Es ist
doch albern in einem Konflikt zwischen Nationen Position zu beziehen.
Man kann
nicht für „die Israelis“ oder „die Palästinenser“ sein.
Man kann
nicht für „die Russen“ oder „die Ukrainer“ sein.
Ein
ganzes Volk ist a priori heterogen; daher verbietet es sich mit maximaler
Pauschalisierung alle Individuen der einen Seite zu dämonisieren.
Etwas
anders war das in den klassischen imperialen und kolonialen Angriffskriegen.
Das weltweit gewalttätigste und destruktivste Volk waren sicherlich die
europäischen weißen Christen, die in alle anderen Kontinente einfielen, um Genozide,
Versklavungen und systematisch Ausbeutung zu betreiben.
Vor
tausend Jahren hätte ich sicher Partei für die Muslime in Jerusalem bezogen,
als die christlichen Kreuzzüge tobten. Vor fünfhundert Jahren hätte ich sicher
Partei für die indigenen Völker Amerikas bezogen, als die christlichen
Conquistadores einfielen.
Vor
hundert Jahren hätte ich sicher Partei für die Philippinen ergriffen, als die
Kolonialmacht USA rund 1 Million Filipinos (20 % der damaligen Bevölkerung)
umbrachte.
Und vor
70 Jahren hätte ich natürlich für die Russen gehofft, als Hitlers Aktion
Reinhard begann, in deren Folge deutsche Soldaten mehr als 20 Millionen
Sowjetbürger töteten.
Vietnam
war natürlich auch moralisch eindeutig.
In
modernen Konflikten ist es aber mit der Schuldzuweisung schwierig, weil die
Interessenlage zu komplex ist.
Die
Ukraine und Russland haben sich nicht nur deswegen in den Haaren, weil Herr
Putin sich schützend vor die von Kiewer Faschisten bedrohten Minderheiten
stellt. Es liegt auch nicht nur daran, daß sich freundliche demokratische
Ukrainer gegen den aggressiv-landraubenden Russen-Zar wehren.
Die
Wahrheit liegt noch nicht mal nur dazwischen, sondern ist vieldimensionaler.
20 Jahre
nahm der Westen keine Rücksicht auf Russland. Die Krim war tatsächlich die längste
Zeit ihrer Geschichte russisch und ist bis heute überwiegend russisch bevölkert.
Umgekehrt blickt die Ukraine zu Recht skeptisch auf die ökonomische Übermacht
der Russen. Andererseits wurde tatsächlich im Januar dieses Jahres ein ziemliche
rechtmäßig gewählte Werchowna Rada ebenso wie die rechtmäßige Regierung unter Ministerpräsident
Mykola Asarow mit westlicher Unterstützung weggeputscht und dann von einer
nicht legitimierten Regierung, der mehrere Faschisten angehörten, ersetzt.
Und was
gegenwärtig militärisch in der Ostukraine genau passiert, weiß kein Mensch.
Im „heiligen
Land“ kommt erschwerend noch die Religion hinzu. Da prügelt man seit Dekaden
mit solcher Verve aufeinander ein, daß es einfach ist Position für eine Partei
zu beziehen, weil man unendlich viele Grausamkeiten der Anderen aufzählen kann.
Manchmal
scheint es leicht Partei für den Underdog zu beziehen. Über viele Jahre war es
unbestrittener westlicher Konsens im Iran-Irakkrieg auf der Seite Saddam
Husseins zu stehen. Das war so klar, daß die USA Saddam mit Waffen und
Zielkoordinaten versorgte.
Ebenfalls
um 1980 ging es mit einer scheinbar ebenso eindeutigen Gut/Böse-Situation in
Afghanistan los. Voller Sympathie drückte der Westen Osama bin Laden und den
Mudschaheddin die Daumen. Es sollte nicht so lange dauern, bis sich die
Sympathien in völlige Antipathie verkehrte, bis Saddam und Osama zur Inkarnation
des Bösen hochstilisiert wurden.
Ich
meine, daß die Nordafrikanischen und Nahöstlichen Diktatoren bald
anders gesehen werden.
Der
Westen hatte lange mit geradezu grotesk absolutistischen Typen wie Gaddafi, Präsident
Ben Ali und Mubarak oder Assad zusammengearbeitet.
Die
größten Unterstützer dieser Diktatoren waren übrigens die christlichen
Minderheiten; die es beispielsweise im Irak so gut hatten, daß der Christ Azis
sogar Saddams Stellvertreter wurde.
