Donnerstag, 24. Februar 2022

Es ist Krieg.

Wie so oft, guckte ich Don Lemon auf CNN (04.00-06.00 Uhr deutscher Zeit), sah Putins Kriegserklärung live, verfolgte live, wie die Nachricht in der gleichzeitig stattfindenden UN-Sicherheitsratssitzung einschlug und sah insbesondere live die Bilder der CNN-Reporter vor Ort. Frederik Pleitgen beobachtete von Belgorod im äußersten Westen Russland das Artilleriefeuer in Richtung Ukraine.

Matthew Chance in Kiew zog militärische Schutzkleidung an, hörte die Raketeneinschläge, Clarissa Ward kamen die Einschläge in Charkiv gefährlich nahe. 

Selbstverständlich, auch das kennt man aus anderen internationalen Megakrisen, befand sich das deutsche Fernsehen noch zwei Stunden im Tiefschlaf, spulte schnarchige Wiederholungen ab, ging erst um 5.00 Uhr mit einem sichtlich überforderten Jens Riewa mit einer Sonder-Tagesschau auf Sendung und überließ im Folgenden dem Morgenmagazin mit einer hilflosen Reporterin Anna Feist in Moskau wackelige Schaltungen, die mühsam das rekapitulierte, was die vielen CNN-Leute vor Ort in den verschiedenen Ukrainischen Städten seit zwei Stunden ausführlich berichteten.  LIVE-Berichterstattung gehört offensichtlich, genau wie Geheimdiensttätigkeit oder militärische Einsatzfähigkeit, zu den Dingen, die Deutschland einfach nicht kann. Das muss man akzeptieren. Dazu sind wir einfach zu doof.

Es ist sehr seltsam, aber selbst bei den wirklich erwarteten Kriegen, deren Beginn man live im Fernsehen verfolgt, kann oder will man nicht glauben, was sich da vor sich im Bildschirm tut.  Ich war auch live dabei, als 1991 G.H. Bush den Irak angriff, als 2001 Kabul von amerikanischen Raketen eingedeckt wurde und als G.W. Buch 2003 den illegalen Angriffskrieg gegen den Irak begann. Selbst, wenn man sich seit Monaten intensiv mit diesem Worst-Case-Szenario beschäftigt, will der menschliche Geist die präsentierten Fakten nicht sofort akzeptieren, wenn sie zu schrecklich sind.

Einschränkend sei gesagt; einige menschliche Geister können sich das offensichtlich sehr wohl vorstellen, Präsident Putin zum Beispiel.

Der russische Präsident ist anders als die meisten Menschen der westlichen Welt gar nicht überrascht, sondern bereitete sich offensichtlich seit Jahren intensiv vor.

In den sozialen Medien färbten sich nun die Profilbilder mit gelb-blauen Flaggen ein, es erschienen die obligatorischen Hinweise „pray for Ukraine“ und natürlich ein gewaltiges Anschwellen der gegenseitigen Versicherungen der eigenen Betroffenheit. Wir sind alle fürchterlich betroffen und wir hassen Putin.

Anti-Putin-Memes haben noch mehr Konjunktur als das Wort „Krieg“.

Aber was sollte man auch anderes erwarten, wenn die ehemaligen Regierungschefs Österreichs, Finnlands und Italiens, Altkanzler Christian Kern, Esko Aho und Matteo Renzi, verkünden aus den Aufsichtsräten russischer Unternehmen zurückzutreten, wenn selbst Sahra Wagenknecht einräumt, sich in Putin geirrt zu haben und sogar Gerd Schröder den russischen Präsidenten scharf angreift? Nur Ex-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) bleibt still im "Board of Directors" des russischen Ölkonzerns Lukoil.  Ein Fußballverein will keinen Gazprom-Logos mehr auf den Trikots, der Rosenmontagszug wird abgesagt und ein Fußballverein aus Wladimir Putins Geburtsstadt St. Petersburg soll nun von einem internationalen Turnier ausgeschlossen werden.

All diese Maßnahmen und Verhaltensweisen sind verständlich, zeigen aber auch, wie naiv und doof der Westen insgesamt ist und wieso es Kräfte in Peking und Moskau gibt, die uns gar nicht mehr ernst nehmen.

Putin rollt über die Ukraine, weil er es kann.

Ihn zu dämonisieren, ist absolut verständlich, hilft aber keinen Millimeter weiter.

Notwendig ist jetzt etwas ganz anders, nämlich selbstkritische Analyse und die richtigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Und umzusetzen!  Immerhin machte Vizekanzler Habeck schon heute Morgen den Anfang; „wir waren zu naiv“ sprach er.

Putin ist moralisch verkommen. Dagegen können wir nichts tun. Er ist aber kein Idiot (wie zum Beispiel sein großer Fan Donald Trump).  Putin war und ist in der Lage, die eigenen Schwächen und die der anderen, rational zu beurteilen und konsequent zu handeln.  Es ist unverzeihlich, wenn wir das nicht können und uns dumm anstellen.

