Samstag, 14. September 2019

Hoffnungszeichen


Der Hamburger Segler Boris Herrmann, der Greta Thunberg über den Atlantik fuhr, gehört aus meiner linken Perspektive zu einer nicht eben sympathischen Szene aus internationalem Jetset, Adeligen, Reichen.
Aber zurück aus New York sagte er zur Kritik an der PR-trächtigen Reise einige kluge Sachen. Das muss ich zugeben.

[….] Die Deutschen haben oft den Anspruch, man darf nur etwas einfordern, wenn man moralisch integer ist, also selbst perfekt ist. Aber man kann bei dem Thema selbst nicht perfekt sein. Insofern ist es eine wirklich spannende Diskussion. Und unabhängig von der gesellschaftlichen Diskussion gibt es auch noch die rein logische Betrachtung dieser Reise: Wir waren für eine gewisse Zeit eine Allianz von zwei Parteien, die Klimaaktivistin und das Regattateam. Wir haben uns punktuell zusammengetan. Und die Klima-Aktivistin Greta ist CO2-neutral über den Atlantik gefahren. Und alles, was das Regattateam außerhalb dieser Reise macht, dafür kann Greta nicht kritisiert werden. Man kann einen Veganer, der mit dem Taxi fährt, ja auch nicht dafür verantwortlich machen, dass der Taxifahrer am nächsten Tag vielleicht ein Steak isst. [….]

Absolute Moral funktioniert in der Praxis nicht. Moralische Bedenken lassen sich immer konstruieren.

Michelle Obama zeigte das in ihrer wegweisenden Rede aus dem demokratischen Nominierungsparteitag im Juli 2016.

[…..] “That is the story of this country, the story that has brought me to this stage tonight, the story of generations of people who felt the lash of bondage, the shame of servitude, the sting of segregation, but who kept on striving and hoping and doing what needed to be done so that today I wake up every morning in a house that was built by slaves. And I watch my daughters, two beautiful, intelligent, black young women playing with their dogs on the White House lawn.” [….]

(A posteriori sind solche brillanten Momente der gebildeten und hochintelligenten Obamas kaum zu ertragen, weil die Fallhöhe zu den verblödet-bornierten Trumps so gewaltig ist.)

Aber ja, die Gründungsväter der USA und ihrer Verfassung, die Erbauer der Washingtoner Institutionen waren aus heutiger moralischer Perspektive einfach Abschaum. Sklavenhalter, die Lynchjustiz praktizierten, Frauen kein Wahlrecht zugestanden, Kinderarbeit guthießen, in gewaltigem Ausmaß Land von den Ureinwohner stahlen und natürlich auch Schwule diskriminierten.

Sollte man die Werke dieser Typen, die heute für ihre Taten im Gefängnis schmoren müssten nicht in Bausch und Bogen verdammen? Alles Abreißen und den Mantel des Schweigens darüber breiten?
Nein, denn die ewig geltende, absolute Moral gibt es nicht.

War Leni Riefenstahl eine moralisch fragwürdige Person, die ihre Nähe zu Hitler und Goebbels ausnutzte und möglicherweise die Augen zudrückte, wenn sie Kinder aus dem KZ als Statisten für ihre Filme anforderte?
Ganz genau ist das nicht geklärt; sie hat für vieles andere, teilweise sogar einleuchtende Deutungen.
Aber garantiert war sie nicht wie ihre Altersgenossin Marlene Dietrich eine anständige Person, die sich mutig gegen Hitler und gegen Antisemitismus engagierte.
Große Künstler sind aber beide.
Man kann Riefenstahls stilbildenden Einfluss auf Regie, Kameraführung und Modefotographie der nächsten 100 Jahre gar nicht überschätzen. Sie war auf ihrem Gebiet ein Genie und schuf ganz große Kunst.

Kirchenmusik und Kirchengebäude führen ebenfalls so ein moralisches Gepäck mit sich. Die früheren Kirchenfürsten, die heute so bewunderte Weltkulturdenkmäler wie Notre Dame in Auftrag gaben, waren entsetzliche Tyrannen, die ihr Vermögen raubten und erpressten, Amoral predigten, Menschen versklavten. Es galt Recht der ersten Nacht (Lex prima noctis), Hexenverbrennung und so ziemlich jede Scheußlichkeit, für die man heute für immer weggesperrt würde.
Deswegen sprengen wir aber nicht den Kölner Dom oder den Vatikan.

Große Handwerkskunst und beeindruckende Architektur kann noch viele Jahrhunderte später die Bürger beeindrucken.

