Dienstag, 17. Juni 2014

Kulturunterschiede

Wie in vielen Schulen gab es auch in meiner ein Schüleraustauschprogramm. Das ist eine der wirklich sinnigen Erfindungen. Bei uns kamen zunächst in der achten Klasse die Franzosen, weil das nicht so weit weg war, und in der zehnten Klasse folgten die Amis.
Nach meinem damaligen Eindruck verhielten sich die Franzosen, die in unserer Klasse waren, ziemlich genau wie wir.
Der Unterschied war nur ihre eigenartige Sprache und das bessere Aussehen. Insbesondere der Akzent der französischen Jungs sorgte dafür, daß die deutschen Mädchen ihnen schlagartig verfielen.

Die Amerikaner hingegen kamen ziemlich offensichtlich von einem anderen Kontinent. Die wunderten sich über das wenig prüde Verhalten der deutschen Teenager und waren schon aus 50m Entfernung als Amis auszumachen, weil sie IMMER betrunken waren und ständig die Busse vollkotzten.

Der Grund liegt auf der Hand. Für Amerikaner unter 21 ist es sehr schwer an Alkohol heranzukommen, während wir alle schon in der zehnten Klasse mit großer Selbstverständlichkeit in irgendwelche Kneipen gingen und dort soffen.
Der Jugendtreff schlechthin in der Umgebung meiner Schule war eine kleine Kneipe namens „Aladin“ direkt am großen Busbahnhof und der S-Bahnstation. Dort gab es Baguettes zu essen und als Spezialität des Hauses original bayerisches dunkles Andechs-Bier, das in 0,5-Liter-Pullen verkauft wurde. (Erstaunlich billig, wenn ich mich recht erinnere.) Wenn man genügend Geld hatte, bestellte man dazu noch einige „Kurze“ mit „Küstennebel“ (norddeutscher Sternanisschnaps).
Andechs hat einige Umdrehungen mehr als normales Bier. Da das Aladin chronisch überfüllt war, stand man niemals von einem Sitzplatz auf – sofern man einen ergattert hatte. Man ging erst aufs Klo, wenn man unmittelbar Gefahr lief durch eine geplatzte Blase peinlich aufzufallen. Bis es soweit war, konnten schon so einige Andechs vergangen sein und jeder Schüler kannte das eigenartige Gefühl, daß man sich noch fit fühlte solange man saß und sich plötzlich beim Aufstehen schlagartig der Promille bewußt wurde.
Ein bißchen Übung erforderte das Kampftrinken mit Andechs und Küstennebel schon, wenn man am nächsten morgen ohne Schlagseite in der Schule sitzen wollte.

Den armen Amerikanern kann man vielleicht gar nichts vorwerfen. Völlig ungeübt im Umgang mit Alkohol und zudem noch an das dünne amerikanische Bier denkend, welches man in gewaltigen Humpen ohne Kohlensäure bekommt, rasten sie ob ihrer neu gewonnenen Freiheit schnurstracks ins Aladin und bestellten Andechs.
Für jemanden, der noch nie Bier getrunken hat, ist das zunächst einmal ein guter Beginn, weil das Zeug ein bißchen süßlich, ähnlich wie Malzbier schmeckt.
Der weitere Verlauf ist allerdings leicht suboptimal, weil die Wirkung völlig unterschätzt wird. Nach einem Andechs waren die frischen, 16-Jährigen Amis meistens schon nicht mehr in der Lage allein zu gehen und mußten mit vereinten Kräften in die Busse geschoben werden. Man setzte sie auf die hintersten Bänke – möglichst weit weg vom Fahrer; wohlwissend, daß sie sich spätestens nach der langen Kurve um den Bahnhof herum das Andechs noch mal durch den Kopfgehen lassen würden.

Die arme Austauschkoordinatorin Frau Müller hatte da einiges glattzubügeln, wenn die Nachrichten gen USA durchdrangen, daß ihre Kinder im sittenlosen Deutschland als göbelnde Alkoholleichen in den Vorgärten herumlagen.
Glücklicherweise gab es damals noch kein Facebook oder Photohandys. Informationen gelangten nur mittels der sehr teuren Ferngespräche über den Atlantik und so ließen sich die Exzesse der Amis besser geheim halten.

Legal Alkohol trinken mit 16? Das war der erschreckendste Aspekt des Schüleraustauschs aus US-Sicht.

Umgekehrt beneideten wir natürlich die Amis und die deutschen US-Rückkehrer um ihre Führerscheine, die wir erst mit 18 machen durften. Dafür hätte ich nur zu gerne mein Recht eingetauscht schon als Teenager Lotterielose kaufen zu dürfen! Und bis heute benötige ich nicht die Freiheit Gewaltdarstellungen konsumieren zu dürfen.

Das Problem bei starren Altersgrenzen ist natürlich der individuell unterschiedliche Entwicklungsstand der Jugendlichen. Ich denke, das gilt für Sex, Drogen, Wahlrecht und Alkohol gleichermaßen. Der eine ist mit 14 reif genug dafür, der andere ist mit 21 noch ein totaler Kindskopf.

Wenn ich mir ansehe, daß in Ostdeutschland 20% der Jugendlichen ganz selbstverständlich rechtsextreme Parteien bevorzugen, kommt mir das kommunale Wahlrecht für 16-Jährige wie eine ganz schlechte Idee vor.

Oder, um zurück auf Amerika zu kommen: Waffen zu legalisieren, halte ich für grundsätzlich hochproblematisch. Waffenscheine sollten auf spezielle Berufsgruppen wie Polizisten beschränkt sein.