Als Putin vor gut zwei Dekaden Regierungschef wurde, übernahm er ein marodes Land mit einer maroden und desillusionierten Armee.

Er schaffte es aber, diese gewaltige Militärmaschine zu modernisieren, mobilisieren und einsatzfähig zu machen. Deutschland verwendete im gleichen Zeitraum mehr Geld für eine kleinere Armee und schaffte es mit einer Trottel-Parade aus Guttenberg, Jung, de Maizière, von der Leyen und Kramp-Karrenbauer, die Bundeswehr noch mehr zu schrotten.

[….] Russland greift die Ukraine an – und die Bundeswehr kann aus Sicht des Heeresinspekteurs Alfons Mais kaum etwas ausrichten. Die Truppe stehe nach Jahren der Sparpolitik »mehr oder weniger blank da« und habe nur begrenzte Optionen gegenüber Russland, schrieb der Generalleutnant am Donnerstag im Netzwerk LinkedIn. [….] Mais schrieb: »Ich hätte in meinem 41. Dienstjahr im Frieden nicht geglaubt, noch einen Krieg erleben zu müssen. Und die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.« Er warnte: »Die Optionen, die wir der Politik zur Unterstützung des Bündnisses anbieten können, sind extrem limitiert.«  Mais forderte eine Neuaufstellung der Bundeswehr. »Wir haben es alle kommen sehen und waren nicht in der Lage, mit unseren Argumenten durchzudringen, die Folgerungen aus der Krim-Annexion zu ziehen und umzusetzen«, schrieb er. »Das fühlt sich nicht gut an! Ich bin angefressen!« [….] Die frühere Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer äußerte sich zutiefst getroffen durch die militärische Eskalation im Ukrainekonflikt. »Ich bin so wütend auf uns, weil wir historisch versagt haben«, schrieb die ehemalige CDU-Chefin auf Twitter. »Wir haben nach Georgien, Krim und Donbass nichts vorbereitet (...), was Putin wirklich abgeschreckt hätte.« [….]

(SPON, 24.02.2022)

Das darf im Konzert der Großmächte nicht passieren. Wir dürfen uns nicht so viele Jahre dümmer und unprofessioneller als die anderen verhalten.

Wieso finden wir uns eigentlich damit ab, daß nur die Supermächte militärstrategisch denken können? Kein eigenes Atomwaffenarsenal zu haben, befreit einen nicht von der Notwendigkeit das Handeln der Großen zu verstehen und zu analysieren. Sicherheitsexperte Prof. Carlo Masala spricht Klartext.

[….] Die russische Armee verhält sich ziemlich nach Handbuch, es gibt keinerlei Überraschungen in dem militärischen Vorgehen. Wir haben jetzt die erste Phase mit massiven bodengestützten Feuern, Artillerie, ballistischen Raketen, Raketenwerfern und Luftschlägen. Die Flugabwehr der Ukrainer scheint ausgeschaltet zu sein. [….]

SPIEGEL: Wie kann es angehen, dass Putin das alles machen kann?

Masala: Er kann es, weil er weiß, dass die USA und die Nato nicht aktiv in diesen Konflikt eingreifen werden, um der Ukraine zu helfen. [….]  Ich halte Putin für einen sehr rationalen Akteur und kein Selbstmordattentäter. Er hat genauso wenig Interesse an einem Konflikt mit der Nato und den USA wie die mit ihm. Deswegen wird er die baltischen Staaten so nicht unter Druck setzen, wie er es mit der Ukraine gemacht hat, weil er weiß, dass dann der Beistandsartikel greift und die Situation unkalkulierbar wird für ihn. Im schlimmsten Fall kämen dann auch nukleare Langstreckenraketen in Spiel – und das ist eine Schwelle, die auch Putin nicht übertreten wird. [….]  

SPIEGEL: Wie kann die westliche Diplomatie Putin das Heft des Handelns entreißen?

Masala: Überhaupt nicht. Das ist genau der Punkt. Der Westen basierte seine Politik auf der Annahme, dass Sanktionen Putin davon abhalten würden, zu eskalieren. Er hat aber die wirtschaftlichen Verluste in seine Pläne eingepreist. Er bestimmt die Eskalationsspirale. [….]  

SPIEGEL: Das heißt, weder die USA noch die Nato oder die EU können den russischen Präsidenten stoppen und müssen hinnehmen, was er entscheidet?

Masala: Mit Blick auf die Ukraine – ja. Wir haben es hier nicht mit dummen Gegenspielern zu tun, die völlig überrascht davon sind, dass wir sie womöglich aus dem Swift-Zahlungssystem werfen. Ihnen ist bewusst, welche Zwangsmaßnahmen noch kommen könnten. Und sie sind bereit, den Preis zu zahlen, weil Putin der Gewinn einer möglichen militärischen Besetzung der Ukraine wesentlich höher erscheint als die Kosten, die sie verursacht. [….] Wir gehen davon aus, dass wir aufgrund der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Machtfülle der USA und der europäischen Staaten immer in der Lage sind, Entwicklungen zu beeinflussen – das ist einer der großen Trugschlüsse der letzten 30 Jahre. [….]

