Montag, 17. Januar 2022

Woke in Russland

Helen Mirren, 76,  gehört für mich in eine Kategorie mit Meryl Streep oder Glenn Close. Schauspielerische Klasse A+ und daher lohnt es sich auch für mich, als Nicht-Cineast, drauf zu achten, was für Filme sie macht.

In ihrem neuesten Projekt „Golda“ spielt sie die legendäre israelische Ministerpräsidentin Golda Meir, die eine faszinierende historische Figur ist. Hätte mich durchaus interessiert. Das Werk des israelisch-amerikanischen Regisseurs und Produzenten Guy Nattiv ist fertig und soll in die Kinos kommen.

Nur ist es leider 2022 und da sind wir ja woke.

Meir war Jüdin, Mirren nicht. Da kommen sofort Bedenkenträger, die so eine Besetzung glatt ablehnen. Man müsse auf „Authentische Besetzung“ achten.

[….] Die britische Schauspielerin Maureen Lipman ist der Ansicht, die Besetzung der Hauptrolle des Films Golda über das Leben der israelischen Außenministerin und späteren Ministerpräsidentin Golda Meir mit ihrer Schauspielerkollegin Helen Mirren sei falsch. Ihre Landsfrau zwar eine hervorragende Schauspielerin und habe die Aufgabe sicher mit Bravour gemeistert, sagte sie dem »Jewish Chronicle«. Als Nichtjüdin sei Mirren aber nicht die Richtige, um Meir zu verkörpern.  »Das Jüdische an der Figur ist so wesentlich«, meinte Lipman und fügte hinzu: »Ich bin sicher, dass sie großartig sein wird, aber es wäre Ben Kingsley niemals gestattet worden, Nelson Mandela zu spielen.« […]

(Jüdische Allgemeine, 06.01.2022)

Darren Criss, 34, kalifornischer Schauspieler ist ein sehr guter Tänzer und Sänger, wurde einige Niveau-Klassen niedriger als Mirren/Streep in der semi-queeren Teenagerserie „Glee“  bekannt. Er spielte 2009–2015 für das

Produktionsunternehmen 20th Century Fox Television den schwulen Musical-Sänger Blaine so gut, daß weltweit die Fans orakelten, Criss wäre vermutlich selbst schwul.  Jahrelang äußerte er sich nicht zu seiner eigenen sexuellen Identität. Zu Recht, denn das geht niemanden etwas an und bei diesen Serienhypes steht der fiktionale Charakter im Vordergrund. Ich hörte vor ein paar Jahren erstmals von der Angelegenheit, als im Feuilleton zu lesen war, Criss habe sich zur Überraschung seiner Fans als „hetero“ geoutet. Ich fand es sympathisch. Wir sind also gesellschaftlich so weit, daß sich niemand mehr für seine Sexualität schämen muss und ein Darsteller einer schwulen Figur nicht mehr hysterisch betonen muss, selbst aber auf gar keinen Fall schwul zu sein.

Nur ist es leider 2022 und da sind wir ja woke.

Die Glee-Figur „Blaine“ ist schwul, Criss nicht. Da kommen sofort Bedenkenträger, die so eine Besetzung glatt ablehnen. Man müsse auf „Authentische Besetzung“ achten.

Criss erkannte es schon vor drei Jahren, entschuldigte sich dafür, so gut schwule Rollen gespielt zu haben und gelobte, nun nur noch Heteros darzustellen.

[….] Darren Criss has played numerous characters on TV, film, and stage, but he is best known for his roles as Blaine in Glee and his recent turn as the real-life Andrew Cunanan in The Assassination Of Gianni Versace: American Crime Story for which he has won an Emmy and, most recently, a Golden Globe nomination. In addition, he played the titular character in Broadway’s Hedwig and the Angry Inch. The characters are members of the LGBTQ community and Criss, who identifies as heterosexual, said that those will be the last queer characters he will play.  During a recent event for Clorox’s What Comes Next in New York, Criss said that the gay roles that he has played are wonderful. He followed that up with saying, “But I want to make sure I won’t be another straight boy taking a gay man’s role.” Hollywood is currently in transition when it comes to authentic representation of LGBTQ characters, people of color and other members from marginalized communities — and Criss is very cognizant of that. He admits that he no longer feels comfortable playing these roles and that it is “unfortunate.” [….]

(Dino-Ray Ramos, 24.12.2018)

An dieser Stelle muss ich Bill Maher ins Spiel bringen, der seit Jahren vor dem Wahnsinn der WOKENESS warnt. Schon 2015 sagte er den „Social Justice Warriern“ den Kampf an.

Die Linken trieben es mit ihrem Betroffenheitskult und der „Cancel Culture“ viel zu weit, machten sich lächerlich und wären ein Grund für den Erfolg Donald Trumps. Die Wähler wären dermaßen von der political correctness genervt, daß sie Trump schon dafür liebten, daß er sich darum nicht schere.

