Da Markus Söder heute in unfassbar peinlicher Anbiederung, seine Lieblings-Hits in einer #Södersongs Playlist veröffentlichte - Abhotten mit DJ Söder – dachte ich mit Wehmut an meine prä-digitale Jugend zurück, als glücklicherweise nichts durch playlists und streaming-Plattformen nur einen Klick entfernt war, sondern vergleichsweise großen logistischen Aufwand bedeutete. Um Musik mit einigermaßen gutem Klang zu hören, benötigte man die elterliche Stereoanlage und wurde daher zwangsläufig auch durch der Musikgeschmack der Erzeuger frühgeprägt. In meinem Fall war das viel Klassik, Jazz und vereinzelte aktuellere Popmusik-Schallplatten wie Joan Baez, Simon And Garfunkel, Elton John, Carol King, Cat Stevens, Joni Mitchell. Mit einem halben Jahrhundert Abstand, kann ich ihnen nur posthum gratulieren. Die Platten sind alle gut gealtert, erstaunlich wenig Schrott dabei.
Aber, die Pubertät will es so, natürlich emanzipierte ich mich davon und hörte auf meinem kleinen Ghettoblaster, der es möglich machte, aus dem analogen Radio mit Zimmerantenne selbst Musik auf Cassette aufzunehmen, die Songs nach meinem Geschmack. Die eigenen Lieblingslieder „zu erwischen“ war eine Kunst und ein Glückspiel. Ergiebig waren nur die „Norddeutschen Top Ten“ am Samstagvormittag.
Dadurch war man up to date, hatte allerdings oft das Pech, die Lieder nicht in Gänze aufzunehmen, weil der Moderator hereinsprach oder eine Verkehrsmeldung dazwischen kam.
Obwohl ich keineswegs in prekären Verhältnissen lebte, bekam ich meine erste eigene Stereoanlage zu meinem 16. Geburtstag geschenkt: Verstärker, Cassettendeck, Dual-Plattenspieler, zwei Miniboxen für die Höhen und einen Subwoofer.
Believe it or not, dasselbe Ding steht heute noch in meinem Wohnzimmer. Etwas eingestaubt. Das Cassettendeck wurde einmal ausgetauscht, ein CD-Deck kam hinzu.
Schon bevor ich 16 wurde, kaufte ich mit Schalplatten, beispielsweise genau vor 40 Jahren, zum Erscheinungsdatum im März 1983, „The Hurting“ (Tears for Fears), die ich aber meinem Alter entsprechend keinesfalls immer in Gegenwart meiner Mutter im Wohnzimmer hören wollte. Also fuhr ich mit meiner Schallplatte und Leercassetten zu meiner liebsten Schulfreundin, die bereits einen eigenen Plattenspieler besaß und ließ mir dort alles überspielen. So wie ich schon zuvor meine Lieblingsmusik in der Zeit; Helen Schneider, Kate Bush, David Bowie, Depeche Mode und The Cure; immer auf Cassette umformatieren musste, um sie in meinem Zimmer hören zu können.
Eine Single-Platte kostete sechs D-Mark, Langspielplatten an die 20 DM. Kein Pappenstiel für Taschengeld-abhängige Jung-Teenager. Man musste darauf sparen. Zudem war es nicht unbedingt leicht, die Objekte der Begierde überhaupt zu bekommen. Zunächst einmal musste man sich durch Zeitschriften informieren und dann mit Bus und Bahn durch die Stadt fahren, die wenigen guten Plattengeschäfte aufsuchen, in die Alben reinhören und hoffen, daß noch ein Exemplar da war. Das erforderte oft viele Anläufe, viele Stunden Bahnfahrt und viele vergebliche Stunden Stöberei.
Für die Generation Klugtelefon mag das extrem umständlich klingen, aber der Gedanke kam mir logischerweise nie, weil ich es nicht anders kannte. Auch a posteriori möchte ich die Erfahrung nicht missen, da wir unsere neuen Schätze eben auch wie einen echten Schatz schätzten. Ich erinnere mich an eine Verabredung mit einer Mitschülerin, die vorher noch nie bei mir war, so daß ich üblicherweise einigen Aufwand betrieben hätte, um es ihr angenehm zu machen. An dem Tag bekam ich aber die lang ersehnte „The Head in the Door“ (The Cure, 1985), so daß ausführliche Untersuchungen des Covers, Lesen der Texte und ununterbrochenes Hören notwendig wurde.
