Freitag, 10. Februar 2012

Demokratie-Verteidigung


Als ein nicht ganz unbekannter deutscher Politiker den damaligen russischen Präsidenten Wladimir Putin als „lupenreinen Demokraten“ titulierte, gab es mächtig Ärger.
Insbesondere Oppositionsführerin Angela Merkel empörte sich und versprach im Falle ihrer Wahl zur Kanzlerin die Beziehungen zu Moskau zu vereisen.
Stattdessen wollte sie ihren Lieblingspolitiker George W. Bush hofieren, dem sie schon als Oppositionsfrau öffentlich immer wieder Bewunderung für seinen grandios-intelligenten Irak-Kurs aussprach.

In einer durchaus angebrachten Tu-quoque-artigen Replik wandte Merkels Amtsvorgänger ein, wenn ihr die Menschenrechte so wichtig wären, solle sie doch mal ihren Busenfreund GWB auf die Todesstrafe ansprechen, die international geächtet ist, in Russland seit 1996 nicht mehr durchgeführt wird und überhaupt nur noch in fünf Staaten regelmäßig jedes Jahr praktiziert wird. 
Die fünf verbrecherischen Nationen sind China, Iran, Irak, Saudi-Arabien und die USA!

Bush hat als Gouverneur von Texas persönlich mindestens 135 Todesurteile unterzeichnet und in keinem einzigen ihm vorgelegten Fall davon davon abgesehen den Henker einzuschalten.

Über die Demokratie in den Vereinigten Staaten ließe sich trefflich streiten.

Kann ein Land diesbezüglich als vorbildlich gelten, wenn nur Millionäre Präsident werden können, wenn Folter angeordnet wird, wenn Rechtsstaatlichkeit bewußt sabotiert wird (Guantanamo, Baghram, Nichtanerkennung des Internationalen Gerichtshofes, Ablehnung des Kyoto-Protokolls, PATRIOT-Act,..) und wenn die Wahlkreise nach dem Belieben der Amtsinhaber so zurechtgeschnitten werden, daß über 90% der Abgeordneten automatisch immer wieder-“gewählt“ werden?

Ich denke, daß sich der rotgrüne Kanzler aufgrund seiner Intelligenz sehr gut ausdrücken konnte und selten mal einen unsinnigen Satz rausgehauen hat.
Zweimal hat er ein drastisches Adjektiv eingeführt, das ich a posteriori betrachtet für unangemessen halte. 
Die Solidarität mit Amerika hätte nicht „uneingeschränkt“ sein müssen und Putin ist vielleicht demokratisch, aber nicht gerade „lupenrein“.
Aber das sind nur zwei fragwürdige Formulierungen in sieben Jahren, in denen er praktisch jeden Tag öffentlich gesprochen hat.

Die Charakterisierung Putins als „lupenreiner Demokrat“ habe ich damals aus zwei Gründen nicht kritisiert.

Erstens bin ich generell der Meinung, daß gerade die Deutschen, die in ihrer Geschichte mehrfach Diktaturen einrichteten und denen die Demokratie mit Gewalt von außen und sehr verspätet gebracht werden mußte, sich zurückhalten sollten Riesennationen wie China und Russland zu belehren.

Wer über 5000 Jahre Kulturgeschichte verfügt, über eine Milliarde Einwohner zählt und im Gegensatz zu den parasitären und zerstörerischen Europäern nicht die ganze Welt kolonialisiert und ausgebeutet hat, muß sich nicht von einer Neo-Demokratie im 60. Jahr ihres Bestehens den erhobenen Moral-Zeigefinger zeigen lassen.

Viel angemessener wäre es, wenn wir erst mal vor unserer eigenen Haustür kehrten. Und unserer Haustürbereich sind unsere Freunde, unsere engen NATO- und EU-Verbündeten. 
Wir bilden uns doch so viel auf unsere „Wertegemeinschaft“ ein.
Es ist also absolut überfällig Washington wegen Gitmo und Todesstrafe die Daumenschrauben anzusetzen. 
Es ist erbärmlich, wie die EU achselzuckend das Einrichten einer Diktatur in Ungarn hinnimmt und tatenlos zusieht, wie als erstes die freie Meinungsäußerung abgeschafft wird.

Das geht uns etwas an, weil Merkel in allerhand elitären Clubs zusammen mit Orban und Obama sitzt.

Der andere Grund weswegen ich mich nicht öffentlich über das „lupenrein“ empörte, besteht darin, daß ich es für demokratiefördernd halte, wenn Russland und Deutschland sehr enge Beziehungen eingehen. 
Ich habe die engen persönlichen Kontakte der beiden first-couples mit großem Wohlwollen gesehen.
Daß damit auch Deutschland sehr genutzt wurde, wird wohl auch die derzeitige Kanzlerin nicht abstreiten. Sie kritisierte deswegen so scharf, weil sie ihren Wahl-Konkurrenten persönlich desavouieren wollte.

Denn wie sich inzwischen eindeutig herausgestellt hat, sind Merkel Menschenrechte und Demokratie völlig egal. 
Sie kungelt begeistert mit den übelsten Diktatoren, versorgt die ganze Welt mit Waffen, wertet sogar extrem zwielichtige Gestalten wie Kasachstans Diktator Nasarbajew auf und kümmert sich einen Dreck darum, wenn Partner wie Russland, China, Ungarn vor ihren Augen auf den Menschenrechten rumtrampeln.

Was war das letzte Woche für ein Desaster in China!

