Donnerstag, 12. Oktober 2023

Kollaterale Menschen

Sich über das Leid anderer Menschen, die Trauer um Angehörige zu freuen, ist immer falsch und amoralisch. Ob dahinter persönlicher Sadismus steht oder ein akutes biblisches Rachebedürfnis („Auge um Auge, Zahn um Zahn“) befriedigt wird, ist irrelevant.

Man erquickt sich nicht am Schmerz Dritter!

Es gibt aber auch keinen moralischen Weg, immer darauf zu verzichten, Unschuldigen Schmerz zuzufügen, weil der zivilisierte Mensch nun einmal eine abartige Bestie ist, die so apokalyptisches Leid verursacht, daß andere Menschen auch Leid erzeugen müssen, um noch mehr Leid zu verhindern.

Ja, die Alliierten mussten im Zweiten Weltkrieg deutsche Städte bombardieren und Myriaden unschuldige Zivilisten massakrieren, weil diese Deutschen einen Vernichtungs-Weltkrieg führten und ihre Planung, elf Millionen europäische Juden umzubringen, schon halb umgesetzt hatten.

Wenn wir aber von achtstelligen Opferzahlen sprechen, kann es keine Moral mehr geben, weil Einzelfallgerechtigkeit ausgeschlossen ist. Natürlich starben bei den alliierten Luftangriffen auf Berlin oder Hamburg auch Widerstandskämpfer und versteckte Juden. Trotzdem war das Agieren der „Siegermächte“ zweifellos richtig, auch wenn es manche dumpfdeutsche Dresdner acht Dekaden später immer noch nicht wahrhaben möchten.

Der Sieg über Deutschland war eine Befreiung, das Kriegsende ein Grund zum Jubeln. Es kann aber nie einen Grund zur (deutschen) Schadenfreude geben, keine moralische Rechtfertigung für Begeisterung über das Leid anderer.

Es gibt keine Rechtfertigung, um nach der Ermordung von 3.000 US-Amerikanern am 11.09.2001 anderthalb Jahre später eine Millionen Iraker und Syrer zu töten, die nichts damit zu tun hatten. Die Attentäter waren fast alle Saudis und wurden in Afghanistan ausgebildet. Die frommste US-Regierung aller Zeiten, das täglich gemeinsam betende GWB-Kabinett, kannte aber nur Rache und keine Moral.

Rache zu nehmen, scheint ein weit verbreitetes menschliches Bedürfnis zu sein. Viele Opfer nehmen es mit grimmiger Befriedigung auf, wenn ihrem Peiniger etwas „heimgezahlt“ wird. Das ist der Stoff unzähliger Romane und Filme:
X leidet, weil Y seinen Sohn/Frau/Hund getötet hat und kommt erst wieder zur Ruhe, wenn er Sohn/Frau/Hund von Y getötet hat.

Schließlich will es Gott/Jahwe/Allah so.

[….] "Wenn Männer miteinander raufen und eine schwangere Frau stoßen, so dass ihre Leibesfrucht abgeht, es aber kein tödlicher Unfall ist, wird eine Zahlung auferlegt in der Höhe, die der Ehemann ihm auferlegt, und er bezahlt vor Zeugen. Wenn es ein tödlicher Unfall ist, gibst du Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Striemen für Striemen." [….]

(Ex 21,22-25; vgl. Lev 24,20 und Dtn 19,21)

Da zeigt sich aber nur, daß es sich bei abrahamitischen Religionen um eine heute zutiefst untaugliche Sammlung archaischer Regeln einer primitiven Hirtenkultur handelt.

Schon der misogyne Antisemit Mahatma Ghandi erkannte "Auge um Auge lässt die Welt erblinden".

Ja, Krieg und Grausamkeiten, das Töten Unschuldiger kann auch heute noch perverse Notwendigkeit sein, um noch Schlimmeres zu verhindern. Stichwort Rettung der Jesiden.

Aber niemand bleibt dabei unschuldig. Niemand hat das moralische Recht, sich über das vergossene Blut der anderen, die Tränen der Angehörigen, zu amüsieren, den Tod zu feiern.

Wer im Krieg moralisiert, kommt in Teufels Küche.

