Montag, 3. Mai 2021

Narrative

Was nützt ein kompetenter Kanzlerkandidat, wenn ihn niemand wählt, weil seine persönlichen Umfragewerte einfach zu schlecht sind?

So dachte Ende 2016/Anfang 2017 Sigmar Gabriel, der damals unumstrittene Herrscher der SPD. Als Parteivorsitzender hätte er selbstverständlich das sogenannte „Zugriffsrecht“ gehabt.

Seit 2009 war er SPD-Chef, seit 2013 Vizekanzler und seit Januar 2017 Außenminister.

Zickzack-Sigi, wie er wegen seiner notorischen Meinungsänderungen genannt wurde, ist sicherlich der begabteste Politiker seiner Generation, kann durchaus brillieren und in ausführlicheren Gesprächen so ein aufmerksamer und intelligenter Zuhörer sein, daß man restlos begeistert von ihm ist.

Blöderweise neigt er dazu, einen Tag später irgendetwas Schauderhaftes zu sagen, daß man sofort wieder vergisst ihn gerade noch so sehr gemocht zu haben.

Er wäre genauso gern Kanzler geworden wie es jetzt Söder will, aber da Gabriel wesentlich intelligenter und selbstreflektierter als der bayerische Ministerpräsident ist, zögerte er und überließ 2013 in einer abstrusen Sturzgeburt Peer Steinbrück die Kanzlerkandidatur.

Unglücklicherweise verschenkten die Deutschen die Gelegenheit endlich wieder einen fähigen Kanzler zu bekommen. Vier Jahre später wollte Immernoch-SPD-Chef Gabriel geplanter vorgehen, ließ für den Parteivorstand Umfragen erstellen, welche Chancen er gegen Angela Merkel hätte. Es sah nicht gut aus; der Außenminister war zu unbeliebt. Viel eher könne der EU-Mann Martin Schulz die Partei ins Kanzleramt führen, erklärten die Demoskopen.

Ihm fehle zwar Regierungserfahrung und die Sicherheit im Umgang mit der Berliner Presse, aber immerhin war er eine ernsthafte Machtoption. Er wäre also vielleicht erst mal kein guter Bundeskanzler, aber ein guter Kanzlerkandidat!

Martin Schulz war das Gegenteil von Olaf Scholz. Der heutige Bundesfinanzminister und Vizekanzler wäre ein guter Kanzler; er hat alle Fähigkeiten dazu. Aber er ist leider ein mieser Kanzlerkandidat, weil er die Wähler nicht mitreißt, nicht dazu geeignet ist viele Leute zu mobilisieren, um Wahlkampf für ihn zu machen.

Gabriel setzte also 2017 erneut nicht auf sich selbst, sondern den Chancenreicheren.

Zunächst einmal lief es wie am Schnürchen. Nach 12 Jahren hatte sich Merkelmüdigkeit ausgebreitet. Jemand aus Brüssel, der nicht zu dem inzestuösen Berliner Betrieb gehörte, wirkte frisch.

Zudem verkörperte der aus der tiefsten Provinz stammende Schulz glaubhaft eine Aufsteigerbiographie. Seine Familie war weder reich noch gebildet. Er hatte noch nicht einmal Abitur, sich aber in Brüssel als intelligenter Autodidakt zum Parlamentspräsidenten hochgearbeitet, sprach inzwischen vier Sprachen fließend und war durch seine Position automatisch für die Außenpolitik qualifiziert.

Ganz anders als beispielsweise Saskia Esken, kannten ihn alle europäischen Regierungschefs. Der Mann würde sich durchsetzen können.

Es bildete sich schnell ein einheitliches Narrativ in der deutschen Presselandschaft.