Merkel sprach allgemein vom Nutzen der Meinungsfreiheit und befand Pekings Umgang mit Kritikern als zu "hart". Nur wenige Stunden später bekam die Kanzlerin selbst zu spüren, wie ihre Gastgeber mit kritischen Köpfen umspringen. Der bekannte Anwalt Mo Shaoping, der sich einen Namen als Verteidiger vieler Bürgerrechtler gemacht hat, wurde von der Polizei daran gehindert, zu ihrem Empfang in der deutschen Botschaft zu gehen.  Dies zeigt: Pekings Funktionäre stoßen ungerührt die mächtigste Politikerin Europas vor den Kopf.

Die CDU-Chefin zeigte deutlich, daß sie sich gerne alles gefallen läßt.
Sie protestierte nicht und signalisierte den Chinesen, daß Demokratie-Beschwörungen nur etwas für das heimische Publikum wären, für ihre Politik aber keine Bedeutung hätten.

Auf politischen Druck war zuvor bereits ein Besuch Merkels bei einer kritischen Zeitung in der südchinesischen Metropole Guangzhou geplatzt. Auf der zweiten Station ihrer China-Reise hatte Merkel eigentlich die "Nanfang"-Zeitungsgruppe besuchen wollen. 
[…]  Chinesische Quellen deuteten an, es habe politischen Druck gegeben.

Daß Putin alles andere als ein „lupenreiner“ Demokrat ist, sehen wir ziemlich deutlich seit seine Partei „Einiges Russland“ (ER) bei der Wahl zur Staatsduma am 04.12.2011 überraschend „nur“ auf 49,3% kam und die Opposition Morgenluft wittert.

Ein paar vereinzelte Oppositionelle kann Putin ganz gut aushalten - solange er ungefährdet regiert und die ER stets eine Zweidrittel-Mehrheit bekommt.
Aufmüpfigkeit hingegen, die seine im März 2012 geplante Re-Installierung als Präsident gefährden, duldet Putin nicht und geht scharf gegen Proteste vor.

Ich unterstütze natürlich diese Proteste und wünsche mir, daß die Russen selbst ein bißchen mehr Demokratie gegen den de facto Diktator Putin durchsetzen können.
Sicherlich ist es auch irgendwie möglich, daß aus Deutschland oppositionelle Bürger logistisch unterstützt werden.

Daß aber nach vielen Jahrhunderten Diktatur demokratische Spielregeln nicht gerade eingeübt sind, ist nur zu verständlich.

Und es gibt viele Beharrungskräfte, die keine Demokratie wollen - zu ihnen gehört der orthodoxe Patriarch Kyrill I.

"Sie persönlich, Wladimir Wladimirowitsch, haben eine großartige Rolle bei der Korrektur des Laufs unserer Geschichte gespielt. Ich möchte mich bei Ihnen dafür bedanken", sagte der Patriarch nach Kirchenangaben. In der Vorwoche hatte Kyrill I. orthodoxen Christen abgeraten, an der dritten großen Protestkundgebung gegen Putin in Moskau teilzunehmen. Sie sollten lieber zu Hause beten, als Sprechchöre zu rufen. 

(Kathweb 09.02.2012)
 

Wie überall wollen die steinreichen Oligarchen, die in Wirklichkeit die Fäden ziehen, nicht gerne erleben, daß irgendwelche unabhängigen und unbeeinflussbaren Parlamentarier über ihre Köpfe hinweg regieren.

Und es gibt noch eine große, immer stärker werdende antidemokratische Beharrungskraft in Russland, die gerade mal wieder ob der homophoben ER-Agenda putinophil tönt:
Die Kirche, die Christen.

Allen Ernstes wird nun sogar erwogen berittene Kosaken-Aufgreiftrupps als Sittenpolizei gegen Homosexuelle einzusetzen! 
Diese Freiwilligentrupps will der ER-Abgeordnete Vitalij Milonow zur Jagd auf Schwule und Lesben zusammentrommeln.

Die Kosaken sollen helfen, das "Gesetz gegen Schwulenpropaganda" umzusetzen, das im Petersburger Stadtparlament diese Woche in zweiter und vorletzter Lesung verabschiedet wurde. Die Abgeordneten haben zwar nicht definiert, was genau als "Schwulenpropaganda" gelten soll, aber sie haben bereits Geldstrafen von bis zu 500.000 Rubel (12.800 Euro) festgelegt.
Ihre Initiative begründen Milonow und Co. mit einem ebenfalls nicht näher definierten "Kinderschutz". Petersburgs ehemalige Bürgermeisterin Walentina Matwijenko, die neuerdings der oberen Kammer des föderalen Parlaments in Moskau vorsteht, möchte das Gesetz auf das ganze Land ausdehnen.
Damit avancieren Homosexuelle - neben Juden und "Kaukasiern" - endgültig zu einer Minderheit, die hauptsächlich einem Zweck dient: der Abgrenzung jenes schwammigen Gebildes, das populistische Machthaber "die russische Seele" nennen.

Mit Menschenrechten haben diese neuen Umtriebe der Kreml-Partei nun wirklich gar nichts mehr zu tun.

Merkel und Westerwelle schweigen - die Christen sind entzückt:

Der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, Kyrill I., hat die Regierungszeit von Wladimir Putin einem Medienbericht zufolge als 'Wunder Gottes' bezeichnet. Auf einer Versammlung religiöser Führer in Moskau habe Kyrill die Gegner Putins kritisiert und für eine weitere Amtszeit im Kreml geworben, berichtete die Zeitung Kyiw Post. Putin habe für Stabilität und Zusammenhalt in Russland gesorgt.
(Dapd 10. Februar 2012)