Sonntag, 8. Juni 2025

Genau wie ich

Ganz, ganz dosiert gucke ich mir gelegentlich Reality-TV an. Meine offizielle Rechtfertigung vor mir selbst lautet, daß man informiert darüber sein muss, wie sich Abermillionen Menschen in Deutschland amüsieren, welche Werte und Gedanken die Jugend umtreiben. Insbesondere die sprachlichen Moden interessieren mich, weil ich, als Mittfünfziger-Bücherwurm ohne Kinder, keinen Zugang zu dieser Sphäre habe. Es gibt aber eine weitere, heimliche Ebene, die ich mir ungern eingestehe: Im Entsetzen über die grotesken Moden, die bizarren Bodymodifications und sagenhafter Bildungsferne, liegt natürlich ein erhebendes Gefühl, selbst so viel klüger zu sein. Obgleich es unverdient ist, freue ich mich über meine eigene Lesekompetenz oder die Kenntnis von Sprichworten. Denn für meine Generation und mein Umfeld, ist das so selbstverständlich, daß es einem nie bewußt wird. Erst, wenn ich im Reality-TV sehe, wie die Mehrheit der Probanden daran scheitert, einfachste Sätze vorzulesen, fällt mir auf, was wir, im Gegensatz zu den Twens von heute, alles gelernt haben.


Auch Dank der großartigen Anja Rützel mit ihren geistreichen RealityTV-Analysen im SPIEGEL, gelange ich zu mehreren befremdlichen Erkenntnissen über (zumindest große Teile) unserer Gesellschaft.

1.   Es gibt keine Scham mehr.

2.   Je respektloser und unverschämter sich jemand benimmt, desto lauter fordert er Respekt ein, beklagt selbst respektlos behandelt worden zu sein.

3.   Längst vergangen geglaubte Geschlechterrollen kehren zurück. Junge Frauen wünschen sich maskuline Beschützer, die ihnen Entscheidungen abnehmen.

4.   Der ultimative Gütemaßstab ist das eigene Ego. Das höchste Lob lautet „Du bist genau wie ich“, respektive „die finde ich geil, weil ich bin genauso!“

Letzteres stößt mir besonders sauer auf, weil es die Entsprechung des Selfie-Wahns und Influencertums ist. Man präsentiert sich, weil man sich ganz selbstverständlich für den Nabel der Welt hält. Die eigene Relevanz wird gar nicht erst in Frage gestellt. Die Qualitäten der anderen, werden in der Ähnlichkeit zu einem selbst gemessen. Das erstaunt mich insofern, als das in meiner Jugend als extrem egoistisch angesehen worden wäre, während man heute dafür beglückwünscht wird.

Es passt aber auch rein zufällig nicht zu meiner Persönlichkeit; ich fand immer die Menschen interessanter, die anders als ich sind und mochte nie fotografiert werden. Das Internet ist frei von meinen Selfies, weil es sie nicht gibt.

Sehr gut kenne ich aber das parallele Gefühl aus der Welt der Kunst: Ich liebe natürlich Maler, Autoren, Musiker, die Stimmungen oder Ideen transportieren, durch die ich mich verstanden fühle. Romanfiguren, die etwas durchleben, in dem man sich wiedererkennt, berühren. Songs, die ein Gefühl vermitteln, welches in einem selbst rumort, ohne es exakt ausdrücken zu können, begeistern.

Dabei verschwimmen bewußte und unterbewußte Ebene, indem man sich für einen Gedanken erwärmt, der einem zwar ganz neu ist, aber sofort vertraut wirkt: „Das habe ich schon immer gesagt!“

Deswegen bin ich auch Anja Reschke-Fanboy der ersten Stunde. Seit 25 Jahren bewundere ich diese Frau, die sogar ein paar Jahre jünger als ich ist und ausgerechnet aus München stammt. Eine Bayerin.

Jede Ausgabe PANORAMA und RESCHKE FERNSEHEN lohnt sich. Ich freue mich auf jede ihrer Sendungen.

Vorgestern war sie zu Gast bei Michel Abdollahis Käpt'ns Dinner. Dort erfuhr man viel Persönliches über ihren familiären Hintergrund. Für mich durchaus faszinierend von ihrer Gymnasialzeit zu hören, weil sie nur vier Jahre nach mir Abitur machte, aber ihre Schilderungen wie aus einer anderen Welt klingen. Vielleicht ist es der Unterschied zwischen Hamburg und München, vielleicht Zufall.

