Sonntag, 9. August 2015

Die arme SPD!



Peer Steinbrück verweist angesichts der dramatischen Warnungen von internationalen Ökonomen gerne auf den Wahlkampf 2013.
Genau das was jetzt unter Merkel so furchtbar aus dem Ruder läuft, hatte er tatsächlich kommen sehen und eine Alternative angeboten.
Finanztransaktionssteuer, Schuldenschnitt, Bürgerversicherung, Gleichberechtigung, Vermögenssteuer, Abschaffung des Zweiklassengesundheitssystems.
Das wurde plakatiert, kommuniziert und multipliziert. Für die Doofen wurde das SPD-Wahlprogramm 2013-2017 sogar in „leichter Sprache“ stark vereinfacht veröffentlicht.

Für die gleiche Arbeit soll jede Frau und jeder Mann den gleichen Lohn bekommen. Egal, ob man in einer Firma einen festen Arbeitsplatz hat. Oder ob man in einer Firma für eine kurze Zeit aushilft.

Die Firmen und Banken, die die Krise gemacht haben, sollen nun auch die Kosten bezahlen.   Deswegen wollen wir Steuern auf Geld-Geschäfte. Das bedeutet: Auch wenn man nur mit Geld handelt, muss man Steuern bezahlen

Sehr reiche Menschen sollen mehr Steuern bezahlen. Manche reiche Menschen bezahlen keine Steuern, obwohl sie das müssen. Das ist Betrug.  Wir wollen mehr gegen den Betrug machen

Viele ausländische Menschen leben schon lange in Deutschland.
Und sie arbeiten oft schon lange hier.  Aber einen deutschen Pass haben sie nicht.  Denn man darf nur einen Pass von einem Land haben.  Man muss sich für einen Pass entscheiden.  Das finden wir ungerecht.
Darum wollen wir:  Ausländische Menschen dürfen zwei Pässe haben:
Den ausländischen Pass und den deutschen Pass.

Alle Menschen in Deutschland sollen Geld in eine Bürgerversicherung einzahlen.
Das ist eine Kranken-Versicherung und eine Pflege-Versicherung.
Wer mehr verdient, zahlt mehr in die Versicherung ein.
Wer weniger verdient, zahlt weniger ein.

Das alles wollte die Mehrheit der Wähler aber offensichtlich keinesfalls. Das beweist der enorme Stimmenzuwachs von fast acht Prozentpunkten für Merkel und die CDU, die auf 41,5% kamen und um ein Haar die absolute Mehrheit schafften, da mehr als 15% der Stimmen (Piraten, AfD, FDP und NPD) unter der 5%-Hürde hängenblieben.

Offensichtlich verwechselt der Urnenpöbel Mehltau, Phlegma, Entscheidungsschwäche und Stillstand mit Kontinuität und Stabilität.
Aus lauter Angst etwas könne sich ändern, womöglich werde einen etwas abverlangt oder gar weggenommen, scharen sich die Wähler hinter der stets schweigenden Merkel. Regierende Parteien einfach abwählen??? Das mag der obrigkeitshörige Deutsche gar nicht! Bei 18 Wahlen zum deutschen Bundestag wurde nur ein einziges mal – nämlich 1998 – eine bestehende Regierung komplett abgewählt und durch neue Parteien ersetzt. In den anderen 17 Fällen wurde mindestens eine Regierungspartei wiedergewählt.

Es gärt in Europa. Der politische Protest ist zurück, bei den Griechen, Italienern, Briten. Nur in der Bundesrepublik nicht. Hier ist die Demokratie eingeschlafen. Denn die Deutschen verwechseln Apathie mit Stabilität.
[….] Die Mitte ist der Ort der politischen Korruption. Die Demokratie stirbt in der Mitte. Wir vergessen leicht: Mit der reinen Demokratie haben wir es im Westen ohnehin nicht zu tun. Sondern mit gemischten Staatsformen, in denen die Macht von Repräsentanten des Volkes und einer neuen Aristokratie gemeinsam ausgeübt wird. Das erfordert eine feine Balance. [….] Ja, die deutsche Politik hat einen zu engen Horizont. Unter dem bleiernen Himmel der "Alternativlosigkeit" erstickt die Demokratie. Wenn das Volk von einem Machtwechsel immer weniger hat, dann bleibt ihm nur, der Politik den Rücken zu kehren oder sich gegen die ganze Politik zu wenden. Beides geschieht.
[….] Bislang gelingt es in Deutschland nicht, die Unzufriedenheit in produktive Politik umzumünzen. AfD und Pegida sind der Aufstand der Ohnmächtigen, die Renaissance des Ressentiments. Da wird das "Nein" zur einzig schöpferischen Tat. Und das Netz, das anderswo zur Quelle des Protests wurde, hat in Deutschland nur das gescheiterte "Piraten"-Projekt hervorgebracht. [….]