Es ist aber wichtig die Institutionen, die damals dahinter standen zu ändern.
Die heutigen Bewohner des Weißen Hauses sollten also keine Sklavenhalter mehr sein, Schwulen die gleichen Rechte wie Heterosexuellen garantieren und Frauen niemals schlechter behandeln als Männer.
Umso bedrückender, daß mit IQ45 ein Okkupant gewählt wurde, der das Rad um hundert Jahre zurückdreht, rassistisch und misogyn denkt.

Viele Kirchengebäude beeindrucken trotz ihrer albern phallischen Grundkonstruktion heute mehr denn je, weil mit den technischen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts so phantasielose immer gleichen rechteckige Glas- und Beton-Klötze errichtet werden.

Als Atheist wünsche ich mir also im Hamburger Stadtbild den Erhalt der historischen Hauptkirchen. In dieser Hinsicht bin ich mir mit der Kirchenleitung ausnahmsweise einig.

Ich begrüße aber insbesondere die Umwidmung. Diese Gebäude sollten von anderen verwendet werden, die nicht mehr der Moral einer primitiven Hirtenkultur vor zwei Jahrtausenden folgen.

Die Noch-Kirchen bestätigen ihre Erbärmlichkeit, indem sie den Kirchengebäuden, die sie nicht mehr halten können, weil ihnen die Gläubigen abhandengekommen sind, scheinmoralische Regeln aufoktroyieren.

[….] Dem Onlinemagazin Kirche und Leben zufolge ist "bei der künftigen Nutzung der Betrieb von Bordellen oder sonstigen Einrichtungen des Rotlichtmilieus ausgeschlossen". Auch "nichtchristliche" Religionen dürfen nicht mitsteigern. Bevor man das jetzt zusammendenkt und zum Ergebnis kommt, dass Huren, Freier, Zuhälter und beispielsweise Muslime leider draußen bleiben, ist zu sagen: Was in Altena an diesem Wochenende passiert, ist keineswegs so bizarr wie das, was sich die Kirche unter dem nichtchristlichen Rotlicht vorstellt. Übrigens: Der französische Philosoph Michel Foucault hat einmal gesagt, dass Bordelle, Gefängnisse und Kirchen etwas verbinde: Das seien "Heterotopien", nämlich Räume, denen das Anderssein in einer sonst durchfunktionalisierten Welt gemeinsam sei. [….]

Beeindruckend, wenn eine Kinderficker-Organisation mit antisemitischer Genozid-Vergangenheit Prostituierten die Moral abspricht.

In Hamburg beklagen auch die evangelischen Kollegen ihre eigene Schwächung. Bischöfin Kirsten Fehrs macht sich Sorgen, weil der Mitgliederschwund die Kirchen schwach mache.

Was ihr Kummer bereitet, gibt mir Hoffnung: Möge die Kirchen schnell und dauerhaft weiter schwächer werden. Mögen die Gebäude sich von ihren ehemaligen Herren emanzipieren und eine moderne Bedeutung finden.
Jeder Puff in einer ehemaligen Kirche ist mir lieber als ein Gottesdienst in einer Kirche.

[…..] Abendblatt:  Ist Ihnen angesichts des Mitgliederrückgangs – derzeit hat die Nordkirche rund zwei Millionen Mitglieder – nicht Bange um die Zukunft dieser Institution?
Fehrs:  Nicht grundsätzlich, denn nach unserem Glauben ist es Gott selbst, der die Kirche erhält. Dennoch macht mir natürlich Sorge, dass wir als gesellschaftliche Institution schwächer werden, das gilt ja auch für Parteien, Gewerkschaften und Vereine. Wir brauchen aber Menschen, die sich an Institutionen binden, weil die Gesellschaft sich dadurch auch an Werte bindet. […..]  […..] 
Wir haben in Deutschland mehr als 600 Missbrauchsfälle, die bekannt geworden sind. Zwei Drittel davon sind Heimkinder in diakonischen Einrichtungen – vor allem in der Nachkriegszeit bis in die 70er-Jahre hinein. Auch im Kontext der Reformpädagogik haben Täter ihr System in einer Welt etabliert, wo man Freiheit mit Grenzenlosigkeit verwechselt hat. […..]  Neu bekannt werden vor allem Fälle, die oft jahrzehntelang verschwiegen wurden, wie etwa im Margaretenhort in Harburg. In dieser Einrichtung haben Jugendliche in den 1980er-Jahren Mitbewohner und Mitbewohnerinnen bedrängt und vergewaltigt – und das Aufsichtspersonal hat es geduldet. […..]