Dienstag, 4. September 2018

Eier werfen und Eier haben

Das war etwas, das ich nie mehr vergessen werde. Helmut Kohl, der strahlende Wahlsieger der ersten gesamtdeutschen Wahlen vom 02.12.1990, überlebensgroßer Wendekanzler, umjubelter Held der Ossis, Mauer-brechender Superstaatsmann spricht wenige Wochen später im Sachsen-anhaltinischen Halle vor dem Stadthaus zu seinen devoten Untertanen, die ihn bisher auf Händen trugen und wird plötzlich mit Eiern beworfen.
Es bleibt nicht nur bei dem Versuch, sondern er wird voll getroffen.
Der heute berühmte „Eierwurf von Halle“ wurde auf mehreren Ebenen symbolisch aufgeladen.


Wir frustrierten Kohl-überdrüssigen Wessis nahmen es den Ossis übel, daß sie mit ihrer Kohl-Begeisterung und dem naiven Kinderglauben an seine Versprechungen („Keine Steuererhöhungen für die deutsche Einheit!“, „Blühende Landschaften“) diesen unmöglichen Mann erneut zum Kanzler gemacht hatten, nachdem wir gerade dachten Späth/Geißler/Süßmuth würden ihn endlich absägen. Aber die Ossis wollten ja nicht die nüchternen Fakten des Kanzlerkandidaten Lafontaine hören, sondern das Lügengeschwätz von Kohl.
Und dann der Eierwurf? Damit wurde zum ersten mal klar, daß auch in Ostdeutschland die totale CDU-Dominanz irgendwann enden könnte.
Es war ein weiterer Wendepunkt des Wendekanzlers. Seine treuesten Wähler wandten sich ab.
Bemerkenswert war aber insbesondere auch Kohls Reaktion, der offenbar genauso überrascht wie ich, ob der Ereignisse in rasende Wut geriet und seine dreieinhalb Zentner Lebendgewicht erstaunlich bähend in Wallung brachte, auf die Eierwerfer zustürmte, ohne daß er von einem Leibwächter gehalten werden konnte.
Wie eine Kampfmaschine walzte er sich ohne die geringste Furcht in die Menge, fest entschlossen den unverschämten Wurf-Ossi persönlich nieder zu boxen.
Der mutmaßliche Werfer war der 21-jährige Jurastudent Matthias Schipke* von den Jusos, der zwar später kurzzeitig verhaftet wurde, aber nicht belangt wurde, weil Kohl klugerweise darauf verzichtete ihn anzuzeigen.

Ich hatte große Schwierigkeiten die Causa emotional einzusortieren, diskutierte lange darüber.
Zunächst einmal hatte man nie einen Minister/Kanzler/Präsidenten in so einer unrühmlichen Körperlichkeit erlebt. Das waren Politiker, die nicht rannten oder um sich schlugen. Kohl ließ seine staatsmännische Aura in einer Sekunde zerplatzen.
Ein schockierendes Benehmen des Regierungschefs, den ich ohnehin extrem unsympathisch fand. Andererseits wirkte er durch dieses Ausbrechen aus seiner Rolle auch menschlich und ehrlich, so daß man gleichzeitig auch Empathie für ihn aufbrachte.
Außerdem war da die Frage der Gewalt.
Ich trete zu 100% für ein staatliches Gewaltmonopol ein. Physische Gewalt hat in einer politischen Auseinandersetzung nichts verloren. Und ein faules, zerplatzendes Ei ist nicht nur Gewalt, sondern sogar besonders demütigend wegen der Ekeligkeit und der Bilder, die es hinterläßt.
Ich sollte also in dieser Hinsicht absolut auf Kohls Seite sein. Aber da war auch diese klammheimliche Mescalero-Schadenfreude. Man gönnte es ihm ja doch, mal voll was abzubekommen.
Aber war Kohl jetzt nicht unwiderruflich beschädigt?
Ein Bundeskanzler, der sich wie ein Schulhofprolet eine Rangelei liefert?
Für eine Minute dachte ich, Kohl müsse nun zurücktreten, weil er nach den peinlichen Bildern nie wieder international auftreten kann, ohne schal angeguckt zu werden.
(Man merkt, diese Gedanken stammen aus einer Zeit lange vor Trump, als es noch politisches Schamgefühl gab.)
Kohl allerdings war schon damals ohne Schamgefühl** und machte einfach weiter.

