Dienstag, 5. April 2022

Hinterher ist man immer schlauer

Das ist wirklich einem Arbeitskollegen meines Vaters so passiert.

Er hatte eine deutlich jüngere Frau geheiratet und deren dämliche Freundinnen hingen ständig bei ihnen rum. Eine davon war eine hoffnungslos chaotische Person. Schule abgebrochen, dem Alkohol zugetan, alle drei Tage eine neue Affäre. Eines Tages erschien sie völlig aufgelöst, war schwanger und pleite. Wer der Kindsvater sein könnte, war unklar. Was sie denn nur tun solle.  Da sie nicht im Entferntesten in der Lage war, auch nur für sich selbst zu sorgen, empfahl ihr der Kollege meines Vaters, rational abwägend, lieber abzutreiben.  Man verlor sich aus den Augen bis einige Jahre später die junge Dame wieder bei ihnen klingelte, einen entzückenden drei-jährigen Jungen an der Hand hielt und mit den Ratgebern von früher abrechnete: „Kevin ist mein ein und alles! Das liebste Kind der Welt und IHR WOLLTET DAMALS, DASS ICH IHN TÖTE!“

Die Moral von der Geschichte: Rate niemals einer Schwangeren, was sie tun soll. Man kann es nur falsch machen.

Inzwischen habe ich eine ähnliche Story mit ganz anderen Protagonisten gehört. Die Bekannte der Cousine meiner Nachbarin. Oder so. Vielleicht kommt es öfter vor, daß  mit der Entscheidung für oder wider Kind, schlecht beratene Frauen sich später bitter beklagen. Vielleicht ist es auch nur ein urbaner Mythos wie die Spinne in der Yucca-Palme.

Die vollkommen wahnsinnigen US-Republikaner mit ihrem „Don’t say gay“-Gesetz und ihrem Vorhaben, Schwangerschaftsunterbrechungen unter drakonische Strafen zu stellen, stellen diese Grundsatzfragen wieder auf die Tagesordnung. Weiße alte Männer sollen über den Körper einer jungen Frau entscheiden. Ich hatte schon vor Jahrzehnten gedacht, die Moraldebatte über Abtreibungen wäre endgültig entschieden.

Drei Aspekte sind und waren dabei für mich immer entscheidend:

1.) Was mit ihrem Uterus zu geschehen hat, geht nur die Besitzerin des Organs etwas an.

2.) Weltweit zeigen die Erfahrungen, daß es bei liberalen Gesetzen und offener Sexualaufklärung sehr viel weniger Abtreibungen gibt, als bei drakonischen Gesetzen, weil dadurch Schwangere so unter Druck gesetzt werden, daß sie sich nur noch darauf konzentrieren, wie man einen Abbruch überhaupt bewerkstelligen kann.

3.)  Bei einer Schwangerschaftsunterbrechung wird eben kein Kind getötet, sondern ein kleiner Zellhaufen nistet sich nicht an einer bestimmten Stelle ein. Das ist ein völlig natürlicher Vorgang. Daher heißt es auch „Gott ist der größte Abtreiber.

Den Christen sei an dieser Stelle ins Stammbuch geschrieben, daß auch die meisten menschlichen Embryonen ganz natürlich absterben, bevor sie geboren werden. Das hat Gott so eingerichtet.

Gott ist somit der größte Abtreiber überhaupt. Letztendlich läßt er 9 Embryos absterben, um ein Kind zu erzeugen

How many embryos and fetuses never make it to birth?  How many babies die in natural childbirth?  How many infants die before reaching age five?  The statistics are not good.  The most hazardous journey of life is the first few months. According to the calculations of Gregory Paul (see his published articles here), who used the best figures from embryology and neonatal doctors, as few as one-quarter of all conceptions avoid reabsorption or miscarriage, and of those fetuses that do make it to full-term, another large percentage die during natural childbirth.  It’s obvious that embryos are not well-designed for making it to infancy.  The female body was not well-designed for childbirth, either, since the ratio of fetal skull size to female hip size doesn’t make for great odds for the mother.  Every year, more than half a million women die in pregnancy or childbirth.  Natural evolution, not religion, explains the tough compromises forced on the human body, and why few embryos make it to infancy and so many mothers die in the process.   Although the odds of a fertilized egg making it to a live birth are less than 1 in 5, another hazardous journey through infancy lies ahead.  Before modern medicine, around 20% of children in England and the United States died before the age of five, and that number was much higher in pre-industrial societies.  For most of the existence of our human species, over the past one hundred thousand years or so, probably only around half of all born babies reached the age of five.  All these poor odds add up to the fact that for most of human existence there had to be 10 pregnancies or more to guarantee the life of a single five year old child.