Dann
fanden wir, der Westen, all die eben noch hofierten Staatschefs auf einmal ganz
doof und erfreuten uns an demokratischen Entwicklungen. Nun waren Ben Ali,
Assad und Mubarak plötzlich bähbäh. Wie es in diesen Ländern heute ohne eine
harte diktatorische Zentralmacht aussieht, kann man daran ausmachen, daß die
rund 20 Millionen orientalischen Christen eigentlich nur noch die Auswahl
zwischen sofort geköpft werden und Flucht haben.
„Die
Libyer“ oder „die Ägypter“, die allesamt nach deutschem Vorbild eine total
liebe, pluralistisch-tolerante Demokratie aufbauen wollten/sollten, sind in der
Praxis irgendwie ungemütlich.
Es ist
mir nach wie vor ein Rätsel wieso nicht vorher die Alternativen bedacht wurden.
Daß Länder wie der Irak oder Libyen ethnisch extrem heterogen sind, ist doch
für niemanden überraschend. Außer für George Bush womöglich. Ihm hatte ja
niemand gesagt, daß es zwei verschiedene Sorten des Islam gibt.
Umso
erstaunlicher, daß die westeuropäische Presse wieder bereitwillig ein extrem
simplifiziertes Schwarzweiß-Bild im Ukrainekonflikt zeichnet.
Im
Westen die guten, demokratisch unterstützenswerten Demokraten, die alle
altruistisch veranlagt Gedichte lesen und nach Rosenwasser duften.
Im Osten
hingegen der böse, großmannssüchtige Russe, der gerne Schwule verprügelt und
Putin vergöttert. Dabei werden die Begriffe „Putin“; „Kreml“ und „Russland“ synonym
benutzt, als ob es gar keine andersdenkenden Russen gäbe.
Dabei
ist längst eine Post-Ostwestkonfliktische Generation nachgewachsen.
Und
selbst die läßt sich beim besten Willen nicht über einen Kamm scheren.
In einem
sehr bemerkenswerten Essay führte das die in Moskau lebende Kaukasierin Alissa
Ganijewa (29) letzte Wochen in der SZ aus.
Die postsowjetische
Generation in Russland lässt sich schwer auf einen Nenner bringen. In unserem
Land wechselten sich die Mikro-Epochen so oft ab, dass die Abstände zwischen
den Generationen von den soziologisch üblichen zwanzig Jahren auf zehn
schrumpften, wenn nicht sogar sieben bis acht. Ein Mensch, der beim
Zusammenbruch der UdSSR gerade die Schule abschloss, denkt ganz anders als
einer, der damals gerade in die Schule kam. Und was soll man erst über die
1990er-Jahrgänge sagen!
[….]
Deswegen gibt es unter den 30-Jährigen
naturgemäß viele Menschen, die sich irgendwie, vage, mit der sowjetischen
Vergangenheit identifizieren. Für viele gilt die Aufmerksamkeit der äußeren
Hülle: In der Mode herrscht ein Retrotrend mit T-Shirts, Clubs und Supermärkten
mit dem Schriftzug "UdSSR".
Die Nachfrage nach
Sowjet-Chic wurde auch von oben befördert - zuerst durch die Rückkehr zur
Melodie der sowjetischen Nationalhymne im Jahr 2000, dann über politische
Jugendbewegungen wie "Die Unsrigen" oder "Die junge Garde".
Ich erinnere mich, wie ich als gebürtige Kaukasierin - im Kaukasus werden Ehen
oft von den Eltern arrangiert - vor ungefähr acht Jahren einen der
vorgeschlagenen Verehrer abwies, weil er Aktivist einer kommunistischen
Jugendorganisation war. Die Kupplerin hatte mir das damals als Karrierevorteil
präsentiert.
[….] Für die
20-Jährigen ist die UdSSR wie die Zeit der Dinosaurier, weit entfernt und
unvorstellbar. Andererseits kann man nicht sagen, dass diese Generation
hundertprozentig liberal und eurozentrisch wäre. Unter ihnen finden sich auch
solche, die man in Russland "Vatniki", "Steppjacken", nennt
- ein Schimpfwort für die radikal konservative Unterschicht, die Homosexuelle
verfolgt, die im Ukraine-Konflikt für die "Befreiung Neurusslands von
faschistischen Okkupanten" eintritt und die sich für sogenannte Werte
starkmacht, also gegen Spitzenunterwäsche, öffentliche Lesungen von Klassikern,
wenn es dort vulgäre Worte gibt, und gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Es gibt aber auch andersherum gepolte
Radikale, die dogmatisch alles verurteilen, was in Russland passiert. Die
beiden Gruppen bekriegen sich permanent in Internetforen und sozialen
Netzwerken; ein Interesse an Nuancen oder an der Wahrheit haben sie nicht.