Inzwischen glaube ich, die damaligen Ereignisse haben Kohl sogar eher genützt, weil sich viel Konservative mit ihm solidarisierten und er auf einmal so menschlich wirkte.

So archaisch es auch klingen mag: Es hilft Politikern, wenn sie physischen Mut beweisen. Putins maskuline Oben-Ohne-Bilder sind kein Witz, sondern ernsthafte PR.

Frank Steffel zeigte diesen Zusammenhang auf umgekehrte Weise, als er sich 2001 vor Eierwürfen, ganz anders als Kohl feige wegduckte, sich hinter Stoiber versteckte. Die anschließende Wahl verlor er grausam.

Ich dachte lange, ich wäre immun gegen solche Männlichkeits-Demonstrationen, aber auch ich war schon beeindruckt von solcher politisch-physischen Stärke.

Im Mai 1999 starrte ich gebannt auf den hochemotionalen Bielefelder Parteitag der Grünen. Es ging um alles, Fischers Amt als Außenminister, die Bundespolitik und die Existenz der Bundesregierung. Joschka Fischer musste sich vor der Erfindung des Wortes einem ungeheuerlichen Shitstorm stellen, wurde mit so einer Wucht von einem Farbbeutel getroffen, daß sein Trommelfell riss.


Seit dem Tag waren meine ganze Familie und ich Jürgen-Trittin-Fans. Der scharfe innerparteiliche Gegner Fischers stand sofort auf und stellte sich in dieser unklaren Situation mit seinem Körper vor den verletzten Fischer.
Es war das Jahr, in dem auch die Attentate auf Oskar Lafontaine und Wolfgang Schäuble stattfanden. Ich rechnete durchaus damit, daß Schlimmeres passieren könnte, als Trittin Mut und Größe bewies.

Ein anderer Fall war der Bauerntag von Cottbus im Jahr 1999.
Zum allerersten Mal wagte es ein sozialdemokratischer Bundeskanzler zum harten Kern der CDU/CSU-Wähler zu kommen. Alle hassten ihn und fürchteten seine ökologische Steuerreform.
Gerd Schröder bewies aber unglaubliches Rückgrat, indem er trotz des gellenden Pfeifkonzerts von 3000 Konservativen in die Halle marschierte und den pöbelnden Farmern Klartext lieferte.

[….] Schon beim Eintreffen in der Messehalle wurde der Kanzler mit einem ohrenbetäubenden Pfeifkonzert, Sirenengeheul und unzähligen Protestplakaten begrüßt. "Ich heiße Gerhard und fresse am liebsten bayerische Bauern", "Schröder der Macher, ein Niedermacher", "Die große Wende, Bauerns Ende", hatten sich die Agrarier als Protestparolen aufgeschrieben. Das geplante Auslaufen der Subventionen für Diesel wurden auch genannt sowie Kürzungen bei der Altersversorgung für Bäuerinnen.
Mit versteinertem Gesicht verfolgte Schröder die Rede von Bauernverbands-Präsident Gerd Sonnleitner, der beklagte, keine andere Gruppe werde so sehr von der Politik geschröpft wie das Landvolk. Langsam werde Bäuerinnen und Bauern die Last zu viel. Auf ganze 40.000 Mark Einkommen je Arbeitskraft bringe es ein Hof im Jahr, das werde nun durch die Sparpolitik um ein Drittel gekürzt. "Wir werden direkt in den Boden gedrückt", klagte Sonnleitner und forderte den "Automann" Schröder auf: "Hören Sie auch auf die Bauern und nicht nur auf die Autoindustrie."
Doch die Forderung Sonnleitners beeindruckte den Kanzler offenbar nicht. "Die Leute in der Autoindustrie sollen die Nahrungsmittel kaufen, die Sie produzieren wollen", ruft er in die "Zurücktreten"- und "Aufhören"-Rufe hinein. In den vergangenen 16 Jahren seien die Staatsschulden von 300 Milliarden auf 1,5 Billionen Mark angestiegen, im Haushalt fehlten 30 Milliarden Mark. Da müßten alle Gruppen sparen, "sonst geht die Gesellschaft vor die Hunde". Als Kanzler sei er dem Allgemeinwohl verpflichtet und nicht Einzelinteressen. An den Sparvorschlägen werde nichts zurückgenommen. [….]

