Im Angesicht besonders wichtiger Wahlen wie den US-Präsidentschaftswahlen am 03.11.2020 verfolge ich so manisch die Prognosen, Analysen und Umfragedaten, daß ich fast vergessen, daß all die gesammelten Zahlenmaterialien und gesammelten Zeitungs-Artikel zur Wahl in vier Tagen obsolet sind.
Es wäre ein viel ökonomischer Umgang mit der eigenen knapp bemessenen Zeit, sich bis Dienstag-Nacht die gesamte Lektüre zu sparen.
Aber die vorherige Spannung, der sich daraus entwickelnde Spin und der weitgehend irrationale Glaube mit der Verbreitung von Informationen noch Einfluss auf den Wahlausgang nehmen zu können, verhindert es immer wieder loszulassen.
Vor jeder US-Wahl wird beschworen, es handele sich diesmal wirklich um die wichtigste Wahl überhaupt, EVERYTHING IS AT STAKE, aber auch diesmal bin ich geneigt der Einschätzung zuzustimmen: Trump und seine Republikaner haben die Welt-Supermacht USA so schwer beschädigt, daß es sich um ein de facto irreparables Desaster handelt. Sie setzten eienr seit Dekaden verfehlten Entwicklung die Krone auf.
[…..] Amerikas ökonomische Talfahrt begann keineswegs mit Chinas Aufstieg, und sie begann erst recht nicht mit der Amtsübernahme Donald Trumps. Sie begann bereits mit der Abwanderung der ersten Industriebranchen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren und setzte sich fort mit der Entfesselung der Finanzmärkte in den Achtzigern. Die Friktionen, die diese Entwicklungen auslösten, blieben zunächst unter einem Berg aus Arroganz und Selbstbetrug sowie dem Gerede über das vermeintliche "Ende der Geschichte" verborgen. Und doch verwandelten sie die USA in ein zerrissenes Land, das heute weit hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt. Der entscheidende Fehler war wohl der bewusste Entschluss der amerikanischen Politik- und Wirtschaftselite, der Industriearbeit den Rücken zu kehren und Wohl und Wehe des Landes auf dem wackeligen Fundament eines neuen Finanzkapitalismus aufzubauen. Sollen doch die anderen die Drecksarbeit machen, so lautete das unausgesprochene Credo zunächst der Republikaner, später auch der Demokraten - wir sammeln dafür am Ende die Gewinne ein. [….]
(Claus Hulverscheidt, 01.10.2020)
Abgesehen von den ultrarechten Fanatikern, Realitätsblinden und Religioten analysieren aber die Beobachter in der Welt und in den USA selbst, von ganz links bis weit ins konservative Milieu hinein die Situation einheitlich und meiner Ansicht nach auch richtig:
1. Der kolossale Abstieg des Welt-Hegemons zeichnet sich schon seit einem halben Jahrhundert ab.
2. Die gewaltigen Schwächen innerhalb der amerikanischen Gesellschaft wurden durch ökonomische Macht, Selbstbewußtsein und Patriotismus immer nur kaschiert, aber nie beseitigt.
3. Auch die demokratischen Two-Term-Präsidentschaften Clintons und Obamas haben keine wesentliche Verbesserung bei Bildung, sozialer Ungerechtigkeit, Infrastruktur, Waffenwahn und Gesundheitssystem gebracht.
4. Trump war nicht der Anfang des Desasters, sondern die Folge einer langen sozialen, religiösen, edukativen und medialen Fehlentwicklung.
5. Selbst im günstigsten Fall, also Blue Wave mit Biden-Erdrutschsieg und progressiven Mehrheiten im House und Senat, werden die USA nicht mit sich selbst versöhnt werden können.
6. Auch ohne Trump bleibt das eigentliche Problem – rund 70 Millionen fanatisierte, militaristische, der Realität entkoppelte, rassistische Trump-Fans – bestehen.
Die Fronten sind dermaßen verhärtet, daß die unterlegene Seite; insbesondere die Republikaner das Ergebnis in weiten Teilen nicht akzeptieren werden.
Die USA sind kaputt, so kaputt, daß sich die Amerikaner bald nicht mehr leisten können gegeneinander zu kämpfen.