Martin Schulz wurde zu Martin, dem netten Mann aus dem Volk. Alle sprachen amüsiert und gleichzeitig bewundert von Würselen: Diesem schon phonetisch maximal provinziellen Nest, aus dem sich der Martin mit Fleiß und Bodenständigkeit ganz nach oben gearbeitet hatte. Die Metapher für den kleinen Mann, der es bis ins Kanzleramt schaffen sollte, war schnell gefunden: Der „Schulz-Zug“, der bald in jedem Artikel über die Bundestagswahl schnurgerade, wie auf Schienen, von Brüssel nach Berlin führte und so viel Platz bot, um die gesamte Partei mitzunehmen.

Die SPD schwoll in Umfragen auf 33% an, lag seit 11 Jahren erstmals wieder vor der Union. Die Linken und Grünen, die SPD-Parteilinken vergaßen sofort kollektiv, daß Martin Schulz ein Seeheimer war, weil sie alle vom Pro-Schulz-Narrativ gefesselt waren.

Diese komische Typ mit dem leicht unappetitlichen Fusselbart, der altmodischen Brille wurde gerade wegen seiner Fremdelei mit den bundesrepublikanischen Politprofis Klut.

Schließlich wird den alteingesessenen Ministern immer auch ein bisschen misstraut, ihnen alles Schlechte zugetraut. Da könnte frischer Wind nur hilfreich sein.

Wähler lieben dieses Außenseiter-Narrativ; so hatte sich kurz zuvor der hochadelige Multimillionär Karl-Theodor von und zu Guttenberg auf seinen 90%-Beliebtheitsolymp gehoben.
Er, der es eigentlich gar nicht nötig hätte, in die schnöde Politik herabzusteigen, der in der Wirtschaft erfolgreich gewesen war und mit seinen akademischen Graden beeindruckte.

Es war ganz offensichtlich Beschiss. Schon bevor er Minister wurde, hatten Magazine aufgedeckt, daß die mittelständige Firma, die er geleitet haben wollte, nur rein zufällig namensgleich war mit der Familienstiftung, in der er qua Geburt gesessen hatte. Seine Erfahrungen in der mittelständigen Wirtschaft waren ein Hirngespinst, seine Politik reine Show, es gab nicht die geringsten Spuren, die er als Wirtschaftsminister hinterlassen hätte, sein Doktortitel war Betrug. Der ganze Mensch ist Schall und Rauch, bestätigt sich bis heute als Lobbyisten-Windei, der für Wirecard und Augustus bei der Kanzlerin Propaganda machte. 90% der Deutschen liebten ihn aber dennoch, wollten ihn am liebsten per Akklamation zum Kanzler oder noch besser König machen.

Das Narrativ vom coolen Adeligen, der privat ACDC hört, nun aber die Politik aufmischt, war zu mitreißend.  Von SPIEGEL (Titelgeschichte „Die fabelhaften Guttenbergs“) bis BILD (wo praktischerweise sein Onkel Redakteur war) beteiligte man sich daran, nun im Yellow-press-Stil die Freiherrenfamilie zu feiern.

Blöderweise kam aber doch die schnöde Realität dazwischen, bevor Guttenberg im Kanzleramt eingezogen war. Das Narrativ vom Edelmann, dem alles gelingt und dem die Herzen nur so zufliegen, musste nach einigen brutalen Crashs mit der Wirklichkeit umgeschrieben werden zum Betrüger und Hallodri, der besser niemals in die Bundesregierung berufen worden wäre.

Martin Schulz erging es ähnlich. Er war als gefühlter nächster Kanzler ein idealer Schönwetterkandidat. Den wollte man nun auch als Parteichef und kürte ihn am 19.03.2017 mit historischen 100% zum Parteivorsitzenden. So viel Geschlossenheit gab es in der notorisch zerstrittenen SPD noch nicht mal bei Schumacher oder Willy Brandt. Wer sollte den Schulz-Zug nun noch aufhalten?

Als die schnöde Realität über ihn hereinbrach und die routinierte Kanzlerin ihn abtropfen ließ, wurde schnell deutlich, daß die Deutschen auch dem stimmigen Narrativ erlegen waren.

