Mittwoch, 30. November 2016

Wenn es einem gut geht.



Im März erschien bei Spiegel Online ein Interview mit dem bayerischen Publizisten Georg Seeßlen, 68.

Er nimmt sich die neokonservativen Philosophen Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk vor, die von höherer intellektueller Warte aus das Geschäft der AfD betreiben: Ausländer raus; es sind einfach zu viele; um Europa zu retten, müssen wir die Grenzen zu machen.

Ich hingegen glaube immer noch, daß das steinreiche Deutschland, welches von den Weltkrisen profitiert, moralisch verpflichtet ist die Grenzen für die Heimatvertrieben zu öffnen. Abgesehen vom humanitären Aspekt wird Deutschland davon auch finanziell, ökonomisch und kulturell profitieren.
Frisches Blut tut gut.

Wieso konnte das kleinere, zerstörte, ruinierte und völlig verarmte Deutschland der zweiten Hälfte der 1940er Jahre 12-14 Millionen Heimatvertriebene aufnehmen? Wieso sollten wir 70 Jahre später mit unvergleichlich viel mehr Mitteln und Möglichkeiten schon daran scheitern ein Zehntel der Menschen aufzunehmen?

Der Grund ist tatsächlich unser enormer Reichtum. Wer viel hat, mag nichts teilen, gibt nichts ab.
Ich halte das wirklich für eine tiefe Einsicht. Den Sachsen geht es verglichen mit den Jahrzehnten zuvor materiell so gut, daß sie nicht mehr mitfühlen können wie es ist nichts zu haben.

[….] Europa ist keine Oase von Frieden und Freiheit, von Gastfreundschaft und Solidarität, sondern nur das Trugbild davon. Genauso wenig gibt es eine abendländische Wertegemeinschaft, die durch Grenzen definiert würde und durch die Neuankömmlinge etwas zu verlieren hätte. Die Angst vieler Europäer richtet sich darauf, dass sie selbst erkennen müssten, dass sie in einer Fata Morgana leben. Eine sehr unangenehme Wahrheit, die uns "die Fremden" da zumuten, ohne es zu wollen. Dabei sollte es eine demokratische Selbstverständlichkeit sein, Menschen aufzunehmen, die aus elenden Verhältnissen kommen. Die Probleme wären durchaus zu überblicken und zu bewältigen. [….] Die sozialen Ungleichheiten zwischen den Mitgliedstaaten und in den einzelnen Ländern nehmen zu. Das wird der EU auf lange Sicht schaden und sie vielleicht zerstören. Indem man Europa in eine Festung verwandelt, verstärkt man diesen inneren Zerfallsprozess. Seine Ursache sind nicht die Flüchtlinge. Die sind nur der willkommene Brandbeschleuniger von sozialen Konflikten, die vorher schon da waren.
[….] Die Angst vor Veränderungen ist weitverbreitet. Darüber hinaus glaube ich nicht, dass Angst der richtige Begriff ist. Man will nichts abgeben. [….]

Wir alle sind gewöhnt in einer Weltwirtschaftsordnung zu leben, in der wir reichen Industriestaaten kontinuierlich doppelt so viel Geld aus der dritten Welt abziehen, wie wir umgekehrt in die ärmsten Staaten transferieren.
Wer beständig auf Kosten anderer immer reicher wird, hat Interesse daran diesen Zustand zu konservieren, sich also abzuschotten.

Ein Land, das für in selbstverschuldete Schräglage geratene Banken auf Kosten der Steuerzahler in kürzester Frist dreistellige Milliardenbeträge bereitstellen kann, muss für ohne eigenes Verschulden in Not geratene Kommunen auch einen jedenfalls zweistelligen Milliardenbetrag aufwenden können.
[….] In dieser Welt, in der heute fast die Hälfte des globalen Reichtums in den Händen von weniger als einem Prozent der Weltbevölkerung liegt, in der im kapitalistischen Süd-Nord-Transfer für jeden Dollar, der in Richtung Dritte Welt fließt, zwei Dollar in die Gegenrichtung zurückfließen – in dieser Welt gibt es nicht eine weltweite ›Flüchtlingskrise‹, sondern eine Weltkrise, die Fluchtbewegungen erzeugt.
[….] In den gleichen 25 Jahren sind auf dem Weg nach Europa und Deutschland mindestens 30.000 Flüchtlinge allein im Mittelmeer umgekommen. Vor der deutschen Vereinigung sind Flüchtlinge an der deutsch-deutschen Grenze gestorben, heute sterben Flüchtlinge in Massen vor den Grenzen der „Festung Europa“. [….]
 (Prof. Dr. Klaus J. Bade, ehemaliger Vorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration, 03.10.2015)

Ältere Deutsche erinnern sich noch zumindest an die Geschichten ihrer Eltern wie es war in der Nachkriegszeit zu hungern, wie primitiv man lebte. Wie dankbar man für jede Kleinigkeit war.
Die Teens und Twens von heute scheinen oft auch keine Empathie für echte materielle und physische Not aufbringen zu können.
Es liegt einfach außerhalb ihrer Vorstellungskraft.

Ich glaube immer noch fest daran, daß wir Deutschen (wenn ich das als Amerikaner sagen darf) viel besser fahren, wenn wir großzügig sind, tolerant auf andere Kulturen reagieren und viel abgeben.
Leider gibt es außer Seeßlen, Bade und den Engagierten von Organisationen wie „ProAsyl“ kaum noch eine Repräsentanz für diese Meinung..
Und es ist extrem unschön zu akzeptieren, mit solchen Ansichten inzwischen offenbar zu einer extremen Minderheit geworden zu sein, wenn sogar die LINKE von „Missbrauch des Gastrechts“ (Wagenknecht) faselt und die Grünen mit der CDU für Abschiebungen plädieren; wenn die SPD akzeptiert Myriaden Familien auseinander zu reißen und Kinder in seelische Not zu treiben, weil der „Familiennachzug“ womöglich mehr Flüchtlinge nach Deutschland bringen könnte.