(John Schock, 27.04.2011)

Die Geschichte des Arbeitskollegen meines Vaters habe ich immer in diesem Sinne verstanden. Es ist ein unlauterer und ungerechter Vorwurf, irgendjemand habe dafür plädiert, den kleinen süßen Kevin zu töten. Genau das ist nie passiert, denn als es um die Frage „Abbruch oder nicht“ ging, existierte kein Leben, kein Kind, kein Kevin. Man diskutierte in einem ganz anderen System.

Sobald Kevin da ist, erübrigt und verbietet sich selbstverständlich sofort jede Erörterung, ob er leben darf.

Kein halbwegs anständiger Mensch würde sich anmaßen, über das Lebensrecht eines existierenden Homo Sapiens zu diskutieren.

Allein schon das Wissen um Kevin verunmöglicht rückwirkend die Ratschläge zum Thema Abtreibung zu rekapitulieren.

Jede diesbezügliche Überlegung gehört in die Zeit, als niemand eine Vorstellung von Kevin haben konnte, weil er schlicht nicht existierte. Dabei ist es unmöglich einen ganz genauen Zeitpunkt anzugeben, an dem ein Zellhaufen, wie er etwa in einem Ejakulat existiert, ein lebensfähiger Kevin geworden ist.

In dieser Geschichte gibt es Parallelen zum Umgang mit Wladimir Putin. Abgesehen von seinen Fans und Freunden unter Europas Rechtspopulisten, müssen sich auch der Nazi-Hetze völlig unverdächtige Politiker wie Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier heute heftiger Vorwürfe erwehren.

[….] Die Russland-Politik von Ex-Kanzlerin Merkel steht in der Kritik. Nach dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj wirft auch Polens Regierungschef Morawiecki ihr schwere Fehler vor. Nun verteidigte Merkel sich.  Altkanzlerin Angela Merkel hat sich trotz massiver Kritik des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj hinter die Entscheidung gestellt, die Ukraine 2008 nicht in die NATO aufzunehmen. "Bundeskanzlerin a.D. Dr. Angela Merkel steht zu ihren Entscheidungen im Zusammenhang mit dem NATO-Gipfel 2008 in Bukarest", teilte eine Sprecherin Merkels der Nachrichtenagentur dpa mit. [….]

(Tagesschau, 04.04.2022)

Anders als die ehemalige Kanzlerin, die ihre frühere Haltung rechtfertigt, gibt sich ihr ehemaliger Außenminister fürchterlich zerknirscht.

[….]  Ein Staatsoberhaupt in der Defensive. Denn seine Entscheidungen aus der Vergangenheit holen ihn ein: „Mein Festhalten an Nord Stream 2, das war eindeutig ein Fehler“, erklärte er bereits am Montag mit Blick auf die deutsch-russische Gaspipeline durch die Ostsee. „Wir haben an Brücken festgehalten, an die Russland nicht mehr geglaubt hat und vor denen unsere Partner uns gewarnt haben.“ Seine Einschätzung sei gewesen, dass Putin nicht den kompletten wirtschaftlichen, politischen und moralischen Ruin seines Landes für seinen imperialen Wahn in Kauf nehmen werde. „Da habe ich mich, wie andere auch, geirrt.“  Am Dienstagmorgen setzte Steinmeier seine „Beichte“ im ZDF-Morgenmagazin fort. „Wir müssen unterscheiden zwischen dem Putin, der 2001 im Deutschen Bundestag geredet hat, der den Eindruck erweckt hat, es gebe die Chance für einen gemeinsamen Weg zur Freiheit, Demokratie und zur Beachtung der Menschenrechte, und dem eingebunkerten Kriegstreiber Putin des Jahres 2022“, warb der ehemalige SPD-Politiker für Verständnis.  Dann aber räumte Steinmeier ein: „Das wirklich Traurige ist, dass wir in vielen Punkten gescheitert sind.“ Dies betreffe den vergeblichen Versuch, Russland in eine europäische Sicherheitsarchitektur einzubinden, ebenso wie jenen, demokratische Werte in Russland voranzutreiben. „Das ist eine bittere Bilanz, vor der wir stehen“, fuhr der 66-Jährige fort.  […..]