Jo'aw Galant, 64, Likud-Mann, ehemaliger Generalmajor der israelischen Armee und Kommandeur des Südkommandos und israelischer Verteidigungsminister, wird eines Tages erklären müssen, wieso er überhaupt alle Panzer und Truppen von der Grenze zum Gaza-Streifen abzog, um sie in die Westbank zu schicken, so daß niemand von der Armee da war, der sich der Hamas entgegen stellte, als die palästinensischen Mordkommandos loszogen und über Tausend Israelis massakrierten.

Bis es soweit ist, spuckt er martialische Töne - „Wir kämpfen gegen Bestien“ - und niemand wird ihm in Israel dabei widersprechen.

[….] Als Reaktion hat Israel eine "totale Blockade" des Gazastreifens angekündigt. Es wird keinen Strom, keine Lebensmittel und keinen Treibstoff geben", erklärte der israelische Verteidigungsminister Jo'aw Galant. "Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und handeln entsprechend", fügt er hinzu. [….]

(T-Online.de, 09.10.2023)

Schon nach wenigen Tagen übersteigen die zivilen Opferzahlen in Gaza mutmaßlich die Israels.

[…..] Over five days, Israeli warplanes have pummelled Gaza with an intensity that its war-weary residents had never experienced. The airstrikes have killed more than 1,100 people, according to the Gaza Health Ministry. Officials have not said how many civilians are among the dead, but aid workers warn that Israel’s decision to impose a “complete siege” on the crowded enclave of 2.3 million people is spawning a humanitarian catastrophe that touches nearly every one of them.

There is no clean water, and after the territory’s only power plant ran out of fuel on Wednesday, electricity has become a precious commodity, while the enclave sits in near-total darkness during the night.

“This is an unprecedented scope of destruction,” says Miriam Marmur, a spokesperson for Gisha, an Israeli human rights group. “Israeli decisions to cut electricity, fuel, food and medicine supplies severely compound the risks to Palestinians and threaten to greatly increase the toll in human life.”  […..]

(Guardian, 12.10.2023)

Wer jetzt noch Moral und Anstand sucht, wird scheitern. Wer Tod gegen Tod aufrechnet, wird scheitern.

Wer Leid gegen Leid, Blutlache gegen Blutlache aufrechnet, wird scheitern.

Die Naivität eines bekannten 80-Jährigen frommen katholischen Bibelfreundes wirkt fast rührend.

[….] Es sei wirklich wichtig, dass Israel trotz all des Ärgers und des Frusts nach den Regeln des Krieges handele, so Biden in seiner Rede. „Und es gibt Regeln des Krieges“, fügte er hinzu. Biden hatte US-Medien zufolge den israelischen Premier bereits in Gesprächen aufgefordert, die Zahl der zivilen Opfer in Gaza so gering wie möglich zu halten und nach dem Völkerrecht zu handeln. In einer Rede am Dienstag sagte Biden mit Blick auf Netanjahu: „Wir haben auch darüber gesprochen, dass Demokratien wie Israel und die Vereinigten Staaten stärker und sicherer sind, wenn wir nach rechtsstaatlichen Grundsätzen handeln.“

Biden sprach vor führenden Vertreterinnen und Vertretern jüdischer Gemeinden. Er richtete dabei auch eine Warnung an den Iran: „Wir haben es den Iranern klar gemacht: Seid vorsichtig.“ Bei seiner Rede war der Demokrat sichtlich emotional. „Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Bilder von Terroristen, die Kinder enthaupten, sehen ..bestätigt bekommen würde“, sagte der US-Präsident weiter. „Es geht nicht um Rache, es geht um Anstand, einfach nur um Anstand“, betonte er. [….]

(Tagesspiegel, 11.10.2023)

Ich glaube Biden, daß er wirklich emotional tief betroffen ist. Aber der Drohnenkrieger, der als Vizepräsident schon tausende Kollateral-Opfer bei illegalen Tötungsoperationen überall in der Welt mitverantwortete, sollte wirklich davon ablassen, von „Anstand“  zu reden.

Es gibt keinen Anstand im Krieg, auch wenn er notwendig ist. Es gibt nur unterschiedliche Maßstäbe und Schuld.

[….] "I have ordered a complete siege on the Gaza Strip. There will be no electricity, no food, no fuel, everything is closed. We are fighting human animals and we act accordingly." [….]