[….] Heute gibt es in den USA Hunderte, ja Tausende Dörfer und Städte, in denen ein Teil der Häuser und Geschäfte verrammelt ist. In denen bleiverseuchtes Wasser aus den Hähnen fließt, ganze Familien medikamentenabhängig sind und die Polizei die Kontrolle über einzelne Viertel verloren hat. In denen Brücken bröckeln, Schulen schließen und Eisenbahnschienen wegrosten. [….]
(Claus Hulverscheidt, 01.10.2020)
Viele der US-amerikanischen Probleme sind gar nicht mehr Reformen aus Regierung und Parlament, mit Gesetzen und Kampagnen zu beheben, weil sie tief in die Mentalität der Bürger eingestempelt sind: Isolationismus, Größenwahn, Bildungsfeindlichkeit, Waffenwahn, Religiotie, Hass auf staatliche Eingriffe.
So konnten die USA von allen westlichen Demokratien viele einsame Spitzenplätze einnehmen:
Die höchste Mordrate, die höchste Zahl der Gefängnisinsassen, die meisten Obdachlosen und trotz der pro Kopf gerechneten höchsten Gesundheitsausgaben, sinkt die Lebenserwartung. Die Amerikaner werden immer fetter und kleiner, weil so viele Kinder mangelhaft ernährt werden.
Körpergröße und Lebenserwartung geben einen besseren statistischen Indikator als das Prokopf-Einkommen, da der Reichtum so eklatant ungerecht verteilt ist, daß es ein Bezos und ein Gates das durchschnittliche Vermögen extrem verzerren. Das völlig versagende öffentliche Gesundheits- und Sozial- und Bildungssystem führt dazu, daß es keine „Mittleren“ mehr gibt.
Es werden einerseits ungesunde, schlechte gebildete Arme produziert und andererseits die durch elterlichen Reichtum, Privatschulen- und Privatversicherungen hochgebildeten Kerngesunden mit Adonis-Figur.
Das „vom Tellerwäscher zum Milliardär“-Versprechen ist längst obsolet. In die Oberschicht gelang man fast ausschließlich, indem man Eltern aus der Oberschicht Mama und Papa nennt.
[…..] Der Verzicht auf eine allgemeine, staatlich organisierte Krankenversicherung etwa ist aus Sicht vieler Bürger keineswegs unsozial, sondern schlicht Ausdruck von Freiheit. Wenn ein Land jedermann die Freiheit bietet, einen Beruf zu wählen, eine Firma zu gründen und reich zu werden, so die Lesart, dann trägt umgekehrt jedermann auch die Verantwortung dafür, wenn der Job verloren geht, die Firma Insolvenz anmelden muss oder das Konto überzogen ist. Selbst Krankheit ist vor diesem Hintergrund eine Privatangelegenheit, zumal man ja nicht weiß, ob der oder die Betroffene nicht vielleicht Lastern frönte oder es sich mit dem lieben Gott verscherzt hat. Warum, so der Gedanke, sollte der Staat, die Allgemeinheit, für Fehlverhalten oder mangelnde Frömmigkeit einstehen? Es ist diese Spielart des Individualismus, man könnte auch sagen: diese Rücksichtslosigkeit, die die USA über Jahrzehnte mit groß gemacht hat. Ein Land, das auch im 21. Jahrhundert Erfolg haben will, braucht jedoch beides: kreativen, willensstarken Individualismus und mutigen, solidarischen Gemeinsinn. […..]
(Claus Hulverscheidt, 01.10.2020)
Sollte es am Dienstag einem Trump-Wahlsieg geben, prophezeie ich den drastischen weiteren Abstieg der USA.
Sollte Biden knapp gewinnen, wird es ein endloses Chaos mit möglicherweise bürgerkriegsähnlichen Zuständen geben.
Sollte den Demokraten auf allen Ebenen ein Durchmarsch gelingen, bleiben die US-Probleme dennoch fast unlösbar; zumal die erzkonservative katholische 6:3-Mehrheit im Supreme Court auf Jahrzehnte fortdauern könnte und es fast keinen Weg gibt, das zutiefst ungerechte Wahlsystem zu ändern.
Für Amerikas Zukunft sehe ich schwarz, und zwar dunkelschwarz.