(MOPO, 05.04.2022)

Bekanntlich war ich nie ein Fand von Merkel und Steinmeier. Den Bundespräsidenten habe ich stets wegen seiner abstrusen Frömmigkeit kritisiert und Merkel war ohnehin 15 Jahre die böse Nemesis dieses Blogs.

Aber bei aller Lust an Häme; Botschafter Melnyks Attacken auf den deutschen Bundespräsidenten sind ungeheuerlich. Steinmeier sollte sich solche Ausfälle nicht von Nazi-Fan Melnyk gefallen lassen.  Es ist sehr billige Häme, nun von Vorwürfen ätzende Händeschüttel-Bilder deutscher Regierungspolitiker mit Putin auszugraben.

Lächerlich. Mit guten Freunden ist es leicht politische Kontakte zu halten. Aber noch viel wichtiger ist es, daß Kanzler, Minister und Präsident Kontakt zu den feindlich gesinnten Mächten halten.  Man sollte Politiker nicht dafür kritisieren, ihre Arbeit getan zu haben.

Aber es gibt auch den Kevin-Aspekt. Dem 2022er Putin, der alle Beziehungen zertrümmert, Kriege anzettelt, Butscha verantwortet, die Europäische Friedensordnung vom Tisch fegt, würden Merkel und Steinmeier nicht die Hand reichen.

Der gegenwärtige Kreml-Herrscher hat sich selbst so weit außerhalb unserer Anstandsregeln abgestellt, daß ihn kein westlicher Politiker bei Verstand als Partner oder auch nur Partnerschaft-tauglich betrachtet.

Der 2000er Putin hingegen war ein Mann, mit dem man sich vorstellen konnte, eine enge europäische Kooperation einzugehen und selbstverständlich war es damals vollkommen richtig auch genau das zu versuchen.

Hätte das funktioniert, wäre es womöglich nie zu den russisch-westeuropäischen Krisen 2008, 2014 und 2022 gekommen. Wir hätten alle profitiert.

A posteriori ist es leicht, zu behaupten, dafür habe es nie eine Chance gegeben, denn nun existiert der Ukraine-Krieg-Putin. Mit dem Wissen von heute darf man aber nicht die durchaus fruchtbare deutsch-französisch-russische Friedens-Zusammenarbeit von 2003 beurteilen, weil damals kein Horror-Wladimir existierte.

Wie auf dem Weg vom irrelevanten Zellklumpen zum realen Kevin, kann niemand genau sagen, wann aus dem kooperativen Putin, der Paria wurde, mit dem man nichts mehr zu tun haben will.

Ich bin sehr skeptisch, wenn ich heute höre „Putin habe ich nie getraut; der wollte doch immer Krieg!“  Es handelt sich vermutlich um Autosuggestion, wenn jemand heute glaubt, den Ukraine-Krieg von 2022 seit 20 Jahren vorausgesehen zu haben.

Es gibt psychologische Untersuchungen darüber, wieso Menschen so gern Quizshows sehen. Sie fühlen sich klug und den Kandidaten überlegen, weil sie sich bei den vorgegebenen Antwortmöglichkeiten kurz nach der Auflösung der Richtigen selbst suggerieren, sie hätten auch richtig gelegen. Dadurch hält man sich für gebildet, auch wenn man eigentlich die a posteriori so logisch erscheinende Antwort eben nicht gewußt hätte. Ein solche Show funktioniert aber nicht, ohne Multiple-Choice; ohne Auflösung, weil man sich dann nicht schlauer fühlen würde als man ist.

Ich erinnere mich nicht, daß einer der „ich habe es doch immer gewußt“-triumphierenden Putin-Verächter in Parteien und Presse, 2008 oder 2014  lautstark dafür plädiert hätte, die Bundeswehr um 100 Milliarden Euro aufzurüsten, NATO-Truppen an der Ostgrenze zu stationieren, die Wehrpflicht zu behalten und einen ökonomischen Einbruch von 10% zu befürworten, damit man von russischen Öl-, Gas- und Kohle-Lieferungen unabhängig wird.

Haben die NATO-Einsatz-fordernden WELT-Journalisten etwa in den letzten Jahren auf Flüge und Benzin verzichtet, die Wintermonate ohne zu heizen in Daunenjacken verbracht? Haben sie ihre Netrebko-CDs geschreddert und Schalke04-Spiele wegen des Gazprom-Logos boykottiert?