Freitag, 18. Oktober 2019

Bleibende Bildung

Heute versuchte ich von dem alten Herrn, um den ich mich kümmere eine Unterschrift zu bekommen; es war nur eine Formalie, aber gerade mit solchen Dingen beziehe ich ihn gern mal mit ein seit er im Pflegeheim ist.
Seine Demenz schreitet schnell mit den typischen Schüben voran.
Den wichtigen Schriftverkehr erledige ich inzwischen, ohne daß er es mitbekommt, aber gelegentlich gehe ich einen Teil seiner Post weiterhin mit ihm zusammen durch, so daß er das Gefühl hat noch gebraucht zu werden und die Fäden in der Hand zu halten.
Heute wollte er aber nicht einfach nur so unterschreiben und begann ein zweiseitiges juristisches Schreiben zu studieren.
Ein aussichtsloses Unterfangen, da er kaum noch einen Satz zu Ende sprechen kann. Die Konzentration reicht nicht mehr; er fängt mit einem Gedanken an und hat den Faden schon wieder verloren, bevor der Satz ganz ausgesprochen ist.
Er nahm also das erste Din-A4-Blatt zur Hand und starrte drauf.
Man soll Demente nicht korrigieren oder belehren, weil sie das noch mehr verunsichert.
Also hütete ich mich davor ihn wie einen Deppen dastehen zu lassen; wohlwissend, daß er ohnehin keine Chance mehr hatte inhaltlich zu folgen.
Tatsächlich verstand er den Sinn des Ganzen überhaupt nicht, aber es geschah etwas Erstaunliches: Im dritten Absatz fand er einen Rechtschreibfehler. Ein Wort hätte außergewöhnlicherweise groß geschrieben werden müssen und stand dort aber klein.
Daraufhin nahm ich mir den ganzen offiziellen Text vor; es war immerhin ein von einem Justiziar aufgesetztes offizielles Statement an alle Aktionäre. Da erwartet man keine grammatikalischen oder orthographischen Schwächen.
Tatsächlich war auch alles völlig korrekt, aber dieser eine Fehler, den der alte Herr entdeckt hatte, war wirklich vorhanden.

Demenz ist komplizierter als viele meinen. Es ist nicht bloß eine kontinuierliche Verblödung, sondern eine ungleichförmige, unvorhersehbare Angelegenheit.
Auch die Persönlichkeit wird verändert und wenn man gerade denkt, „so, jetzt ist er völlig gaga“, brechen blitzartig klare Momente durch.
Da ich kein Neurologe oder Hirnforscher bin, will ich gar nicht erst versuche das zu erklären.
Aber offensichtlich wurde ihm in der Schule so gründlich gutes Deutsch beigebracht, daß die Regeln auch acht Jahrzehnte später noch bombenfest sitzen, wenn alles andere schon so verschwommen ist, daß er nicht weiß wer ihm gegenübersitzt und in welchem Jahr er sich befindet.
Mir gefällt der Gedanke, daß solche Grundpfeiler der Bildung sich zu einem integralen Bestandteil der Persönlichkeit manifestieren und auch noch vorhanden
sind, wenn man schon Windeln trägt und mit Gegenständen spricht.