Heute wären so viele Menschen in Angst vor dem „woke mob“, daß sie sich von liberalen Ideen abwendeten.

Eine fatale Entwicklung, denn, die „linken Anliegen“ Gleichberechtigung, Kampf gegen Rassismus und Sexismus und Homophobie sind absolut berechtigt. Aber wenn man es derartig übertreibt, daß sich Mirren und Criss grämend für ihre Rollen entschuldigen, spielt das nur den Rechten in die Hände, die lieber weiterhin Frauen, Schwule und Schwarze diskriminieren wollen.

In Deutschland brauen sowohl AfD, als auch der rechte CDU/CSU-Flügel (Merz, Ploß) ihr antiliberales Süppchen, indem sie gegen Gendersprache agitieren.

Es ist inzwischen leider so leicht, sich über die Linken, die Woken, die Gutmenschen lustig zu machen, daß sich sogar einst Linke wie Lafontaine, Wagenknecht, Schwan und Thierse so sehr über sie aufregen, daß sie viel Applaus bekommen, wenn sie 30 Jahre zurück gehen und gegen Schwule. Lesben und „noch so skurrile Minderheiten“ wettern.

Es ist etwas gewaltig schief gelaufen auf der Wokeness-Seite, wenn religiotische Geronten wie Thierse vom gesamten Feuilleton dafür gefeiert werden, sich gegen den angeblich schwulen Mainstream aufzulehnen.

(….) Auf dieser Welle surft nun leider auch Wolfgang Thierse, der seiner Methode treu bleibt, stets nun mit den ultrakonservativsten Organen der rechten Presse zu reden – gestern im Cicero – um dann pathetisch-unschuldig damit zu prahlen wie viel Zuspruch er bekomme. Seine erste Attacke gegen die Queer-Community, fand genau wie seine NS-Pöbelei wider das Bundesverfassungsgericht in der rechten FAZ statt. In der konservativen weißen männlichen Mehrheitsgesellschaft fühlt Thierse sich am wohlsten.

[….] Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) erlebt im Streit mit der Parteispitze um den richtigen Dialog mit sexuellen und anderen Minderheiten nach eigenen Worten „überwältigende Zustimmung“. In einem Interview des Magazins „Cicero“ bekräftigte er zugleich Kritik an der Gesprächs- und Debattenkultur einer sogenannten Identitätspolitik, weil diese nicht auf Versöhnung und konkrete Fortschritte ziele. […..]

(TS, 06.03.2021)

Nach dieser Logik darf man also Schwule und Lesben diskriminieren, weil sie so wenig sind?  Man darf andere mobben, wenn man in der Mehrheit ist?  Da hatte ich das Wort "Solidarität" wohl bisher völlig falsch verstanden.  Die quantitative Argumentation der Thierse-Fans ist abstoßend. Queere wären ja nur eine kleine Minderheit,  vielleicht 5% der Menschen in Deutschland; die Majorität sehe es wie Thierse. Nein, sozialdemokratische Solidarität gilt nicht nur den Starken und den Mehrheiten! Auch als weißer Cis-Hetero fühlt man sich absolut solidarisch mit LGBTIQs und stellt sich vor sie, wenn Thierse auf sie losgeht.

[…..] Falls die SPD-Legenden Gesine Schwan und Wolfgang Thierse wirklich vorhatten, mit ihren Thesen zu Identitäten und Minderheiten dem Auseinanderdriften der Gesellschaft etwas entgegenzusetzen, dann scheinen sie zumindest in einer Hinsicht einen Erfolg verbuchen zu können: Selten war sich – zumindest in der veröffentlichten Meinung – die Mehrheitsgesellschaft in der letzten Zeit so einig: In ihrer Empörung gegen Minderheiten. […..]

(Johannes Kram, 06.03.2021)

Die Mehrheit hat nicht automatisch auch Recht.  Große Mehrheiten wählten Hitler, Berlusconi, Orbán.   Wir wissen doch, wie noch vor ein paar Jahrzehnten große Mehrheiten über Schwulenrechte, Sinti und Roma, Feministinnen und Schwarze dachten. (….)

(Thierse, Social Media und Sprachpolizei, 07.03.2021)

Die woken Grünen finden ausgerechnet im antisemitischen, homophoben Nationalisten Alexander Nawalny einen geistigen Verbündeten.

