihren Pflichten, ist einfach zu feige
für ihr Amt. Sie kriecht vor der Auto-Lobby, vor der Bankenlobby, so wie sie
schon vor der NSA kroch. Sie hat nicht ein Prozent der Stärke Schröders.
[….] Ex-SPD-Chef
Gabriel kritisiert die zaudernde Bundesregierung.
Nach den Protesten in
Chemnitz gegen die Asylpolitik der Bundesregierung wünscht sich der ehemalige
SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, dass mehr Spitzenpolitiker aus Berlin in der
sächsischen Stadt Gesicht zeigen. Wäre er Bundeskanzler, wäre er "nicht
erst jetzt" nach Sachsen gereist, sagte der frühere Außenminister der
"Bild"-Zeitung. Auch Bundesinnenminister Horst Seehofer hätte aus Gabriels
Sicht längst zeigen sollen, dass es sich bei den Ereignissen in Chemnitz nicht
um ein "sächsisches Problem" handele.
Ähnlich hatte sich
zuvor bereits Bundesfamilienministerin Franziska Giffey geäußert und ihre
Kabinettskollegen aufgerufen, ihrem Beispiel zu folgen und nach Chemnitz zu
fahren. "Es wäre gut, wenn auch andere Mitglieder der Bundesregierung dort
vor Ort Gesicht und Stimme zeigen würden", sagte die SPD-Politikerin im
"Morgenmagazin". [….]
Ich
glaube dem politischen Raufbold Gabriel in diesem Fall sogar absolut; feige war
er nie.
* „Ich
distanziere mich wirklich von meinem Verhalten. Ich möchte mich auch hier beim
Kanzler Kohl dafür entschuldigen. Ich stehe voll dahinter, dass wir eine
Kundgebung da gemacht haben. Aber nicht mehr von der Gewalt, die davon
ausgegangen ist. Und Eierwerfen ist wahrscheinlich auch Gewalt.“
(Matthias Schipke 1991. Er verließ die SPD im selben Jahr)
** „Da ich nicht die Absicht habe, wenn jemand vor mir steht und
mich bewirft, davonzulaufen, bin ich eben auf die zu und da stand ein Gitter
dazwischen und das war von Nutzen – für wen habe ich nicht gesagt, das
überlasse ich Ihnen.“
(H.Kohl nach dem Eierwurf, auf sein unrühmliches Verhalten
angesprochen)