Als die letzte noch völlig Google-frei aufgewachsene Generation, ging es mir in der Schule nicht anders.
Im Deutsch-Leistungskurs galt für alle Klausuren – natürlich inklusive der Abitur-Klausur – daß mehr als fünf Rechtschreibfehler automatisch die Note „Mangelhaft“ nach sich zogen. Wir hatten schließlich schon elf Jahre Deutsch-Unterricht hinter uns. Wer dann immer noch nicht perfekte Rechtschreibung beherrschte, war offenbar falsch in dem Kurs.
Eine „Reifeprüfung“ konnte man jedenfalls nicht mehr ablegen.
A posteriori erinnere ich mich auch nicht daran, solche Regeln als streng empfunden zu haben. Das war nun mal Oberstufe.
Ich erinnere mich an meinen strengen, aber sehr freundlichen und pädagogisch erstklassigen Mathelehrer. Ich war einer von nur einer Handvoll Schülern seines Grundkurses, der Mathematik als Abiturprüfungsfach hatte. Der Kurs war aber recht groß und da es sich um einen Pflichtkurs handelte, waren darin auch einige wirklich schlechte Schüler, die von sich behaupteten „ich verstehe Mathe nun mal nicht!“. Unser Lehrer wollte das nicht hinnehmen und kümmerte sich mit einer Engelsgeduld um Diejenigen, die immer zwischen Mangelhaft und Ungenügend oszillierten.
Immer wieder bestellte er sie an die Tafel, um mit ihnen zusammen zu rechnen, ihnen ein Erfolgserlebnis zu verschaffen. Er wurde nie ungeduldig und verstand es die Schlechten gerade eben nicht zu demütigen und sie vom Haken zu lassen, bevor es ihnen unerträglich peinlich wurde.
Aber natürlich war er in der 12. und 13. Klasse auch in einem Dilemma, weil es schließlich Abiturstoff gab und er nicht in jeder Stunde die Grundregeln bis zurück in die fünfte Klasse erklären konnte.
Wer nach all der Engelsgeduld nach acht, neun Jahren auf dem Gymnasium immer noch nicht die binomischen Formeln kannte oder bei ähnlichen 100-fach wiederholten Grundkenntnissen scheiterte, konnte eben kein „Ausreichend“ mehr bekommen. Selbst wenn das dramatische Folgen hatte, weil der Schüler womöglich schon in vier anderen Kursen keine Fünf Punkte erreichte, so daß er sitzengeblieben wäre, oder womöglich die Schule hätte verlassen müssen, weil er schon einmal sitzengeblieben war, gab es kein Pardon.
Irgendwann mussten diese Grundlagen nun mal sitzen, sonst gab es kein Abi.
Jedes Jahr ging ein Dutzend Oberstufenschüler vorzeitig von der Schule ab. Und warum auch nicht?
Es gibt auch wunderbare Berufe, die man ohne Abitur und Studium ergreifen kann. Das persönliche Glück hängt davon nicht ab.

Die Litanei, die nun folgen muss, kann sich jeder denken: „Niveaulimbo“ an deutschen Schulen.
Ein schreckliches Klischee, wenn sich ältere Menschen über die Doofheit der Jüngeren echauffieren und darauf beharren, es früher viel schwerer gehabt zu haben.
In dieser Vereinfachung trifft das auch sicher nicht zu.
Wer mit Klugtelefon, Wikipedia und Google aufwächst, lernt Rechtschreibung und Grundrechenarten natürlich anders, als jemand, der wie ich noch nicht mal einen Taschenrechner benutzen durfte.
Aber dafür stellen sich andere Probleme, die ich noch nicht kannte.
Wie navigiert man sich durch eine unendliche Flut nicht seriöser und nicht relevanter Informationen?

Außerdem ist Bildungspolitik offensichtlich Moden unterworfen.
Ich war beispielsweise eine sehr gender-gerechte Generation. Wir bildeten uns regelrecht etwas darauf ein, daß Jungs und Mädchen nun durcheinander gewürfelt waren, bei Klassenreisen in einem Zimmer schlafen durften, daß Jungs Jazzgymnastik und Mädchen Fußball belegten. Ca 20 Jahre später kam wieder die Geschlechtertrennung in Mode, nachdem man entdeckte, daß reine Mädchenklassen deutlich besser in MINT-Fächern abschneiden.
20 Jahre vor meiner Zeit wurde in den Schulen sehr viel mehr auswendig gelernt. Heute 80-Jährige können oft immer noch Dutzende lange Balladen auswendig aufsagen.
Zu meiner Schulzeit hielt man das stumpfe Auswendigkernen für völlig überholt. Das fördere weder das Denken noch die Kreativität. Kinder wären doch keine Roboter.

Heute sieht man auch das unter dem Aspekt der Disziplin wieder anders, weiß mehr über kognitive Prozesse des Hirns.