Andere Verbote, die sich jetzt teilweise tatsächlich lockern – Homoehe und Cannabiskonsum beispielsweise – sind meiner Ansicht nach überhaupt nicht gerechtfertigt.

Die althergebrachte Moral hat in den Freiheits-einschränkenden Gesetzen nichts zu suchen.
Erwachsene Menschen sollten das Recht haben mit ihrem Bruder zu schlafen oder Kokain zu schnupfen.
Hier soll sich der Staat raushalten, weil man als Erwachsener irgendwann fähig sein muß die persönlichen Konsequenzen seines Verhaltens selbst abzuschätzen.
Man kann nicht persönliche Risiken verbieten.
Sonst müßte ab sofort auch Bergsteigen, Formel1-Sport und Vielseitigkeitsreiten verboten werden.

Und die ohnehin nicht das körperliche Wohl beeinträchtigenden Dinge in den eigenen vier Wänden haben den Staat nicht zu interessieren. Wenn sich vier Frauen gegenseitig heiraten möchten – why not?

Gefährden Verhaltensweise allerdings die Allgemeinheit, so hat das verboten zu sein: Daher Schluß mit Kampfhundhaltung und privaten Waffenbesitz. Meinetwegen können bei der Gelegenheit auch Wohnzimmer-Terrarien mit Giftschlangen und das widerliche Grillen verboten werden.
Es ist ja auch verboten zu Hause Semtex zu horten oder Ricin herzustellen.

Die Amerikaner haben eine besonders verquere Verbotskultur. Man kann das feststellen, wenn man beispielsweise die heute so populären „Youtuber“ (=Vloger) ansieht. Die Amerikaner erkennt man immer an den ständigen Piepsgeräuschen, weil sie ein hysterisches Verhältnis zu Sex haben.
Man erinnere sich an den landesweiten Megaskandal mit Janet Jacksons für Mikrosekunden entblößter Brustwarze.
Amerikaner flippen vollkommen aus, wenn sie Nippel sehen.
Die werden landesweit zensiert und retuchiert.
Die amerikanische Öffentlichkeit hat nippelfrei zu sein.
Ballern ist dafür in jedem Alter OK.
Brutalste Splatterszenen sind nach US-Ansicht in jedem Fall einem Frauennippel vorzuziehen.
Wenn ich es richtig beobachte, entwickelt sich gerade der sogenannte „Speedo“ zur maskulinen Entsprechung des Nippels.
Männer in engen Badehosen, die einen NICHT ganz fürchterlich beim Schwimmen stören, können an US-Stränden nicht mehr geduldet werden. Man könnte ja schemenhafte Umrisse der Geschlechtsorgane erahnen. Himmel hilf! Dieses „Bulging“ ist das amerikanische NoGo des 21. Jahrhunderts und ungefähr so verpönt wie weibliche Achselhaare.

Arme Irre.

Vollkommen wahnsinnig erscheint mir die Geschichte, die ich vom rechtesten ZEIT-Redakteur, nämlich Josef Joffe, erfuhr.

Universitäten beginnen jetzt ihre Bücher mit FSK-Warnhinweisen zu versehen.
Die Prüderie scheint sich im Teebeutel-Humus so auszuwachsen, daß selbst erwachsenen Menschen in HOCHschulen nicht mehr zugemutet werden kann alle Topics der Weltliteratur zu lesen. Im GOPer-geprägten Amerika will man nun Menschen davor bewahren ihr Hirn zu benutzen!! Vor zu viel Denken müssen die Studenten geschützt werden.

An renommierten US-Hochschulen zirkulieren neuerdings Petitionen und Satzungsentwürfe, die "Achtung, schädlich!"-Etiketten im Lehrplan fordern. Die Studenten sollen wissen: Diese Bücher und Bilder können den Betrachter aufregen, gar "posttraumatischen Stress" erzeugen. […] Die Top-Unis wie Rutgers, Michigan und George Washington erreicht hat. Die "Theorie": Wir dürfen den zarten Seelen nichts zumuten, was sie aufregen oder schocken könnte.
[…] Das neue Bilderverbot, dozieren die Befürworter, entspringe freilich der fürsorglichen Nächstenliebe. Deshalb will die Studentenvertretung am Oberlin College alles kennzeichnen, was "das Lernen stören" und "Traumata auslösen" könnte. Gefährlich seien Texte, die Transsexuellen oder Rollstuhlfahrern Minderwertigkeit unterstellen. Ein populärer Roman über die Kolonialgeschichte Nigerias sei zwar okay, könne aber trotzdem "Leser traumatisieren, die Rassismus, Kolonialismus, Verfolgung, Selbstmord usw." erlebt haben.
Hier käme eine erkleckliche Liste zusammen. Anna Karenina wäre out, weil die Heldin sich selber tötet. Dito der Kaufmann von Venedig – Antisemitismus! Huckleberry Finn gehört auf den Index, weil in diesem Klassiker andauernd ein "Nigger" Jim auftaucht, der auch noch in die Hände von Sklavenhändlern fällt. Nabucco handelt ebenfalls von Versklavung, und Othello ist Rassismus vom Gemeinsten. Unter Verschluss gehören alle Werke, die vom Holocaust oder stalinistischen Terror handeln. Die Bibel sowieso, wird in der doch ausgiebig von Brudermord, Krieg und Menschheitsvernichtung (Sintflut) erzählt.
[…]