Ich weiß noch genau, wie ich mich entschuldigte, nicht fragen zu können, was meine Besucherin gerne hören würde, aber nun müsse ich nun einmal ununterbrochen „in between days“ und „close to me“ hören. Aber selbstverständlich akzeptierte sie das, da es ihr auch immer so mit einer neuen Platte ginge; damit beschäftige man sich über Tage intensiv.
Das Schlafzimmer meiner Mutter lag genau nebenan und die Bausubstanz des Hauses war übel. Alles nur dünne Trockenbauwände. Hohle Sperrholztüren. Sie verstand selbstverständlich meinen Wunsch, mit meinen Freunden meine eigene Musik zu hören, aber einerseits war die dafür angemessene Lautstärke umstritten und zum anderen, hielt sie das frühe 1980er Jahre Elektrozeug für eine schwere Geschmacksverirrung und wünschte sich, ihr Erstgeborener möge doch Kompositionen höherer Qualität konsumieren.
Das ärgerte mich, weil ich zwar leichten geschmacklichen Abwegen frönte, aber immerhin nie etwas wirklich Grauenhaftes wie Schlager, Modern Talking, CC Catch spielte. Außerdem hatte meine Mutter gar keine Ahnung von guter aktueller Musik. Insgeheim war ich aber auch verärgert, weil ich befürchtete, einiges könnte wirklich schlecht sein. Als Teenager war ich selbstverständlich schizophren, wollte mich vollständig von meiner Mutter und ihren Vorlieben abgrenzen, aber dennoch sollte sie auch meine Lieblingssongs mögen.
Vereinzelt kam das vor. Sie mochte ein paar Sting-Songs (Englishman in New York –History Will Teach Us Nothing – They Dance Alone – Fragile) und eigenartigerweise „Road to nowhere” (Talking Heads, 1985). Sie fand Terence Trent D'Arby sexy und akzeptierte, daß Mick Hucknall (Picture Book, 1985) eine tolle Stimme hatte.
Aber das führte zu nichts, denn der Wunsch, sie möge endlich akzeptieren, welch gutes Ohr ich für Musik hatte, würde unweigerlich dazu führen, zusammen Musik zu hören und genau das will man in dem Alter natürlich gar nicht.
Als emanzipiertes Kind wohnte ich nach meinem 18-Geburtstag natürlich allein, verfolgte weiter intensiv das Pop-Geschehen, trat ins CD-Zeitalter ein, hörte Chicago House und zweifelte bei Acid House erstmals an meiner eigenen Jugendlichkeit.
Als Techno und Loveparade kamen, war ich bereits auf die Seite der „älteren Generation“ gewechselt. Das war nichts für mich. Zumal es dann mit den deutschen Versionen (Blümchen, Marusha) noch viel unerträglicher wurde. Kaum zu glauben, aber die Geschmacksspirale bohrte sich immer tiefer hinab in akustischen Orkus. Es folgten noch Deutsch-Rap, der zweite Schlagerfrühling und dann die wirklich üblen Wohlfühlpop-Deutschsänger, die unablässig von „MENSCHEN! LEBEN! TANZEN! WELT!“ textliche Plattitüden trällerten. Sehr schlimm.
Heute gehöre ich zu den Alten, die sogar noch älter sind, als meine Eltern zu dem Zeitpunkt, als ich sie erstmals nicht mehr als totale Autorität akzeptierte.
Akustische Verbrechen wie Max Giesinger und Philipp Poisel können heute geschehen, weil die universelle, billige und superschnelle Verfügbarkeit jeder Musik das Urteilsvermögen der jungen Generation zerstört haben.
Daß ich vor 40 Jahren ein großen Aufwand für eine neue Schallplatte trieb und mich tagelang intensiv nach dem Kauf damit beschäftigte, korrespondierte mit den Ebenen der Plattenfirmen und der Künstler. Schallplatten waren ihre Haupteinnahmequelle und dementsprechend viel Mühe steckten auch die Musiker in ein neues Album. Sie wußten, es würde von jedem Käufer auf Herz und Nieren geprüft. Heute kommt das Geld durch Konzerte und Merchandising rein. Ein Popmusiker ist nicht mehr auf die Verkaufszahlen seiner CDs angewiesen. 12 ausgefeilte Songs aufwändig zu produzieren, ist pure Verschwendung. Ein radiotauglicher Track reicht. Der Rest wird lieblos zusammengesampelt, um das Album zu füllen. Die Konsumenten downloaden ohnehin nur das eine Lied. Da alle vernetzt sind, mögen ohnehin alle dasselbe. Social Media nivelliert die Jugend nicht nur optisch, sondern auch in jeder anderen geschmacklichen Hinsicht.