Dafür ist eine Regelschlampigkeit eingetreten.
15 Punkte gibt es in Mathe schon, wenn man 80% der Aufgaben löst und nur knappe zehn Jahre nach meinem Abi bekam ein ehemaliger Nachhilfeschüler von mir eine „Eins Minus“ für seine Deutsch-Abiklausur und das Minus auch nur als Abzug für über 150 orthographische Fehler. „Aber die wissen ja, daß ich da nicht so gut bin.“
Ich staunte nur wie in der kurzen Zeit so eine eiserne Regel wie „ohne perfekte Rechtschreibung ist die Note immer automatisch mangelhaft“ zu einem „sehr gut Minus“ in Deutsch werden konnte.

Möglicherweise ist der Niveaulimbo doch zu weit gegangen, wenn in der Berufsausbildung Chefs Privatlehrer engagieren müssen, um ihren Lehrlingen Grundlagen in Mathe und Deutsch beizubringen.
Wenn sogar schon Verkäufer Abitur haben sollen, weil der Realschulabschluss inzwischen wertlos ist.

Dissertationen gehen mit Magna Cum Laude durch, wenn Herr Guttenberg für alle offensichtlich seine Dr.-Arbeit bei Wikipedia zusammenkopiert hat?
Von der Leyen oder Schavan bekamen ihre Dr.-Titel, obwohl sie noch nicht mal wissen wie man ordentlich zitiert.

Ich kann das nicht verstehen und werde schon aus Protest zum Snob. Wenn ich mich durch die Kommentare bei Spiegel.de oder Zeit.de klicke, nehme ich die Kommentare mit haarsträubender Rechtschreibung gar nicht mehr ernst.
Das ist meine kleine elitäre Rache als Angehöriger einer Spezies, der als Jugendlicher wenigstens einiges so massiv eingetrichtert wurde, daß es auch von einer Demenz nicht wegzuwischen ist.

Ich kann es nicht akzeptieren, daß Deutschland sich eine so verblödete Forschungsministerin leistet, daß die hiesigen Bildungsanstalten weiterhin kontinuierlich an Niveau verlieren.
10% der in Deutschland Lebenden Erwachsenen sind funktionale Analphabeten.
Sehr viele davon haben einen Schulabschluss. Ohne lesen und schreiben zu können. Und das Niveau sinkt weiter.

[…..]  Schüler dreier Ostländer sind die großen Verlierer
2012 gehörten sie noch zur Spitzengruppe - jetzt sind vor allem in Brandenburg die Schülerleistungen beim zweiten IQB-Bildungsvergleich dramatisch gesunken. Vor allem Mathe bereitet den Neuntklässlern Probleme.
Fast ein Viertel der Neuntklässler in Deutschland erreicht die Mindestanforderungen im Fach Mathematik nicht. Das geht aus dem IQB-Bildungstrend 2018 hervor, der am Freitag in Berlin vorgestellt wurde. Die Wissenschaftler am Institut für Qualitätsentwicklung (IQB) haben mit der Studie von der Förderschule bis zum Gymnasium die Kompetenzen der Neuntklässler in den Fächern Mathe und Naturwissenschaften erhoben. […..]  Die Ergebnisse unterscheiden sich zwischen den Bundesländern teils erheblich: […..]   In Biologie, Physik und Chemie muss Berlin als Schlusslicht herhalten, noch hinter Bremen und Hamburg. Den ersten Platz im Vergleich der Bundesländer sicherte sich hingegen Bayern, ganz knapp vor Sachsen. […..]  In Mathe ist der Trend zudem in Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein rückläufig. Auch hier haben sich die Neuntklässler im Vergleich zur ersten Studie von 2012 verschlechtert.
In den Naturwissenschaften haben neben Brandenburg insbesondere Sachsen-Anhalt und Thüringen Kompetenzen bei ihren Schülern eingebüßt. Die Zahl der Schüler, die den Regelstandard erreicht, ist deutlich gesunken. Abstriche müssen zudem Rheinland-Pfalz, das Saarland und Schleswig-Holstein verzeichnen. Sachsens Schüler haben sich zumindest in Biologie und Chemie etwas verschlechtert. Positive Entwicklungen gibt es hingegen kaum. […..] 

Heute braucht man keine Rechtschreibung mehr, weil es „Autocorrect“ gibt?
Was für eine Unverschämtheit gegenüber den Teens und Twens, die auch heute noch fehlerfrei schreiben können.