Seitdem Merkel und Schäuble die Axt an Europa anlegen und der Rassismus immer mehr auflebt, sind die C-Parteien sogar noch beliebter.
Der Urnenpöbel steht auf Merkel und will sie liebend gern in eine vierte Legislaturperiode schicken – diesmal mit absoluter Mehrheit.

Die Verzweiflung der SPD ist angesichts dieser Merkelphilie verständlich.
Schadet man sich nicht selbst am meisten, wenn man ausgerechnet diese in Deutschland so ungeheuer beliebte und geachtete Frau angreift?
Das wäre in etwa so, wie zu gestehen, daß man Fußball und Hunde hasst.
Damit macht man sich auf jeden Fall bei der Mehrheit der Leute fürchterlich unbeliebt.

Vielleicht ist also ein Frontalangriff auf Merkel eher etwas für unabhängige Blogger, während SPD-Spitzenpolitiker mehr Respekt zollen sollten.

Das ist aber alles noch kein Grund dafür Merkel zu imitieren und gar in die Lobeshymnen einzufallen.
Politiker anderer Parteien müssen stets die inhaltlichen Differenzen aufzeigen, die alternativen Konzepte hochhalten – gerade in einer Zeit, in der die Kanzlerin von der „Alternativlosigkeit“ lügt.

Es gibt immer Alternativen.

Es darf aber nicht SPD-Politik sein gescheiterte und falsche CDU-Politik zu übernehmen, nur weil man davon einen wahltaktischen Vorteil erhofft.
Anders als bei den Rechten, für die Glaubwürdigkeit kaum eine Rolle spielt – Merkel und insbesondere Seehofer vertreten zu jedem Thema mindestens zwei sich diametral widersprechende Meinungen. Machterhalt gilt in dem Obrigkeit-fixierten Kanzlerwahlverein alles.
Bei den Anhängern des eher linken Spektrums ist es aber genau umgekehrt.
Dort ist „Zickzack-Siggi“ ein böses Schimpfwort, weil Gabriels Kurswechsel bei TTIP oder der Vorratsdatenspeicherung überhaupt gar keine inhaltlichen Begründungen bekamen.
Im SPIEGEL von gestern (08.08.2015) kann man in dem Artikel „Die Geheimniskrämer“ (s.24 ff) detailliert über das Mauern und Versagen der deutschen Geheimdienste nachlesen, wie sie von Regierung und Parteien dabei unterstützt werden möglichst alle Skandale zu vertuschen und nun sogar gegen kritische Journalisten, die im Aufklärung bemüht sind, unter Druck setzen.

So geht es nicht. Die SPD darf sich hier nicht wegducken und den Kurs des Kanzleramts unterstützen.
Gerade wenn die SPD es aus eigener Macht nicht durchsetzen kann, sollte sie jeden Tag offensiv vortragen, daß sie anders als die CDU Snowden nach Deutschland holen möchte, daß sie Julian Assange befragen möchte, daß sie die Selektorenliste veröffentlicht haben möchte, daß Maaßen sofort entlassen werden muß und daß der USA mit harschen Reaktionen gedroht werden muß, wenn sie nicht augenblicklich alle ihre Ausspähungspraktiken offenlegt.

Und dann gibt es noch den Bereich Waffenexport, der sogar wie TTIP ausdrücklich in Gabriels Verantwortungsbereich liegt.
Da einfach die Schleusen wieder zu öffnen und die Krisenwelt mit deutschen Waffen zu versorgen ist moralisch untragbar. Den Konflikt mit der CDU muß Gabriel aushalten, indem er wieder mehr Waffenexporte stoppt.
Wieder einmal hat der verdienstvolle Hamburger Linke Jan von Aken nachgefragt und damit Gabriel geärgert.

Neben den Gesamtsummen hat das Ministerium auch den Wert der genehmigten Exporte in die arabischen Staaten und Nordafrika veröffentlicht. Mit insgesamt 587 Millionen Euro liegt die Summe für die Region im ersten Halbjahr 2015 mehr als doppelt so hoch wie im Vorjahreszeitraum. Dafür sorgen unter anderem Genehmigungen für Algerien, Kuwait und Saudi-Arabien.

In den ersten sechs Monaten des Jahres 2015 wurden schon mehr Waffenexporte genehmigt als im gesamten Jahr 2014. Darunter 12 Spürpanzer Fuchs an die absolute Diktatur Kuwait und ein Dolphin-U-Boot an das Land, das als einziges der Welt wie besessen eine Entspannung mit dem Iran blockiert: Israel.