Profipolitikern war Schulz aber nicht gewachsen, machte Fehler, wußte nicht auf wen er hören sollte, wurde von der Parteizentrale getrieben, vermochte nicht sich durchzusetzen und beklagte sich öffentlich, er werde ungerecht behandelt. Im Kanzlerduell habe man ihm gemeine Fragen gestellt und er hätte nicht das sagen können was er wollte.

Und der Mann sollte sich von Würselen durch die gesamte EU-Bürokratie an die Parlamentsspitze gewühlt haben?
Nun musste ein neues Narrativ her. Geboren war der Jammer-Martin, der mit allem überfordert war.

Statt 34% wurden es am Ende nur 20% und als er nun noch alle seine Versprechen brach und ganz offensichtlich vor allem scharf auf einen schönen Posten für sich selbst war, wurde Mr. 100% von der SPD ganz schnell entsorgt.

Der schlaue Gabriel, der alles so intensiv geplant und demoskopisch durchforschen lassen hatte, mußte nicht nur zusehen, wie sein Idealkandidat des schlechteste SPD-Ergebnis seit 1949 geholt hatte, sondern war als Außenminister kurioserweise nun der beliebteste Politiker Deutschlands.

Hätte er mal ein Jahr zuvor nicht dem Umfragen über seine persönlichen demoskopischen Werte vertraut, sondern lieber auf einen Kandidaten gesetzt, der den Job kann.   Die Zahlen können sich ändern.

Wenn die Journalisten eine positives Narrativ verwenden, kann man fast nichts falsch machen. Dann geht es immer bergauf in den Umfragen.

So wie einst Guttenberg und Schulz, geht es im Moment Annalena Baerbock.

Wieder so ein Fall einer Außenseiterin ohne Erfahrung, in die alle Hoffnungen projiziert werden, so daß die demoskopischen Werte nur eine Richtung kennen: Nach oben!

Klebt aber einmal das Narrativ des unbeliebten Verlierers an einem, wird diese Haltung soweit dem Urnenpöbel eingeimpft, daß selbst winzige Fehlerchen und Versprecher höhnisch lachend in das „Da sieht man es wieder, der kann es nicht!“-Narrativ eingepflegt werden.

Peer Steinbrück wurde 2013 mit so einem toxischen Presse-Narrativ belegt.

Er war darin der auf großem Fuß lebende Schurke, der als Westerwelles Undercover-Agent die SPD neoliberalisieren wollte.

Lächerliche Petitessen, wie seine Bemerkungen keine Weine für fünf Euro die Flasche zu mögen, als Kanzler nicht im VM Golf fahren zu wollen oder sein Foto mit dem Stinkefinger für das SZ-Magazin wurden zu Megaskandalen, weil sie so breit besprochen wurden.

Markus Söder produziert jeden einzelnen Tag so viele Mini-Skandälchen, wie Steinbrück in seinem ganzen Leben. Söder ist aber wegen seines günstigeren Narrativs dennoch der Wunsch-Kanzlerkandidat der meisten.

Das Narrativ des ungeliebten Apparatschicks und Verlierers, der nie zum Kanzler gewählt wird, ist auch Bestandteil aller Artikel über Laschet – und zwar zu Recht.

Genauso ergeht es auch Olaf Scholz; allerdings in diesem Fall zu Unrecht.

Ein positives Narrativ ins Negative zu ändern, ist, wie wir gesehen haben, durchaus möglich. Zuletzt schaffte es Jens Spahn vom unheimlich fleißigen Corona-Minister und beliebtesten Mitglied der Bundesregierung in zehn Monaten zum hoffnungslos überforderten Raffke, der nun in allen Artikel das deutsche Missmanagement personifiziert.

Ein mieses Narrativ in ein Gutes zu kippen ist hingegen fast unmöglich.

Kaum vorstellbar, daß vor der Bundestagswahl ein einziger Journalisten so wohlwollend über Olaf Scholz schreibt, wie es jeden Tag 100 mal Baerbock widerfährt.