(Spiegel- Interview von Özlem Topçu, 24.02.2022)

Es wäre schön, wenn dieses KnowHow im Bundesverteidigungsministerium existierte und man nicht erst nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist, in der Presse nachlesen müsste.

Putin schätzt seine ökonomischen Möglichkeiten realistisch ein, weiß um die gegenseitigen Abhängigkeiten von Öl und Gas. Aber er zieht seit Jahren die aus seiner Sicht notwendigen Konsequenzen, während Deutschland mit Altmaier-Ministern kontinuierlich seine Lage selbst verschlechterte. Wir überlegen wie brutal es Russland träfe, wenn wir ihm kein Gas mehr abkaufen. Wann ginge dem Kreml das Geld aus?

Aber in Wahrheit verfügt Putin über das größere Druckmittel. Wenn er von eben auf jetzt die Gas- und Öl-Exporte nach Europa stoppt, geht bei uns das Licht aus.

Wieso verlassen wir uns seit 2014 eigentlich auf Wirtschaftssanktionen gegen Russland, die in acht Jahren eben nicht nur keinen Krim-Rückzug gebracht haben, sondern dem Kreml die Möglichkeit gaben, sich dagegen zu schützen? Putin blieb im Gegensatz zu den EU-Trotteln nicht inaktiv, sondern bemühte sich um Alternativen. Gabriel Felbermayr, der Direktor des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung sieht schwarz.

[….] Europa sollte sämtliche Gasimporte aus Russland einstellen. Beides wird auch für Deutschland und Europa schmerzhafte Konsequenzen haben, aber damit müssen wir leben. [….] Trotzdem hätten wir spätestens im nächsten Winter ein Versorgungsproblem. Flüssiggas lässt sich nicht beliebig nach Europa umleiten, zudem dürfte die globale Nachfrage massiv steigen. Und Deutschland verfügt ja noch nicht einmal über die notwendigen Terminals für den Transport. Man muss es leider so sagen: Europa hat mit Nord Stream 2 zu lange auf das falsche Pferd gesetzt. Jetzt fehlen die Alternativen. [….]  Die Umstellung auf eine Wasserstoffwirtschaft wird Jahrzehnte dauern. Europa hat gerade erst beschlossen, stärker auf Erdgas als Brückentechnologie zu setzen. Außerdem braucht die Industrie das Gas als wichtigen Rohstoff – vom Düngemittel bis zur Joghurtproduktion. Ein Boykott Russlands würde nicht nur für Preisschübe sorgen, sondern auch Lieferketten zerreißen lassen. [….] Ein Swift-Ausschluss würde auch bedeuten, dass europäische Forderungen gegenüber Russland nicht mehr beglichen werden können. Europäische Banken haben Kredite in Milliardenhöhe gewährt, die dann nicht mehr zurückgezahlt werden können. [….]  Die deutschen Kreditinstitute haben ihr Russlandgeschäft bereits deutlich zurückgefahren. Wir wissen aus Daten der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, dass vor allem italienische, französische und österreichische Institute stark in Russland engagiert sind. Gemessen an der Wirtschaftsleistung ist das Risiko bei uns hier in Österreich am größten[….]  Entscheidend wird sein, wie sich China verhält. Präsident Xi Jinping könnte die russische Wirtschaft mit Kapital, Warenlieferungen und Know-how unterstützen, wenn der Westen das Land boykottiert. [….] Wenn China und Russland aber noch enger zusammenrücken, haben wir schlechte Karten. [….]

(Spiegel Interview von Michael Brächer, 24.02.2022)

Selbstverständlich verurteile ich Putins Politik ebenso scharf, wie die EU-Regierungschefs.

Aber ich befürchte, daß der Hass auf Putin, uns zum Teil als Kompensation dient, um nicht über die katastrophalen eigenen strategischen Fehler nachzudenken.

[….]  Wie man es mit einem einzigen Satz zu gewisser Berühmtheit bringen kann, hat vor ein paar Tagen Viktor Tatarinzew, Russlands bis dahin weitgehend unbekannter Botschafter in Schweden, eindrucksvoll bewiesen. In einem Interview mit der Zeitung »Aftonbladet« hatte Tatarinzew, mutmaßlich stellvertretend für das russische Regime, eine gewisse Gleichgültigkeit hinsichtlich möglicher Sanktionen des Westens gegen sein Land zum Ausdruck gebracht: »Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, aber wir scheißen auf Ihre ganzen Sanktionen.« Das war an Klarheit kaum zu steigern – und inhaltlich durchaus gerechtfertigt. Denn jetzt, kaum zwei Wochen nach Tatarinzews markigem Statement, hat der Westen tatsächlich Russland mit Sanktionen belegt, und fürs Erste lässt sich sagen: Unruhig schlafen wird deswegen im Kreml kaum jemand. [….]

(Tim Bartz, 23.02.2022)

Die EU muss viel besser, klüger, einiger und tatkräftiger werden.

Der Westen ist auch ganzer Linie gescheitert. Putin lacht uns aus.