"Die deutschen Waffenexporte sind völlig außer Kontrolle", kritisierte der Oppositionspolitiker. Die Grünen-Verteidigungsexpertin Agnieszka Brugger warf dem zuständigen Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) vor, mehr "Wert auf die Interessen der Rüstungslobby als auf Menschenrechte und Frieden" zu legen.
[….] Nach Angaben des Magazins "Der Spiegel" ist der Wert der sogenannten Einzelgenehmigungen von Januar bis Juni 2015 um rund 50 Prozent auf 3,31 Milliarden Euro gestiegen. Rechnet man die Sammelausfuhrgenehmigungen hinzu, zumeist Kooperationen mit NATO-Partnern, ergibt sich der Gesamtwert von 6,35 Milliarden Euro.
[….] "Das sind dramatische Zahlen, die vor allem für Sigmar Gabriel und seine SPD hochnotpeinlich sind", sagte van Aken. Daran zeige sich, "dass diese Regierung genau so hemmungslos Waffen in alle Welt liefert wie ihre Vorgänger". Grünen-Politikerin Brugger erklärte, "das wahre und hässliche Antlitz der schwarz-roten Bundesregierung bei den Waffengeschäften" werde deutlich. Gabriel habe Waffenexporte zwar als Geschäft mit dem Tod bezeichnet, "jenseits von markigen Sprüchen und leeren Versprechen aber kaum geliefert".

[….] Ungeachtet der Euro-Krise steigert die deutsche Industrie ihre Ausfuhren in neue Rekordhöhen und profitiert dabei insbesondere vom boomenden Geschäft mit den USA. Hatten deutsche Firmen bereits im Jahr 2014 Produkte im Wert von 1,134 Billionen Euro und damit mehr denn je zuvor ins Ausland verkauft, so liegen die Exportbeträge in diesem Jahr bislang sogar noch deutlich höher als im Vorjahreszeitraum. [….] Ungeachtet der Euro-Krise strebt die deutsche Industrie neuen Exportrekorden zu. [….] Dabei sorgen allein die Exporte dafür, dass die deutsche Industrie weiter wächst. So sind die Aufträge, die deutsche Unternehmen aus dem Inland erhielten, im Juni um zwei Prozent gefallen. Damit zieht die Bundesrepublik ihren Profit weiterhin aus Verkäufen in andere Staaten, die sich letztlich dafür verschulden müssen; in den ersten fünf Monaten des laufenden Jahres stiegen etwa die deutschen Lieferungen in Krisenstaaten wie Griechenland (+1,1 Prozent), Italien (+4,6 Prozent), Portugal (+8,3 Prozent) und Spanien (+9,9 Prozent) teilweise deutlich an. Diese werden damit tendenziell noch weiter in die Verschuldung getrieben. Die deutschen Exportgewinne verschärfen damit nicht nur aktuelle Krisen, sie drohen auch zu Treibern für Verschuldungskrisen von morgen zu werden. [….]

Womit haben wir so einen Parteivorsitzenden verdient? Die arme SPD.
Es gibt wieder einmal viel Gelegenheit sich intern zu streiten – und damit die schweigende Kanzlerin des Nichtstuns gut aussehen zu lassen.

[….] Die nächste Bundestagswahl findet 2017 statt. Das ist nach Berliner Maßstäben noch eine halbe Ewigkeit. Nun kann aber keine Partei nach innen gerichtete Ewigkeitsdebatten so intensiv führen wie die SPD; die NRW-Spitzenfrau Hannelore Kraft nennt das "wir gegen uns" (wgu). Dass die jüngste Wgu-Urwahl-Diskussion von einer aus Bayern stammenden Juso-Politikerin befeuert wurde, überrascht wenig. Kein SPD-Landesverband hat so viel Erfahrung in der Organisation erfolgloser Wahlkämpfe wie die Bayern-SPD.
Die Urwahl-Nummer ist ziemlich wgu, weil sie sich nicht nur wegen des Zeitpunkts in erster Linie gegen Gabriel richtet. Den mag einerseits die Parteilinke nicht, die unter Funktionären nicht unterrepräsentiert ist. Andererseits herrscht in der SPD auch Frust über die missliche Stabilität der Umfragewerte im Bund. Die Partei kommt nicht über 25 Prozent hinaus. [….] Die Intellektuellen vom Dienst erklären das gerne damit, dass Merkel angeblich kaum ernsthaft politisch attackiert werde. Das ist, mit Verlaub, Kappes. Seit Monaten zum Beispiel sind die alten und die neueren Medien voll mit Kritik an Merkels angeblichem Europa-Imperialismus. Dennoch sind ihre (und Wolfgang Schäubles) Zustimmungswerte noch mal gestiegen. Ihre Politik wird von vielen abgelehnt, jedoch nicht von der Mehrheit.   Das Problem derer, die Merkel stürzen wollen, wird nicht durch die Urwahl eines Kandidaten gelöst. Aber wahrscheinlich gibt so eine Debatte im Sommer ein gutes Gefühl. Das ist ja auch schön.