Wer, wie ich, in den 1980ern seinen Schulabschluss gemacht hat, möge die Website seiner alten Schule aufrufen und sich Schulabschlußbilder von heute ansehen. Während es damals eine auf den ersten Blick sichtbare große Heterogenität aus Punkern, Mods, Poppern, Grufties, Mods, Ökos etc gab, sehen die Abiturienten von heute völlig einheitlich aus. Alle Jungs tragen Bart, Tattoos und Uppercut. Alle Mädchen die gleiche Schminke und die gleiche Jennifer Anniston-Gedächtnis-Frisur.
Während in den 1980ern nur eine Handvoll echter Spacken auf solchen Bildern Anzüge trugen, stecken die durch amerikanische Social-Media-Plattformen gehirngewaschenen Schulabgänger heute zu 99% in den gleichen Anzügen.
Eine so angepasst denkende Jugend, die nicht mehr liest und lernt, sondern googelt und klickt, kann folgerichtig auch keine geschmacklichen Urteile fällen.
So kommt es dann zu Katastrophen wie „Intimate“, der Joyn/Pro7-Show zum professionellem Mitschämen.
Ich erfuhr davon, weil ich erstens jeden Artikel der großartigen Sprachkünstlerin Anja Rützel lese und zweitens die fünf Twen-Protagonisten alles Hamburger sind, die durch die hiesige Boulevardpresse in meine Wahrnehmungsperipherie eindrangen. Oskar und Emil Belton, 24, sind Zwillinge und Jungschauspieler aus gutem Hause, die einen gewissen Wiedererkennungswert haben, da sie echte Schönheiten sind. Weswegen sie berühmt, oder eher „bekannt“ wurden, kann ich nicht sagen, weil ich, siehe oben, ein der Jugendszene längst entwachsener Opa bin. Durch den SPIEGEL erfuhr ich also:
[….] Peinlichkeiten für alle [….] Natürlich gleichen sich die blanken Hintern. Das verdruckste Strap-on-Shopping, die unsachgemäßen Fremdgehvertuschungen, Sätze wie »Arschficken reicht noch nicht, um ein wahrer Künstler zu sein« kommen einem natürlich bekannt vor – es scheint unmöglich, die neue Cringe-Exploitation-Serie »Intimate« zu schauen, ohne an die alte Cringe-Exploitation-Serie »Jerks« zu denken. Trotzdem wäre es grundfalsch, »Intimate« einfach als verdiggerte und zielgruppenmäßig auf die Generation Y schielende Version des bereits Bekannten zu sehen, erdacht und produziert nun eben von jungen Menschen: Den Brüdern Oskar und Emil Belton und Bruno Alexander nämlich, die zuletzt schon das tragikomische Supermarktkammerspiel »Die Discounter« schufen, und die »Intimate« nun zusammen mit Max Mattis und Leo Fuchs als Produktionsfirma »Kleine Brüder« nicht nur hinter der Kamera verantworten, sondern die Hauptfiguren als verpeinlichte Versionen ihrer selbst auch selbst verkörpern. Das ist keine Nachmache, keine bloße Skalierung auf eine andere Lebenswelt, auch wenn sich die Geschichten freilich zumindest strukturell ähneln und als größter Unterschied vor allem die schnelleren Schnitte auffallen, sondern in erster Linie eine Erleichterung: Das Recht auf Peinlichkeit steht jedem und jeder zu, das ist die Kernbotschaft dieser acht knapp halbstündigen Folgen. [….] So spontan und frisch das weitgehend improvisierte Spiel der Hauptfiguren wirkt, so erprobt ist die Idee, mit »Intimate« in schnipseliger Erzählweise dahin zu stochern, wo es weh tut. [….] Wer immer noch zweifelt, ob »Intimate« beim Zuschauen auch funktioniert, wenn man eher im »Jerks«-Alter ist und, ein noch gewichtigeres Skepsisargument, sämtliche dramaturgischen Autsch-Manöver nach fünf Staffeln schon derart verinnerlicht zu haben glaubt, dass man sich unschockbar wähnt, für den oder die nur noch ein Tipp: Warten Sie auf die Urinierszene im Park. Danach sprechen wir weiter. [….]