[…] "Ich bin mit konservativen Werten aufgewachsen: Familie zählt, Verlässlichkeit zählt, Verbindlichkeit und all diese Sachen - und heute gilt man damit als links. Finde ich lustig. Die Frau, die an Weihnachten Klavier spielt und mit der ganzen Familie singt ist auf einmal links. Und wieso ist überhaupt seit Neustem "für Menschenrechte einstehen" links?" […]

(NDR, 07.06.2025)

Es amüsiert mich, zu hören, daß sie das Oktoberfest liebt, welches für mich das absolute Grauen darstellt. Es befremdet mich, wie sie erklärt, zwar ungläubig zu sein, aber trotzdem zahlendes Kirchenmitglied zu sein, weil sie es für wichtig hält, daß es über der Gesellschaft irgendeine höhere Instanz geben müsse, an die die Menschen glauben. Die Kirche habe zwar enorme Schuld auf sich geladen, aber ihr fiele nichts besseres ein.

Es schmeichelt mir, wenn sie Dinge benennt, die ich zufällig genauso sehe: Hamburg ist im Vergleich zu München eine Weltstadt. Oder, daß sie lange Zeit Fan der britischen Royals war, aber mit dem Tod der Queen, ihr Interesse völlig abgeklungen sei. Sie könne absolut keine Neugier für die Harry-Meghan-William-Kate-Kabale aufbringen.

Es blieb beim Käpt’ns Dinner natürlich nicht bei Oberflächlichkeiten. Es gab auch Deep Talk.

Michel Abdollahis Schlussfrage zielte auf die Zukunft; „guckst Du auf ein gutes Jahr 2030?“ (Minute 29:00)

Meine Antwort ist lange klar und wird kontinuierlich in diesem Blog wiederholt: Ich bin zutiefst pessimistisch. Aber was würde eine Profi-Journalistin sagen, die ihr Leben der tiefen Recherche widmet, erwachsene Kinder hat und auf Enkel hofft?

Reschke: „Ich bin kein Pessimist, aber ..Nein!“ [….] „Ich meine es nicht nur klimatisch, …, du siehst was sich in den USA abspielt, du siehst was sich in den europäischen Ländern abspielt, was sich in der Welt abspielt, was sich im Sudan abspielt; das ist alles grauenvoll und im Moment habe ich nicht das Gefühl, daß die Menschheit in der Lage ist, das in den Griff zu kriegen. Das ist total doof.“

Das war der „die finde ich geil, weil ich bin genauso!“-Part.

Aber es gab auch die erkenntnisreichen Sätze, in den Reschke Gedanken ausformuliert, die bisher nur eher schwammig in mir vorhanden waren.

Abdollahi fragt sie beispielsweise nach den drastischen Shitstorms, die sie 2015 von den Nazis erlebte. Minute 13:35. Sie stand aufgrund einiger klarer Worte im Tagesthemen-Kommentar in Zenit des AfD-Hasses. Damals noch etwas Besonderes, weil es nur wenige so heftig, wie Reschke traf, während zehn Jahre später, tausende öffentlich bekannte Personen, die sich mit humanen Ansichten zu Wort melden, mit Shitstorms überzogen werden.

Es war aber für Reschke 2015 dennoch leichter, weil sie noch von einem Grundoptimismus getragen wurde. Die Welt entwickelte sich schließlich  gesellschaftlich grundsätzlich in die richtige Richtung. Die Nazis, die sie angriffen, waren die Minderheit, die keinen Erfolg haben werden. Das sei jetzt aber anders. Nun fürchte sie, diejenigen, die mit Scheiße werfen, könnten Erfolg haben. Der Glaube an der stabile Land, daß der Faschismus überwunden sei, wurde ihr genommen.

Eine andere Frage Abdollahis lautete, wohin sich die Rechtspopulisten, die AfD, Trump eigentlich zurücksehnten. Die 1980er? (Minute 15:30)

 Reschke: „Die waren ja auch scheiße. [….] Am Ende ist der Mensch heute überfordert von dieser großen Anzahl der Möglichkeiten. Diese unfassbare Welt, die sich da aufgetan hat, wo du theoretisch alles werden kannst, alles haben kannst, alles sein kannst […] verspricht dir natürlich wahnsinnige Freiheit, bedeutet aber auch, daß mit jeder Entscheidung, die du in deinem Leben getroffen hast, du damit klarkommen musst, daß du irgendwas nicht geschafft hast. Es zeigt dir ja auch dauernd, ah guck mal, du hättest auch das sein können, ah guck mal, du hättest auch das kaufen können, du hättest auch dahin fahren können [….] dh du hast permanent das Gefühl es nicht richtig entschieden zu haben, was verpasst zu haben, andere zu sehen, die etwas besser gemacht haben, besser optimiert haben…“

Ich glaube, das ist ein ganz wesentlicher Punkt. In den Zeiten, zu denen sich Höcke und Trumpanzees zurücksehnen, war die Welt kleiner. Die Wege, die man ging, bereute man anschließend weniger und hatte weniger Gelegenheit, andere zu beneiden und sich ungerecht behandelt zu fühlen.