(Israeli Defense Minister Yoav Gallant, 9. Okt. 2023)

[…..] Russia’s attacks against civilian infrastructure, especially electricity, are war crimes. Cutting off men, women, children of water, electricity and heating with winter coming - these are acts of pure terror. And we have to call it as such. [….]

(EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, 19.10.2022)

Von der Leyens Worte sind umso erschreckender, als sie lange Verteidigungsministerin war und daher wissen sollte, wie angreifbar sie sich macht.

Von der Leyens Worte sind umso erschreckender, als sie CDU-Mitglied ist, der Partei, die GWB laut zu seinem illegalen Angriffskrieg auf den Irak applaudierte und sich gar nicht daran stört, daß ausgerechnet die USA keine internationalen Gerichte anerkennen.

Selbstverständlich wittert nun jeder Doppelmoral, der mit den Menschen im Gaza-Streifen sympathisiert.

[…..] If you simply swap the word Russia with Israel, it is as accurate, if not more. And yet no leader in the US or EU is willing to do exactly what @ursulavonderleyen is doing with Russia, with Israel … , calling out an occupier for its war crimes and terrorism and insisting we must call it as such.

@ursulavonderleyen how can you declare so forcefully that Russia is committing war crimes and terror, but Israel is not? Instead, you defend Israel's right to terrorize and commit war crimes on an occupied and besieged people? Why must we call it what it is in Ukraine but not in Gaza? Asking for my friends, who believe in Justice and dignity for all. This is dystopian and dangerous hypocrisy, and while it isn’t new, it is no longer permissible to ignore. […..]

(Ahmed Eledin, 11.10.2023)

Und nun, von der Leyen?

1.) Israel hat das Recht sich zu verteidigen.

2.)  Israel muss seine Bewohner schützen und

3.) Wer nicht in Israel lebt, soll sich mit moralischen Bewertungen zurückhalten.

Dazu dreimal ein klares Ja.

Aber die EU, die NATO, die USA, der Westen, die in markigen Worten mal völlig zu Recht Kriegstreiber verurteilen und in anderen Fällen (GWB, Jemen) schweigend bis desinteressiert wegsehen, müssen sich nicht wundern, wenn sie in großen Teilen der Welt nicht als moralische Autoritäten ernst genommen werden und für ihre Doppelmoral angegriffen werden.

Die Palästinenser im Westjordanland, die täglich von Bibis Siedlern angegriffen werden, haben lange den Glauben an die Gerechtigkeit des Westens verloren. So berichtet beispielswiese Abadallah Oteh, der in einem Vorort von Nablus ein Hotel betreibt, in das kein Gast mehr durchgelassen wird.

[…..] Vor zwei Jahren, sagt er, hätten nämlich die Bewohner der neben seinem Resort liegenden israelischen Siedlung Yitzhar begonnen, die Autos seiner Gäste zu zerstören oder zu beschädigen.

Seit vier Jahren schon greifen sie ihn immer wieder an, sagt er. Einmal haben sie demnach seine beiden Lastwagen in Brand gesetzt. Das letzte Mal kamen sie an diesem Montag. Rund 40 Siedler und Soldaten seien den Hang hinter seinem Resort hinuntergekommen. Ein Haus in der Nähe hätten sie in Brand gesetzt. Die Videos, die er von den Übergriffen auf seinem Handy hat, zeigen israelische Soldaten. Sie begleiten marodierende jüdische Siedler.

Diese Gewalt der Siedler, Israels unterdrückerische Politik, das sagen die meisten hier, sei einer der Gründe, weswegen die Hamas aus dem Gazastreifen angegriffen habe. Niemand findet sich hier, der die Attacke verurteilen will. »Die Siedler hören nie auf, niemand stoppt sie. Das sehen auch die Menschen in Gaza.« Oteh findet, die internationale Gemeinschaft interessiere sich nur für tote Israelis. Tote Palästinenser seien ihr egal. »Wir sind Menschen; sie sind Menschen. Wo liegt also der Unterschied? Wenn die Hamas Zivilisten angreift, läuft die ganze Welt Sturm. Aber wir werden seit vielen Jahren angegriffen. Das ist die Doppelmoral.«  […..]

(SPON, 12.10.2023)