Diese Schwarz-Weiß-Wahrnehmung der Welt ist sehr gefährlich, aber typisch für
die russische Jugend.
[….]
Heute
trifft man in Russland junge Menschen, die unerklärliche Chimären sind. Ich
habe einen Bekannten, der gleichzeitig aufgeklärter Liberaler und russischer
Nationalist ist. Eine andere Bekannte ist mit 28 leidenschaftliche Kommunistin
- und dabei aber sehr fromm. Solche paradoxen Weltsichten sind häufig. [….]
Daß wir den Ukraine-Konflikt nicht so einseitig sehen dürfen
und uns schon mal gar nicht persönlichen antirussischen Ressentiments hingeben dürfen, wie es Merkel und Gauck tun, ist in diesem Blog lange abgefrühstückt.
X-fach
wies ich auf die Absurdität dessen hin jemanden zu verurteilen, nur weil er den
Versuch unternehme „Russland zu verstehen“, daß es völlig gaga ist das Wort „Russlandversteher“ als Schimpfwort
zu verwenden.
Aber in
der lupenreinen Merkel-Demokratie reicht es eben noch lange nicht aus, wenn
einmal das Richtige gesagt oder geschrieben wird.
Nein, es
muß auch mit genügend publizistischer Power rüberkommen.
Das erreichen
beispielsweise Promis. Und ich spreche nicht von den Z-Gestalten aus dem
Dschungelcamp, sondern meine echte A-Promis.
Dann
hört man zu, ventiliert ihr Anliegen und berichtet auf einmal doch in ihrem
Sinne. Jetzt unterzeichneten 66 deutsche Superpromis einen Appell wider
die Dämonisierung Russlands.
[….] Roman
Herzog, der Alt-Bundespräsident von der CDU hat unterschrieben und Hans-Jochen
Vogel, der alte Sozialdemokrat. Unterschrieben haben Luitpold Prinz von Bayern,
der Urenkel des letzten bayerischen Königs und der Astronaut Sigmund Jähn, der
Benediktiner- Pater Anselm Grün und der Altkanzler Gerhard Schröder.
Unterschrieben haben Schauspieler wie Mario Adorf und Klaus Maria Brandauer,
Schriftsteller wie Christoph Hein, Regisseure wie Wim Wenders,
Verteidigungsexperten wie Horst Teltschik, einst Sicherheitsberater von Helmut
Kohl und Walther Stützle, einst Verteidigungsstaatssekretär. Unterschrieben
haben Otto Schily, der ehemalige Minister für Recht und Ordnung von der SPD,
Erhard Eppler, der frühere SPD-Entwicklungshilfeminister, Antje Vollmer, die
frühere Vizepräsidentin des Bundestags von den Grünen und Burkhard Hirsch, der
frühere Vizepräsident des Bundestags von der FDP.
[….]
Der Aufruf ist Ausdruck einer
berechtigten Befürchtung, die auch den Altkanzler Helmut Kohl in seinem
jüngsten Europa-Buch plagt: "Im Ergebnis müssen der Westen genauso wie
Russland und die Ukraine aufpassen, dass wir nicht alles verspielen, was wir
schon einmal erreicht haben". [….] Kohl
ist zu Recht befremdet über die Ausgrenzung Russlands; er verurteilt zu Recht,
dass sich die G-7 Staaten im Juni ohne Russland getroffen haben, dass sie das
Land aus dem Treffen der größten Industrienationen der Welt hinausgedrängt
haben. Das war nicht Diplomatie, das war Gehabe.
Gehabe ist der
Geschlechtstrieb der Politik. Polternd-herablassende Sprache gehört auch zum
Gehabe. Solches Gehabe beherrscht nicht nur Putin ausgezeichnet, Obama kann es
auch. Es war wenig hilfreich, dass er Russland als "Regionalmacht"
verhöhnt hat; ohne die "Regionalmacht" sind die großen Weltkonflikte
nicht zu lösen. [….]
Die Motive des anderen zu verstehen, ist
Grundlage für alle Verhandlungen. Wer das schmäht, wer nicht mehr verstehen
will, der will nicht mehr verhandeln. Das wäre absolut nicht mehr zu verstehen.
Angela Merkel, deren
Russland-Kurs von ihren Vorgängern als zu harsch kritisiert wird, muss diese
Kritik annehmen und mit ihr klug umgehen - diese Kritik also verstehen. [….]