Seeßlens Satz „man will nichts abgeben“ steht also für ein parteiübergreifendes politisches Programm und das Empfinden der Mehrheit der Bürger gegenüber verzweifelten Bürgerkriegsflüchtlingen.

Der Satz „man will nichts abgeben“ gilt aber auch im kleinsten Maßstab, wie ich heute der Hamburger Morgenpost entnehmen konnte.
Die Mopo widmet sich der nunmehr alljährlichen Litanei über die vielen Bettler in der Hamburger Innenstadt.
Wo kommen die bloß alle her, ausgerechnet zu Weihnachten?
Die Hamburger Morgenpost startete natürlich auch eine Straßenumfrage (das wirkt authentisch und ist immer die billigste Art eine Zeitung zu füllen. Da schickt man kurz den Azubi vor die Tür und muß keine Journalisten bezahlen).
Repräsentativ sind diese O-Töne sicher nicht, aber es ist schon auffällig, daß die Jüngsten am wenigstens bereit sind, einem Bedürftigen etwas zu spenden.


Eine aufgebrezelte 18-Jährige kann „echt nicht einsehen“ Bettlern etwas zu geben – für die gäbe es ja schon genügend staatliche Hilfe.


Ist das nicht nur „Masche“?
Organisieren nicht Banden diese Bettlerinvasion?
Kommen die nicht alle aus Osteuropa?

Jedes Jahr dasselbe Gejammer.

Sie sitzen an fast allen großen Einkaufsstraßen in der City: Bettler mit ihren Hunden. Neben den süßen Vierbeinern haben sie auch Pappschilder dabei, mit denen sie um Spenden für sich und ihre Tiere bittet. Auffällig: Auf allen Pappen steht derselbe Satz! Ist der Hunde-Trick die neue Masche der Bettel-Touristen?
Vor zwei Jahren gab es auffällig viele Bettler mit Krücken in Hamburg. Jetzt sind es die Männer mit den Hunden. In anderen Städten bevölkern Musiker oder junge Mütter die Fußgängerzonen.
„Das Prinzip der Bettler aus Südosteuropa ist es, Aufmerksamkeit zu erregen und  Mitleid auf sich zu ziehen“, erzählt ein Streetworker der MOPO. Das Problem der organisierten Bettelei: „Sobald über die Machenschaften berichtet wird, müssen sie sich ein neues Geschäftsmodell überlegen.“

Und wenn sie nicht zu Bettelbanden gehören, dann findet man eben die Ausrede „Alkoholismus“, um nichts zu geben.
Warum jemand ein paar Euro zustecken, wenn er sie ohnehin nur versäuft?

Homo homini lupus.
Wie soll man da nicht zum Misanthropen werden, wenn man in der steinreichen Stadt Hamburg Teenager im Gucci-Dress selbstzufrieden in die Kamera grinsen sieht, daß man nie einem Bettler etwas gebe.
„Man will nichts abgeben.“

Es ist doch völlig irrelevant woher die um Geld bittenden Obdachlosen kommen. Wer den ganzen Tag in der Kälte am Jungfernstieg auf dem Boden sitzt und bettelt, befindet sich offensichtlich in einer vergleichsweise sehr elenden Situation.
In Relation dazu habe es die schicken 18-Jährigen, die mit ihrem Café Latte durch die Innenstadt spazieren verdammt gut.

Ich würde eigentlich erwarten, daß es den Leuten wenigstens peinlich ist, wenn sie der Mopo erzählen einem Obdachlosen nie etwas zu geben.
Aber nein, diese Gören tun das mit Verve und Überzeugung.

Und das Alkohol-Argument. Kein Geld für Säufer, weil die saufen? Also hilft man ihnen, wenn man ihnen lieber nichts gibt?
Wie bequem.

Für einen richtigen Alki auf der Straße ist der Beschaffungsdruck purer Stress. Und nach jahrzehntelanger Obdachlosigkeit und Sucht und Krankheit nimmt das ohnehin ein ganz böses Ende. Da hilft es nicht auch noch auf Entzug zu sein.

Deswegen gebe ich richtig abgewrackten Typen manchmal auch einen Geldschein. Ich kann ihm ohnehin nicht wirklich helfen, aber so leistet er sich ein paar Flaschen richtigen Schnaps für sich, um sich abzuschießen; um 48 Stunden sein Elend zu vergessen.

Welcher auf deutschen Edelmeilen zum Weihnachtseinkauf flanierende Bürger hat nicht genug Geld, um auch mal zehn oder 20 Euro springen zu lassen?

„Man will nichts abgeben.“
Aber weil man das nicht gern zugibt, tut man so, als ob Obdachlose ohnehin mit Geld vom Staat überschüttet würden und man selber auch nichts abzugeben hätte.

Genau, die Deutschen gehen bekanntlich alle schon am Bettelstab, weil wir dauernd so viel abgeben.
Letzte Woche am Hamburger Jungfernstieg bemerkte ich schon die ersten Anzeichen. Die Auslagen in den Geschäften alle leer, die Passanten wirkten verhungert und man sieht am Neuen Wall auch nur noch Eselkarren stehen!
Cartier verkauft nur noch Plastikschmuck und bei Armani hängen Jutesäcke statt Anzüge.
Nein, wir können wirklich nichts abgeben.