Die Presse dankte es dem Kanzler nicht und zu gerne montierte man die Bilder von der tobenden Menge an seine Reden.
Ich bin aber immer noch beeindruckt davon, wie dieser Mann Haltung zeigte und auch dann für das was er für richtig hielt einstand, wenn es sehr ungemütlich wurde.

Diese Art des politischen Mutes ist Vergangenheit.
Auch der Superpolterer Trump ist ein absoluter Feigling, der nur sein Maul aufreißt, wenn er von Fans umgeben ist. Er traut sich nicht es den Menschen ins Gesicht zu sehen, die er feuert, kündigt das lieber aus seinem sicheren Schlafzimmer per Twitter an. So auch beim letzten G7-Gipfer in Kanada, als er nicht die Eier hatte den anderen Regierungschefs klaren Wein einzuschenken, allem zustimmte und erst auf dem Rückflug aus der sicheren Air Force One per Tweet alle anpinkelte.

Richtig feige ist auch Andrea Nahles, die es scheut Gesicht  zu zeigen, wenn es auf Werte und Anstand ankommt. Sie springt Parteifreund Maas nicht bei, wenn dieser im Nazi-Shitstorm steht.

Der größte politische Feigling ist selbstverständlich Angela Merkel, die schon seit 2005 völlig auf ein Rückgrat verzichtet und jeder Auseinandersetzung ausweicht.
Niemals würde sie mit geradem Rücken für eine Sache einstehen.
Sie tut lieber nichts, wartet ab und schlägt sich am Ende auf die Seite, die am meisten Zuspruch verspricht.
Dabei versündigt sie sich an der Nation, indem sie beispielsweise aus Angst vor den Konservativen nicht Macron unter die Arme greift.

[….] Wie Merkel Macron verprellt
Berlin hat endlich einen handlungsfähigen Partner in Paris. Doch sein Stern sinkt weiter, wenn niemand ihm hilft. Dann wäre die Chance zur Reform Europas vertan. [….]

Merkel duckt sich natürlich auch vor Sachsen und Chemnitz weg, schweigt zum Rassismus, macht einen großen Bogen um die Brennpunkte.

In erbärmlicher Weise drückt sie sich vor ihren Pflichten, ist einfach zu feige für ihr Amt. Sie kriecht vor der Auto-Lobby, vor der Bankenlobby, so wie sie schon vor der NSA kroch. Sie hat nicht ein Prozent der Stärke Schröders.

[….]  Ex-SPD-Chef Gabriel kritisiert die zaudernde Bundesregierung.
Nach den Protesten in Chemnitz gegen die Asylpolitik der Bundesregierung wünscht sich der ehemalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, dass mehr Spitzenpolitiker aus Berlin in der sächsischen Stadt Gesicht zeigen. Wäre er Bundeskanzler, wäre er "nicht erst jetzt" nach Sachsen gereist, sagte der frühere Außenminister der "Bild"-Zeitung. Auch Bundesinnenminister Horst Seehofer hätte aus Gabriels Sicht längst zeigen sollen, dass es sich bei den Ereignissen in Chemnitz nicht um ein "sächsisches Problem" handele.
Ähnlich hatte sich zuvor bereits Bundesfamilienministerin Franziska Giffey geäußert und ihre Kabinettskollegen aufgerufen, ihrem Beispiel zu folgen und nach Chemnitz zu fahren. "Es wäre gut, wenn auch andere Mitglieder der Bundesregierung dort vor Ort Gesicht und Stimme zeigen würden", sagte die SPD-Politikerin im "Morgenmagazin". [….]

Ich glaube dem politischen Raufbold Gabriel in diesem Fall sogar absolut; feige war er nie.



* „Ich distanziere mich wirklich von meinem Verhalten. Ich möchte mich auch hier beim Kanzler Kohl dafür entschuldigen. Ich stehe voll dahinter, dass wir eine Kundgebung da gemacht haben. Aber nicht mehr von der Gewalt, die davon ausgegangen ist. Und Eierwerfen ist wahrscheinlich auch Gewalt.“
(Matthias Schipke 1991. Er verließ die SPD im selben Jahr)

** „Da ich nicht die Absicht habe, wenn jemand vor mir steht und mich bewirft, davonzulaufen, bin ich eben auf die zu und da stand ein Gitter dazwischen und das war von Nutzen – für wen habe ich nicht gesagt, das überlasse ich Ihnen.“
(H.Kohl nach dem Eierwurf, auf sein unrühmliches Verhalten angesprochen)