[….] Nawalny [….] sind anti-liberale und fremdenfeindliche Positionen mindestens genauso wichtig. Mit seiner Agenda unterscheidet er sich nicht besonders von europäischen Rechtspopulisten: die Hetze gegen Moslems, Migranten oder kritische Medien. Menschenrechte oder Rechtstaatlichkeit kommen bei ihm überhaupt nicht vor. Er hat die Grenzen des Zulässigen und Tolerierbaren in liberalen Kreisen unglaublich erweitert und machte offene Fremdenfeindlichkeit hoffähig. Rechtlose Arbeitsmigranten aus Zentralasien, aber auch russische Bürger aus dem Nordkaukasus, die häufig Opfer von Polizeigewalt und Erpressung werden, stellt er als eine wichtige Quelle eben dieser Missstände dar. [….]

(Nikolai Klimeniouk, MDR, 05.03.2021)

Nicht auszudenken, wie sie über einen Deutschen urteilen würden, der so klar extremistische und antisemitische Positionen bezieht, wie Nawalny, herziehen würden.

[….] Freiheit für Nawalny! [….] Dass das Europäische Parlament den Sacharow-Preis für geistige Freiheit zuletzt an Alexej Nawalny verlieh, bleibt ein wichtiges Signal. Es zeigt, dass wir an der Seite der Menschen in Russland stehen, dass wir keine Gräben zur Gesellschaft ziehen lassen wollen und einen ehrlichen und zugewandten Austausch mit den Menschen wollen. Der Preis demonstriert, dass die offene und demokratische Zivilgesellschaft Russland gesehen und nie vergessen wird. Denn sie leben unsere Werte und tragen die europäische Idee. [….]

(Robin Wagener, AG EU, PM DIE GRÜNEN; 15.01.2022)

In Russland selbst gibt es natürlich auch eine liberale Opposition gegen Putin. Menschen, die unter Lebensgefahr für Pressefreiheit und Demokratie eintreten.  Von der aus den USA nach Europa geschwappten Wokeness sind aber viele von ihnen derart genervt, daß sie sich bei den Themen LGBTI-Rechte, Me Too und Sexismus auf die Seite Putins schlagen.

Es bahnt sich also der gleiche fatale querfrontische Zusammenschluss gegen die Liberalen an, der schon in den USA Trump an die Macht brachte.

[….] Regimekritiker diffamieren alles, was im Westen als "woke" gilt: Schwule, Queer-Aktivisten, Feministinnen. [….] Viktor Schenderowitsch gibt auf. Er, der Satiriker, verkündet seine Flucht aus Russland standesgemäß kühl-ironisch. Er habe sich entschlossen, "draußen zu warten", [….]  Für die russische Intelligenzia ist Schenderowitsch eine Legende. In den Neunzigern schrieb er das Drehbuch zu der Puppen-TV-Show "Kukly", die den damaligen Premier Wladimir Putin als Gnom mit winzigen Äuglein und Riesenhänden zeigte. Bei den Duma-Wahlen sprang Schenderowitsch als Kandidat für den gerade verurteilten Michail Chodorkowskij ein, er kritisierte sogar, was wenige wagten, die Annexion der Krim. [….] Insofern ist es also durchaus überraschend, dass es einen Punkt gibt, in dem Schenderowitsch und und Putin übereinstimmen. Von der "Neuen Ethik" halten beide gar nichts. "Nowaja Etika" ist ein Kampfbegriff, unter den Russlands Kulturschaffende, Intellektuelle, Wissenschaftler, aber eben auch Politiker nicht nur all das fassen, was im Westen als "woke" rubriziert gilt - Feminismus und LGBT-Aktivismus, Minderheitenrechte, Gender- und rassismussensible Sprache -, sondern vor allem Cancel Culture, westliches Denkdiktat, Dekadenzphänomen. [….] Spätestens seit der Regisseur Konstantin Bogomolow vor einem Jahr ein "Manifest" verfasst hatte, in dem er proklamierte, dass der Westen zwar den Nationalsozialismus hinter sich gelassen habe, aber dafür aufs Aggressivste einen neuen "ethischen Sozialismus" propagiere, dass "Queer-Aktivisten, Fem-Fanatiker und Ökopsychopathen" eine neue "totale Umformatierung der Welt" anstrebten, hatte das Thema ein Publikum gefunden. [….] Der Topos der drohenden "Revolution" durch den moralischen Terror des Westens aber ist inzwischen ein Standard der Putin-Rhetorik, den man bei seinem Auftritt im Waldai-Klub in Sotschi ebenso hören kann wie auf seiner jährlichen mehrstündigen Pressekonferenz. Dort verglich er die Gender- und Gleichstellungsdebatte mit dem Coronavirus. Beides komme von außen und sei bedauerlicherweise nicht aufzuhalten. [….]

(Sonjia Zekri, SZ, 13.01.2022)

Wenn sich die Kulturschaffenden, Intellektuellen und Aktivisten bei Kampf gegen die "Nowaja Etika", Neue Ethik aus dem woken Westen lieber auf die homophobe Seite Putins schlagen, haben wir wirklich versagt.