(Anja Rützel, SPON, 24.03.2023)
Frau Rützel muss als ständige freie Autorin des SPIEGEL Trash-TV gucken. Das ist eine ihre Kernkompetenzen. Damit erfüllt sie zwei wichtige Aufgaben. Sie unterhält mich mit ihrer großartigen Formulierungskunst und informiert mich zuverlässig über die Abgründe, die ich mir nicht antun muss.
Die US-amerikanische Lust an „Farting-Jokes“, also dem
Humor, bei dem Menschen in unerträglich peinliche Situationen gebracht werden,
so daß man sich als Zuschauer mitschämt, erschließt sich mir nicht. Ich erfreue
mich nicht daran, andere in äußerst beschämenden Umständen auszulachen und
hatte „Intimate“ dementsprechend schnell wieder verdrängt. Aber dann tauchten
durchaus wohlwollenden Berichte auf den Medienseiten der seriösesten Presse auf.
[….] Wir sind also wieder im aktuellen Lieblingsgenre anspruchsvollerer Filmemacher und -kritiker: Nennen wir es mal "Cameo-Mockumentary auf mittelstarkem Crack". Vulgo: Jerks oder in sonst mit mehr Humor gesegneten Ländern eben Klovn oder Curb Your Enthusiasm. Konzept: ein grobes Skript mit den Namen realer Personen, ein wenig soziale Raumverengung und ab da viel Improvisation. Mit Blick auf die Dialoge, die sonst oft in deutschen Drehbüchern stehen, ist es ja zunächst keine schlechte Idee, seinen Schauspielern, was das betrifft, zu vertrauen. Was den genannten Serien darüber hinaus gemein ist, ist der Anschein, echten Menschen dabei zuzusehen, wie sie angenehm ungehemmt und enorm tief in den Eingeweiden der Peinlichkeit herumwühlen. Sprich: viel Fäkal-Witz. Auch sonst spielt sich viel untenrum ab, aber, so es denn glückt, und bei den Genannten glückt es oft, landet man trotzdem selten bei Pipi-Kacka-Humor. Und da wird es jetzt, wie man neudeutsch sagen würde: tricky. [….]
(Süddeutsche Zeitung, 01.04.2023)
Nun habe ich doch, wegen des Hamburg-Kolorits, die erste Folge „Intimate“ gesehen. Es war noch schlimmer, als nach dem Rützel-Text befürchtet.
Diese deutsche Freude am Mitschämen, wenn andere in unerträglich peinliche Konstellationen geraten, ist verstörend. Es ist nicht nur unlustig dabei zuzusehen, wie jemand anderes vor Peinlichkeit zergeht, sondern regelrecht abartig. Ich kann und will das auch nicht sehen.
Das ist der Humor der GenZ und Generation X? Damit bin ich offiziell ein alter Knacker, der die Jugend nicht versteht.
In der FAZ wurde „Intimate“ sogar als „zum Brüllen komisch“ bezeichnet. Explizit eine Szene, in der ein Pädophiler in der Kaifu-Lodge-Sauna sitzt und heimlich mit der GoPro Nackte filmt:
[…..] „Auch sonst geben sich Gaststars die Klinke in die Hand, Jonas Nay steht in seiner Rolle auf Drogen und Sex, Marc Hosemann spielt einen erpresserischen Vermieter, und zum Brüllen komisch ist Martin Brambach als Sauna-Spanner: „Jetzt kommen gleich die Pilatesmädels, zehn bis fuffzehn geile nackte Frauen.“ [….]
Gerade die Szene fand ich so schlimm, daß ich sofort vorspulen musste.
Die von Rützel angeteaste Szene mit Strap-On und Analsex geht so, daß Freundin unbedingt ihren abgeneigten Freund mit einem umgeschnallten Dildo von hinten nehmen will. Der will aber nicht. Sie hat aber einen reichen Vater und verspricht, Papa um Geld anzuhauen, wenn Freund das mit sich machen lässt. Also willigt er ein und findet es so schrecklich, daß er, mit dem ungewohnten Poppers vollgepumpt, mitten dabei in Ohnmacht fällt.
Ich bin der humorlose Opa, über den die heutige Jugend den Kopf schüttelt.
Daß Teens und Twens andere Sachen lustig finden, als ich, ist vollkommen normal, soll so sein, die Gesellschaft entwickelt sich. Aber wieso lobpreisen FAZ, Spiegel, ZEIT und Süddeutsche Zeitung sowas?